Ausgabe Juni 2007

G8 - Zu Risiken und Nebenwirkungen

Auf dem Treffen der G8 Anfang Juni in Heiligendamm stehen zwei sich direkt widersprechende Punkte auf der Tagesordnung: Hilfe für Afrika und geistige Eigentumsrechte. Einerseits haben sich die G8-Staaten den verbesserten Zugang zu Medikamenten auf die Fahnen geschrieben; andererseits stützen sie jedoch ein Patentsystem, das ebendiesen Zugang behindert.

Mit Blick auf die globale Gesundheitsversorgung stehen sich die Bekämpfung von HIV/Aids und die Durchsetzung der Patentansprüche der Pharmakonzerne des Nordens gegenüber. Die G8-Staaten kündigen zwar an, mehr finanzielle Mittel für die Behandlung und Prävention von HIV/Aids in Afrika bereitstellen zu wollen, aber es ist zu erwarten, dass die Gelder weit hinter dem tatsächlichen Bedarf zurückbleiben werden. Gleichzeitig dringen dieselben Staaten immer kompromissloser auf die globale Durchsetzung von Medikamentenpatenten – obwohl jedes Jahr Millionen Menschen nur deshalb an Infektionskrankheiten sterben, weil sie keinen Zugang zu lebensnotwendigen Medikamenten haben.

HIV/Aids und Tuberkulose

Der Umgang mit HIV und Aids ist das wichtigste Beispiel für den Schaden, den patent-gestützte Medikamenten- Monopole verursachen: Sie versperren den Zugang zu Medikamenten aufgrund überhöhter (Monopol-)Preise. Bis 2002 kostete eine HIV/Aids-Behandlung mit der antiretroviralen Dreifach- Kombinationstherapie noch über 10 000 US-Dollar pro Patient und Jahr. Angesichts dieser hohen Kosten haben die meisten Staaten und Hilfsorganisationen ausschließlich auf Präventionsmaßnahmen gesetzt und die Patienten nicht antiretroviral behandelt – ungezählte medizinisch vermeidbare Todesfälle waren die Folge.

Die Behandlung von Menschen mit HIV/Aids ist aber auch ein Beispiel dafür, was durch eine Aufhebung der Monopole gewonnen werden kann. Denn inzwischen ist die antiretrovirale Behandlung, nicht zuletzt aufgrund starken Engagements und politischen Drucks, auch in den Ländern des Südens weit verbreitet. Der jüngste UNBericht zum universellen Zugang zu HIV/Aids-Behandlung vom April 2007 verweist auf mehr als zwei Millionen Menschen in den Entwicklungs- und Schwellenländern, die Ende 2006 gegen HIV/Aids behandelt wurden. Noch Ende 2003 waren es nur 400 000, davon lediglich 100 000 in Afrika. Allerdings sind selbst diese zwei Millionen Patienten nur schätzungsweise rund ein Viertel derjenigen, die dringend antiretrovirale Behandlung benötigen.1

Notwendig, wenn auch nicht hinreichend für den Erfolg bei der HIV/ Aids-Bekämpfung sind insbesondere bezahlbare Medikamente und eine vereinfachte Behandlung. Beide Faktoren hängen eng mit dem Patentrecht zusammen.2 Mit der Produktion von Nachahmerpräparaten (Generika) – vor allem in Indien – wurden die Monopole der Patent-inhaber außer Kraft gesetzt, so dass der Wettbewerb zwischen den Produzenten die Preise massiv gedrückt hat. Inzwischen kostet die günstigste Dreifach-Kombinationstherapie in den Entwicklungsländern nur noch 132 USDollar pro Patient und Jahr – das entspricht einer Preissenkung um fast 99 Prozent! Möglich wurde diese Entwicklung, da die Entwicklungs- und Schwellenländer bis 2005 noch nicht nach dem WTO-Abkommen zum geistigen Eigentum (TRIPS) verpflichtet waren, Patente auf Pharmawirkstoffe zuzulassen. So konnten die indischen Produzenten frei von Fesseln des Patentrechts produzieren. Glücklicherweise enthält das neue indische Patentrecht aus dem Jahr 2005 eine Klausel, die den bereits bestehenden Generikaproduktionen Bestandsschutz gewährt.

Durch die Abwesenheit der Patente in Indien wurde die Behandlung massiv vereinfacht und erleichtert. Ein entscheidender Schritt ist dabei die Entwicklung von Tabletten, die mehrere Wirkstoffe in einer Pille kombinieren. Bestand eine Therapie für HIV/Aids- Patienten vor wenigen Jahren noch aus über einem Dutzend Tabletten, die zu verschiedenen Tageszeiten eingenommen werden mussten, genügt heute für die Standardtherapie die Einnahme von jeweils einer Pille morgens und abends. Die Herstellung solcher Kombinationspräparate ist meist schwierig umzusetzen, wenn die Wirkstoffe patentiert sind. Bei wirksamen Monopolen gibt es große Hindernisse, da sich drei (oder mehr) verschiedene Patentinhaber einigen müssen. Verhandlungen über Preispolitik, Werbung, Profitaufteilung, Vertrieb etc. können dann Jahre dauern und scheitern nicht selten vollständig.

Mit der Aufnahme von Pharmapatenten in die Patentgesetze von Ländern wie Indien wird der dort erzielte Erfolg massiv bedroht. Denn nach einigen Jahren müssen HIV/Aids-Patienten in der Regel von den Medikamenten der sogenannten ersten Therapielinie auf neuere Medikamente der zweiten Linie umgestellt werden, um Resistenzen und/oder zunehmende Nebenwirkungen zu um-gehen. Bisher sind hiervon zehntausende Patienten in den Ländern des Südens betroffen, in einigen Jahren werden es Millionen sein. Die Medikamente der zweiten Behandlungslinie fallen aber nicht mehr unter den Bestandsschutz des indischen Patentrechts, so dass hier die Preise oftmals zehn Mal so hoch sind wie bei der ersten Therapielinie.

Parallel zu der HIV/Aids-Epidemie nimmt die Zahl der an Tuberkulose (TB) Erkrankten weltweit zu, häufig in Form von HIV/TB-Koinfektionen. Auch die Bekämpfung von TB wird massiv durch die mangelnde Verfügbarkeit geeigneter Medikamente behindert. In vielen Fällen haben sich zudem Resistenzen so weit entwickelt, dass die beiden wichtigsten Medikamente nicht mehr wirken (MDR-TB) bzw. praktisch gar keine wirksamen Medikamente die Tuberkulose- Bakterien bekämpfen können (XDR-TB). Die Auswirkungen der Multi-Resistenzen sind so extrem, dass ein großer Teil der Patientinnen und Patienten nicht geheilt werden kann.3

Diese Situation ist das Ergebnis des Umstands, dass in den letzten Jahrzehnten kaum TB-Forschung stattgefunden hat. Da mit den allermeisten TB-Patienten kaum Geld zu verdienen ist, hat die Pharmaindustrie diesen Bereich vollständig vernachlässigt – das modernste Standardmedikament gegen TB stammt aus dem Jahre 1970.

Und Tuberkulose ist kein Einzelfall: Die patentmonopol-gestützte Pharmaforschung vernachlässigt die Krankheiten der Armen systematisch. Weitere Beispiele hierfür sind die Schlafkrankheit, Kala Azar oder Chagas. Dies zeigt, dass der Ansatz der G8, die Innovationsförderung mit verstärkten geistigen Eigentumsrechten gleichzusetzen, falsch ist – in weiten Bereichen der Forschung an Tropen- und Armutskrankheiten bieten diese nämlich keinen Anreiz für Forschungs- und Entwicklungsarbeit.

Die bisherigen Äußerungen und öffentlich gewordenen internen Papiere lassen leider nicht erkennen, dass die G8-Staaten auf die Gefahren eingehen, die das Patentrecht für die Gesundheit bedeutet. Die Staatschefs sprechen zwar viel von Innovationsförderung; konkret werden sie in ihren Äußerungen und Papieren aber nur bei der Durchsetzung des geistigen Eigentums. Sehr deutlich artikulieren dies die Vereinigten Staaten, die gerade Thailand auf ihre „schwarze Liste“ der Länder gesetzt haben, welche die Patentrechte US-amerikanischer Firmen angeblich nicht genug beachten, und zwar mit der expliziten Begründung, dass Thailand patentierte HIV/Aids-Medikamente als Generika importieren will.

Die Erfahrung der letzten Jahrzehnte zeigt, dass Patente zumindest für Armutskrankheiten keine geeigneten Innovationsanreize darstellen. Dennoch reduzieren die G8 die Innovationsförderung derzeit auf Patente. Dementsprechend wird auch die entscheidende Rolle der Aussetzung von Patentmonopolen für HIV-Behandlung nicht aufgegriffen. Insbesondere die von der Bundesregierung vorgeschlagene Einrichtung eines Forums zur stärkeren Durchsetzung von geistigen Eigentumsrechten in Schwellenländern im Rahmen der OECD lässt eher gegenteilige Befürchtungen für den Zugang zu Medikamenten aufkommen.

Patent-Flexibilitäten und alternative Forschungsanreize

Spätestens seit der WTO-Ministerkonferenz in Doha 2001 ist klar, dass auch das TRIPS-Abkommen Spielraum für eine patientenfreundliche Auslegung des Patentrechts lässt. Zu diesen Flexibilitäten gehört insbesondere das Instrument der Zwangslizenzen, das jüngst von Thailand und Brasilien eingesetzt wurde. Mittels der Erteilung einerZwangslizenz kann eine Regierung die Herstellung oder den Import von patentierten Medikamenten zum Nutzen der eigenen Bevölkerung auch gegen den Willen des Patentinhabers erlauben. So hat Brasilien nach gescheiterten Verhandlungen mit der Pharmafirma Merck am 4. Mai 2007 eine Zwangslizenz erlassen, weshalb jetzt (beispielsweise indische) Generika des HIV/Aids-Medikaments Efavirenz importiert werden können.

Die WTO-Regeln legen die Entscheidung über die Vergabe von Zwangslizenzen vollständig in die Hand des jeweiligen Landes. Dennoch wird massiv Druck auf diejenigen Länder ausgeübt, die Zwangslizenzen erteilen, und zwar sowohl von Regierungen als auch von Pharmaunternehmen. So hat die Firma Abbott als Antwort auf die thailändische Zwangslizenz gegen ihr HIV/ Aids-Medikament Kaletra eine Art Medikamentenboykott gegen das Land verhängt: Neue Medikamente meldet Abbott in Thailand nicht mehr zur Zulassung an, so dass Patienten, die auf die betroffenen Medikamente angewiesen sind, nun als Geiseln herhalten müssen, damit das Unternehmen den Druck auf die thailändische Regierung erhöhen kann. Dieses Verhalten hat dazu geführt, dass zahlreiche Organisationen in der Bundesrepublik – darunter Misereor, Medico International, die BUKO- Pharmakampagne und die IPPNW – zu einem De-facto-Boykott von Abbott aufgerufen haben.

Noch schwieriger durchzusetzen sind Zwangslizenzen mit dem Ziel des Exports von Medikamenten. Wenn ein Land wie beispielsweise Malawi keine eigene Pharmaindustrie hat, gewinnt es durch die Vergabe von Zwangslizenzen nur die Möglichkeit, Arzneimittel billiger aus dem Ausland zu importieren. Doch diese Import-Zwangslizenzen können nur genutzt werden, wenn es auch ein Land gibt, das patentfrei produzieren kann. Ist dies nicht der Fall, wird es notwendig, Export-Zwangslizenzen zu verhängen. Ein Land wieIndien könnte dann ein Medikament ausschließlich für den Export in ein ärmeres Land nachbauen, obwohl das Mittel in Indien patentiert ist. Export- Zwangslizenzen sind also der Schlüssel zum Zugang zu Medikamenten, die in den Produktionsländern patentiert sind. Die derzeitige Regelung der WTO führt allerdings zu einem sehr hohen bürokratischen Aufwand und geringen Anreizen für Generika-Produzenten, weshalb – trotz großen Bedarfs – bis heute keine einzige Export-Zwangslizenz erteilt wurde. Die Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Heidemarie Wieczorek- Zeul, hat daher wiederholt die Überarbeitung dieses Passus des TRIPSAbkommens gefordert.

Trotz alledem behauptet die Pharmaindustrie immer wieder, dass starke Patentrechte dafür sorgen, dass ausreichend neue Medikamente auch für ärmere Länder entwickelt werden – obwohl die Fakten eindeutig dagegen sprechen. Der Chef des Pharmaunternehmens Novartis, Daniel Vasella, hat das zentrale Problem treffend umrissen: „Wir haben kein Modell, das den Bedarf nach neuen Medikamenten [in Entwicklungsländern, O. M.] auf eine nachhaltige Weise erfüllt. Man kann von gewinnorientierten Organisationen nicht erwarten, dass sie das in größerem Maßstab tun. Wenn man ein System haben will, wo Firmen systematisch in diesen Bereich investieren, braucht man ein anderes System.“

Ein häufig diskutierter Lösungsansatz ist die Finanzierung von Forschung und Entwicklung aus nicht gewinnorientierten Quellen. Die Forschung und Entwicklung selbst kann direkt in öffentlichen Einrichtungen erfolgen, wie das ja auch heute schon der Fall ist. Sie kann aber im Prinzip auch von der Pharmaindustrie oder anderen privaten Forschungseinrichtungen ausgeführt werden. Hier sollte je nach Krankheit ein pragmatischer Weg gefunden werden. Jahrzehntelange Erfahrung zeigt aber, dass es von Anfang an Wettbewerb inder Produktion dieser Medikamente geben muss, damit der Zugang zu neuen Medikamenten für die Menschen in den ärmeren Ländern auch praktisch möglich ist. Eine Bedingung für öffentliche Gelder muss deshalb sein, dass die Forschungsergebnisse zumindest für die Länder des Südens patentmonopolfrei genutzt werden können.

Für die öffentlich finanzierte Forschung gibt es zwei wichtige Förderungsmechanismen. Zum einen die direkte Vergabe von Fördergeldern: Dies können die jeweiligen Geldgeber direkt vornehmen. Sehr interessant sind aber auch die in den letzten Jahren entstandenen Produktentwicklungs-Partnerschaften (beispielsweise die Drugs for Neglected Diseases Initiative), die Medikamente und Impfstoffe bis zur Zulassung und Marktreife entwickeln lassen und dann die Produktion komplett freigeben. Genau beobachtet werden muss dabei allerdings, ob der Einfluss, den die Pharmaindustrie in vielen dieser Fälle hat, negative Folgen zeitigt, so dass beispielsweise das Prinzip der freien Nutzung der Forschungsergebnisse unterminiert wird.

Zum anderen besteht die Möglichkeit, nicht die Forschungsaktivitäten direkt zu unterstützen, sondern ihre Ergebnisse in Form von sehr hoch dotierten Forschungspreisen zu belohnen, wie es auch der Nobelpreisträger Joseph Stiglitz vorschlägt.4 Man könnte beispielsweise einen Preis für denjenigen ausschreiben, der als erster ein neues TB-Medikament mit bestimmten Eigenschaften entwickelt, und dieses Medikament dann im Austausch zur patentfreien Produktion freigeben.

Diese Konzepte werden zwar nicht auf dem G8-Gipfel, aber in der Weltgesundheitsorganisation diskutiert, deren Vollversammlung hierzu im vergangenen Jahr eine Arbeitsgruppe mandatiert hat. Bleibt nur zu hoffen, dass diese rasch konkrete und verbindliche Vorschläge vorlegt.

1 Vgl. Sarah Tietze, Armut, Aids und Afrika, in: „Blätter“ 1/2007, S. 13-16.
2 Andere wichtige Faktoren sind ein Bewusstseinswandel und die Aufhebung der Stigmatisierung von HIV-Infizierten, hinreichende Finanzmittel und zumindest minimale Standards der Gesundheitssysteme.
3 So ist z.B. die Therapie von MDR-TB im Projekt der deutschen Sektion von „Ärzte ohne Grenzen“ in Usbekistan nur zu 55 Prozent erfolgreich. Im Falle der XDR-TB sind die Ärzte faktisch auf den Stand der Zeit von Thomas Manns „Zauberberg“ zurückgeworfen.
4 Vgl. „Financial Times Deutschland“, 16.3.2007.

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