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Immer deutlicher zeichnet sich ab, dass die Welt vor einer zweiten Welle der Corona-Pandemie steht. Während in zahlreichen Ländern die dramatischen Folgen der ersten Welle noch kaum verarbeitet sind, steigen die Fallzahlen vielerorts wieder deutlich an. Damit droht eine viel größere Krise auf der globalen politischen Agenda endgültig ins Hintertreffen zu geraten: die ungebremste Erderwärmung. Denn während die Coronakrise und deren Bekämpfung ganz offensichtlich ein drängendes Problem der Gegenwart sind, wird die Klimakrise von weiten Teilen der Politik noch immer als ein Problem der fernen Zukunft wahrgenommen. Demgegenüber ist es das bleibende Verdienst von Bewegungen wie Ende Gelände oder Fridays for Future, in einer breiten Öffentlichkeit zunehmend eine Gewissheit verankert zu haben: Die ökologische Krise findet bereits jetzt statt. Was für Corona gilt, gilt also auch für das Klima: Sofortiges und konsequentes Handeln tut not. Zudem basieren – das ist eine bemerkenswerte Parallele – der Kampf der heutigen Klimabewegung ebenso wie die Bemühungen zur Überwindung der Pandemie auf einer grundlegenden Forderung an die Regierungen: „listen to the science!“ – hört auf die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse.
Trotz dieser auffälligen Parallelen wird in der Coronakrise die Klimakrise deutlich marginalisiert. Das noch 2019 auch in Teilen des Establishments aufscheinende gesellschaftliche Bewusstsein, dass es die Bereitschaft zu grundlegenden Veränderungen der Produktions- und Lebensweise geben muss, scheint aktuell regelrecht verpufft zu sein – und das trotz der verheerenden Waldbrände wie Wirbelstürme in den USA. Völlig offen ist damit auch, wie heute und künftig wieder ökologische Protest- und Veränderungsdynamiken forciert werden können.
Entscheidend ist dafür, gerade auch als Lehre aus den Erfolgen von Fridays for Future: Der emanzipatorische Kampf gegen die Klimakrise wird nur dann eine Chance haben, wenn für viele Menschen neben dem Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen auch bessere Lebensverhältnisse denkbar werden. „Besser“ bedeutet dabei gerade nicht „immer mehr“; Klimagerechtigkeit muss dementsprechend an Erfahrungen und Gefühlen von Ungerechtigkeit und Ausbeutung anknüpfen. Und diese müssen in veränderte gesellschaftliche Rahmenbedingungen übersetzt werden.
Genau an diesem Punkt hatte Fridays for Future fast maximalen Erfolg mit ihrem Appell: Individuelles und kollektives, also staatliches, Handeln ist notwendig und möglich. Und bei diesem Handeln geht es nicht nur um „grüne“ Lebensstile und bewusstes Einkaufsverhalten. Denn auch wenn die Bewegung eher auf Verhinderung abzielt – nämlich darauf, CO2-Emissionen radikal zu reduzieren –, führt sie de facto auch einen Kampf um andere Zukünfte.
Im Unterschied zur globalisierungskritischen Bewegung ab dem Jahr 2000 hatte Fridays for Future dabei von Beginn an eine starke Alltagsorientierung:[1] Die dringend zu verändernden Alltagsgewohnheiten sind für die Klimabewegung und den von ihr angestrebten Systemwechsel zentral. Doch so tief wie die Alltagsroutinen in der imperialen Lebensweise verankert sind, lassen sie sich nur schwer verändern – das zeigt nicht zuletzt die Coronakrise, bei deren Bewältigung starke Kräfte auf die bloße Wiederherstellung des vormals Alltäglichen, des vermeintlich „Normalen“ unserer hochgradig konsumistischen Lebensgewohnheiten drängen.
Fridays for Future und die Mühen der Ebene
Allerdings können die Erfahrungen des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lockdowns durchaus wichtige Ansatzpunkte für den von der Klimabewegung angestrebten Systemwechsel bieten – und zwar nicht als bloß temporäres „Runterfahren“ und „Entschleunigen“, das sich einige wenige Privilegierte ohne Sorgeverpflichtungen und wirtschaftliche Probleme leisten können, sondern als radikale Re-Organisation der gesamten Produktions- und Lebensweise. Denn in der Coronakrise haben viele Menschen wichtige Erfahrungen gemacht – nicht zuletzt die, dass ein lebenswertes Leben auf anderen Qualitäten als den bislang erstrebten beruhen kann. Sie könnten daher auch nach der Krise dauerhaft mit deutlich weniger Flugreisen und Autos auskommen oder zu dem Schluss kommen, dass die schon vor der Pandemie kriselnde Autoindustrie radikal umstrukturiert werden und deutlich weniger Fahrzeuge produzieren sollte. Mit ihrem Knowhow könnte diese Industrie dann etwa zu einem intermodalen, öffentlichen Verkehrssystem beitragen.
Ob eine solche Übertragung der Corona-Erfahrungen gelingt, wird allerdings von einer zweiten Herausforderung abhängen – nämlich ob und inwiefern die herrschende Politik die klima- und umweltpolitischen Anliegen der sozialen Bewegungen ernst nimmt. Bisher haben Bewegungen wie Ende Gelände und Fridays for Future die Erfahrung gemacht, dass von staatlicher Politik nicht viel zu erwarten ist. Das Klimapaket der deutschen Bundesregierung von vor einem Jahr etwa wirkt geradezu zynisch angesichts der breiten gesellschaftlichen Diskussionen über den notwendigen ökologischen Umbau. Und in Österreich hat die schwarz-grüne Regierung zwar Pläne für eine ökosoziale Steuerreform an eine „Taskforce“ delegiert, die bis 2022 Vorschläge ausarbeiten soll. Ein Kriterium ist dabei allerdings, dass es „keine Mehrbelastungen für die Wirtschaft und für Private gibt.“[2] Auch die jüngsten Ergebnisse der UN-Klimakonferenzen sind mit Blick auf die tatsächlich nötigen Veränderungen eher frustrierend – mal ganz abgesehen von der Tatsache, dass in diesem Jahr aufgrund der Pandemie erstmals seit einem Vierteljahrhundert kein Klimagipfel stattfinden wird. Nach dem Durchbruch von 2019 kommen auf die ökologische Bewegung daher nun die Mühen der Ebene zu, speziell auf Fridays for Future nach ihrem „Erfolgsrausch als Agenda-Setter“.[3] Eine wichtige Einsicht der kritischen Staatstheorie lautet dabei, dass der Staat bzw. die staatliche Apparatur (inklusive Behörden, Länder, Gemeinden) nie einheitlich agiert, sondern in sich selbst heterogen ist. Für die Klimabewegungen ist es daher wichtig, Bündnispartner*innen außerhalb wie innerhalb staatlicher Institutionen zu finden.
Die Gefahr der Spaltung
Zugleich steht Fridays for Future aktuell vor einer weiteren Herausforderung, nämlich vor der Frage, wohin die Bewegung sich nun, nach dem politischen Hoch, in der weit schwierigeren Ebene entwickeln soll – was zu enormen inneren Spannungen und (Spaltungs-)Versuchen zu führen droht. Die inneren Konflikte entzünden sich etwa an der Frage, was es zu verändern gilt, was also der angestrebte „Systemwandel“ konkret bedeutet: Lässt sich eine CO2-intensive Wirtschaft möglicherweise doch in eine „grüne Ökonomie“ überführen? Oder hat die Klimakrise auch etwas mit der kapitalistisch-imperialen Produktions- und Lebensweise zu tun, die es zu verändern gilt? Hier wird die Positionierung von Fridays for Future, die ja von den politisch weitgehend zahmen Grünen als eine Art natürlicher Verbündeter gesehen werden, im Hinblick auf die Bundestagswahl im kommenden Jahr interessant werden.
Der Begriff „Kapitalismus“ wird von vielen Aktiven bisher eher gemieden oder zumindest skeptisch betrachtet. Sie sehen dahinter ein zu systemisches Konzept, das zu wenig Eingriffsmöglichkeiten bietet, zu sehr von den Älteren und Wissenden vorgegeben und zu sehr von den eigenen Erfahrungen losgelöst ist. Manche in der Bewegung argumentieren daher, dass angesichts der Klimakrise keine Zeit für eine grundlegende Kapitalismuskritik sei, sondern die Wirtschaft rasch in Richtung „grüne Ökonomie“ umgebaut werden sollte und das in enger Kooperation mit den Unternehmen. Gerade an diesem Punkt kommt es darauf an, notwendigerweise entstehende inhaltliche Differenzen auszuhalten und nicht als Spaltungsgefahr zu sehen. Die Spannungen sollten vielmehr produktiv ausgetragen werden, um andere Positionen in ihren stärksten Argumenten zu verstehen und so voneinander zu lernen.
Mittelfristig wird allerdings auch Fridays for Future nicht um eine kapitalismuskritische Position herumkommen, denn eine solche ist schlicht und einfach notwendig, wenn das 1,5-Grad-Ziel tatsächlich ernst genommen wird. Um dieses so wichtige Ziel zu erreichen, braucht es eine umfassende, emanzipatorische sozial-ökologische Transformation mit dem Ziel eines „Guten Lebens für alle“. Dazu bedarf es konkreter strategischer Ansatzpunkte im Sinne einer „doppelten Transformation“ oder eines „radikalen Reformismus“. Damit ist eine progressive Transformation innerhalb des Kapitalismus mit gleichzeitig entstehenden Optionen über den Kapitalismus hinaus gemeint.[4]
»Doppelte Transformation« und »radikaler Reformismus«
An konkreten Initiativen und Vorschlägen für Einstiegsprojekte mangelt es dabei nicht: Kurze Vollzeitarbeit bei hohem Mindestlohn, Arbeitsplatzgarantie und Wirtschaftsdemokratie, dazu eine Care-Revolution und eine umfassende sozial-ökologische Agrar- oder Mobilitätswende sowie eine transformative Kreislaufwirtschaft jenseits ökologischer Modernisierung.[5] Besonders hervorzuheben sind die in jüngerer Zeit intensiv geführten Debatten um geeignete soziale und materielle Infrastrukturen für ein gutes Leben für alle.[6] Was aber weiterhin fehlt, sind überzeugende systemische Alternativen. Und trotz wichtiger Erfolge der jüngeren Bewegungen mangelt es an dauerhaften und stärker werdenden Bündnissen, die diese Alternativen in Wirtschaft und Gesellschaft verankern und politisch absichern. Die Bewegungen stehen also vor der Herausforderung, nicht nur konkrete Konflikte zu führen, sondern auch positive Begriffe und Projekte zu entwickeln, die neue Horizonte eröffnen, bestehende Erfahrungen reflektieren und diese in einen umfassenderen Kontext stellen können. Denn so wichtig das 1,5- oder selbst das 2-Grad-Ziel als Orientierungsmarke sind: Eine echte emanzipatorische sozial-ökologische Transformation kann nicht nur mit Verweis auf die Notwendigkeit begründet werden. Von entscheidender Bedeutung ist daher, gerade in Auseinandersetzung mit den herrschenden konservativen und neoliberalen Kräften, die Entwicklung einer angemessenen Politik der Freiheit.
Ein emanzipatorisches Verständnis von Freiheit zu entwickeln, ist jedoch schwierig, weil die dominante Tendenz in eine ganz andere Richtung geht. So warnt etwa Ingolfur Blühdorn, trotz der öffentlichen Politisierung der Klimakrise würden gesellschaftliche Mehrheiten und die von ihnen gewählten Regierungen sich immer mehr von Nachhaltigkeit verabschieden. Individuelle Freiheit und Befreiung seien vielen Menschen wichtiger als „das ökologische Projekt der Begrenztheit und Einschränkung“. Statt Vernunft, politische Aushandlung und bessere Argumente im Hinblick auf die ökologische Krise seien eher „die Befreiung aus Verantwortungen, Verpflichtungen, Beschränkungen und Prinzipien“ zu beobachten.[7]
Das bringt das individualistische Freiheitsverständnis auf den Punkt. Ein solcher negativer Freiheitsbegriff rückt die erwünschten Nicht-Einschränkungen des Individuums in den Mittelpunkt, das weitgehend tun und lassen soll, was es möchte. Wobei dieses Tun- und Lassenkönnen eng mit dem verfügbaren Einkommen zusammenhängt: Ein Lebensmodell, zu dem viele Flugreisen, ein großes Auto samt Zweitwagen sowie ein Haus mit Garten auf dem Land gehören, ist zwangsläufig teuer. Dieses Verständnis von individueller Freiheit rechtfertigt einen möglichst unhinterfragten Konsum und eine entsprechende imperiale Lebensweise. Politische Eingriffe werden als autoritär und freiheitsfeindlich zurückgewiesen. Dieses Verständnis von Freiheit, so Andreas Novy, steht gegen die menschenrechtlich-universelle Norm der Gleichheit aller Menschen.[8]
Für ein emanzipatorisches Verständnis von Freiheit
Ein positiver Freiheitsbegriff hingegen, der sich nicht auf abzuwehrende Einschränkungen fixiert, betont etwas anderes: Freiheit ist nur in einer freien Gesellschaft und in der Freiheit der anderen zu verwirklichen. Und sie geht mit Verantwortung und Pflichten einher. Um ein solches Freiheitsverständnis zu stärken, muss ein sinnerfülltes, sicheres und auskömmliches Leben möglich – und attraktiv – gemacht werden: weniger arbeiten und konsumieren, mehr Zeit für sich und andere. Freiheit bedeutet dann, mehr Optionen im Leben zu haben, als es die produktivistische und konsumistische Engführung auf Erwerbsarbeit, Einkommen und Warenkonsum zulässt. Erwerbsarbeit wäre dann nicht mehr länger bloß ein Job zur Sicherung des Einkommens – egal unter welchen oft schlechten Bedingungen –, sondern ein bewusster und gewollter Beitrag zur gemeinschaftlichen Reproduktion der Gesellschaft. Mit dem Wirtschaftshistoriker und sozialistischen Intellektuellen Karl Polanyi gesprochen: „Freiheit nicht nur als ein schon vom Ansatz her pervertiertes Recht der Privilegierten, sondern als ein verbrieftes Recht, das weit über die engen Grenzen des politischen Bereichs in die innere Struktur der Gesellschaft schlechthin reicht. [...] Eine solche Gesellschaft kann es sich leisten, gleichermaßen gerecht und frei zu sein.“[9] Im Kern geht es darum, wie Uta von Winterfeld schreibt, „Emanzipations- und Autonomievorstellungen auszubilden, die Naturverbundenheit und Mitgefühl zulassen. Denn was soll das für eine wirtschaftliche Freiheit sein, die noch nie alle gegenwärtig lebenden Menschen gleichermaßen umfasst hat – von den künftig lebenden Menschen ganz zu schweigen?“[10] Ein emanzipatorischer Begriff von Freiheit muss also mit dem der sozialen, internationalen und intergenerationalen Gerechtigkeit verbunden werden, denn die „Möglichkeit“, CO2 zu emittieren ist ja innerhalb der bestehenden imperialen Lebensweise höchst ungleich verteilt.
Konkret heißt das: Es bedarf gesellschaftlicher Bedingungen – Polanyi spricht von Planung und Kontrolle, gegen unkontrollierte Bürokratie und mächtige Unternehmen –, um ein freies Leben in einer freien Gesellschaft auch führen zu können, und nicht länger die negativen Effekte der eigenen Lebensweise zu Lasten anderer und der Natur zu externalisieren. Doch eine solche Kultur der Selbstbegrenzung entsteht nur im Wechselverhältnis mit entsprechenden politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und Institutionen, nämlich solchen Bedingungen, die Menschen materielle und politische Teilhabe ermöglichen. In Anlehnung an Dieter Klein, Michael Brie und andere könnte man das Sozialismus nennen: die regulative Idee einer guten Gesellschaft, in der ein erfülltes Leben und der Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen ermöglicht werden. Das „kann als der archimedische Punkt einer solidarischen friedlichen Gesellschaft, eines demokratischen grünen Sozialismus, und der Transformation dorthin betrachtet werden.“[11]
Generationen sind nicht homogen
Die Bedeutung von sozialen Bewegungen wie Fridays for Future oder den Post-Wachstumsdebatten besteht also nicht zuletzt darin, dass sie zu gesellschaftlichen Reflexionen anregen, wie eine solidarische Lebensweise aussehen könnte und welche Schritte dorthin zu gehen wären. Dass diese gesellschaftliche Verständigung und mögliche Veränderungen konfliktiv sind und sein werden, versteht sich von selbst.
Die Debatte um ein anderes Freiheitsverständnis verweist zugleich auf eine notwendige weitere Differenzierung, die die Klimabewegung vornehmen muss: Bisher betont Fridays for Future den Konflikt mit den älteren Generationen, die den jüngeren ihre Zukunft nehmen. Mit dieser Zuspitzung läuft die Bewegung jedoch Gefahr, bestehende soziale Ungleichheiten auszublenden: Wichtige Ursachen der Klimakrise liegen in einer auf Ausbeutung und Ungleichheit basierenden Produktions- und Lebensweise. Und auch die Folgen treffen Regionen und unterschiedliche Bevölkerungsgruppen je nach Stellung in diesem Prozess auf höchst unterschiedliche Weise. Fridays for Future müsse daher, so Markus Wissen, noch die Einsicht erarbeiten, dass „die Verantwortung für die Klimakrise und die Betroffenheit von ihren Folgen über Klassen- und Geschlechterverhältnisse, rassistische Diskriminierung und neokoloniale Herrschaft vermittelt ist. Auch die künftig Lebenden werden nicht als Generation gleichermaßen unter der Klimakrise zu leiden haben.“[12]
Andere Spektren der Klimabewegung bestehen zu Recht genau auf diesen Dimensionen innergesellschaftlicher und vor allem internationaler Ungleichheit und davon könnten die hoffentlich bald wieder protestierenden Schüler*innen lernen. So verbindet die US-amerikanische Sunrise-Bewegung ihren Appell für den klimapolitisch notwendigen Umbau der Wirtschaft mit der Forderung nach einer Arbeitsplatzgarantie und Maßnahmen gegen soziale Ausgrenzung.[13] Letztlich werden sich die einzelnen Spektren der Klimabewegung und insbesondere Fridays for Future fragen müssen, wie sie vom Konsensthema „Kampf gegen die Klimakrise und für die Reduktion von Emissionen“ zu ganz konkreten Zielen für die notwendigen Veränderungen kommen. Das heißt auch: inwiefern und wo sie Konflikte eingehen.
Eine solche Konfliktorientierung gibt es bei Ende Gelände in ihrem Kampf gegen den Abbau und die Verstromung von Braunkohle, bei Protesten wie Ende Geländewagen gegen die Unwirtlichkeit der Städte sowie perspektivisch gegen die Dominanz von Automobilität und Autoindustrie. Bei Fridays for Future, die häufig den Anspruch hat, breit in die Gesellschaft zu wirken und niemanden zu verschrecken, unterbleiben solche Schritte bislang weitgehend, was ihren breiten Medienerfolg teilweise erklärt. Doch könnten nach einem Wiederbeginn der Bewegung radikalere und konfliktivere Forderungen entstehen – vielleicht sogar Einstiegsprojekte in eine sozial-ökologische Transformation der bestehenden Produktions- und Lebensweise.
Gewollte Selbstbegrenzung statt von außen auferlegter Verzicht
Eines jedenfalls zeigt sich schon heute: Diese Bewegungen stehen oftmals für eine Kultur der gewollten Selbstbegrenzung – nicht für einen von außen auferlegten Verzicht. Derzeit wird wohl schon beim Abendessen vieler Familien ausgehandelt – und in der Coronakrise konkret erlebbar –, dass es auch ohne neues Auto oder die Flugreise in den Urlaub geht. Was dabei verhandelt wird, ist die Frage der Ressourcen, und das in mehrfacher Hinsicht. Und diese, so Michael Brie, werden benötigt, um ein sozialistisches Projekt zu entwickeln und durchzusetzen: „Diese Ressourcen sind ökonomisch, politisch, kulturell, aber nicht selten auch militärisch. Es beginnt mit der Sicherung elementarer Güter wie dem Schutz der persönlichen Unversehrtheit, Nahrung, Kleidung, Wohnung, Bildung, Gesundheitsvorsorge, Mobilität bis hin zum Zugang zum Internet usw. Aber es geht auch um reiche Sozialbeziehungen, um Rechtssicherheit, um Kultur und individuelle wie kollektive Freiheiten.“[14] Diese Güter müssen in voraussetzungsvollen Prozessen produziert werden. Dabei lässt sich an eine zentrale Einsicht von Karl Polanyi aus den 1930er Jahren anschließen, die er mit Blick auf die tiefe Krise des im 19. Jahrhundert entstandenen liberalen Kapitalismus mit seiner Utopie des sich selbstregulierenden Marktes formulierte: Zentrale Dimensionen gesellschaftlichen Zusammenlebens dürfen nicht dem reinen Expansions- und Wettbewerbsprinzip des kapitalistischen Marktes unterworfen werden. Das gilt für die menschliche Arbeitskraft, den Boden bzw. die Natur und das Geld. In diesem Sinne sind strikte Regeln die Grundbedingung für eine freie Gesellschaft.
Damit stellt sich aber, und das ist der Unterschied zum liberal-individualistischen Freiheitsverständnis, notwendig die Frage nach gesellschaftlichen Macht- und Eigentumsverhältnissen sowie nach dem kapitalistischen Profit- und Wachstumsimperativ, die sehr grundlegend verändert bzw. überwunden werden müssen. Zudem muss die Produktion an Gebrauchswerten orientiert werden, an dem was bereits Polanyi „als Brauchbarkeit der produzierten Güter“ bezeichnete, die vor ihrer Produktion ausgehandelt werden muss und die gesellschaftliche Arbeitsteilung bestimmt. Dafür müssen demokratische Strukturen und Prozesse, das Politische und der Staat derart verändert werden, dass die öffentlichen Angelegenheiten kollektiv und ohne Diskriminierung organisiert werden können. Das sind Kernelemente eines demokratischen öko-sozialistischen Projekts.
Ein solcher Ökosozialismus aber wäre nicht nur im Rahmen von Nationalstaaten zu denken. Denn insbesondere die materiell reichen Länder profitieren tendenziell von der imperialen Produktions- und Lebensweise. Zwar erleben wir in der aktuellen Coronakrise, dass Solidarsysteme noch stark an den Nationalstaat gebunden sind, doch auch das gilt es zu verändern: Internationale Kooperation darf nicht mehr zuvorderst den Freihandel und die Macht des Kapitals absichern, sondern muss die großen sozialen und ökologischen Probleme auch global und kooperativ angehen. Ein gutes Leben für alle ist eine internationale und internationalistische Aufgabe, die unter kapitalistischen Bedingungen nicht zu bewältigen ist – und deshalb einer grundlegenden Alternative bedarf.
Der Beitrag basiert auf dem neuen Buch des Autors „Post-Wachstum und Gegen-Hegemonie. Klimastreiks und Alternativen zur imperialen Lebensweise. Mit einem Beitrag zur Corona-Krise“, das kürzlich beim VSA Verlag erschienen ist.
[1] Markus Wissen, Ökologische Krise und sozialer Protest. Die neue Klimabewegung als Akteur gesellschaftlicher Transformation, in: „Politikum“, 2/2020, S. 30-37.
[2] Die neue Volkspartei/Die Grünen, Aus Verantwortung für Österreich. Regierungsprogramm 2020-2024, S. 79.
[3] Dieter Rucht nennt als weitere Herausforderungen, dass eine bisher wenig institutionalisierte Bewegung wie Fridays for Future sich eine stärkere und transparente organisatorische Struktur geben muss, auch um individueller Überforderung entgegenzuwirken, und wie sie Entzauberung und Veralltäglichung entgegengewirken kann. Vgl. Dieter Rucht, Faszinosum Fridays for Future, in: „Aus Politik und Zeitgeschichte“, 47-48/ 2019, S. 4-9, hier: S. 9.
[4] Vgl. Dieter Klein, Das Morgen tanzt im Heute. Transformation im Kapitalismus und über ihn hinaus. Hamburg 2013; Joachim Hirsch, Radikaler Reformismus, in: Raul Zelik und Aaron Tauss, Andere mögliche Welten? Krise, Linksregierungen, populäre Bewegungen: Eine lateinamerikanisch-europäische Debatte, Hamburg 2013, S. 95-103; Christoph Görg, Die Historisierung der Staatsform. Regulationstheorie, radikaler Reformismus und die Herausforderungen einer Großen Transformation, in: Ulrich Brand und Christoph Görg (Hg.), Zur Aktualität der Staatsform: Die materialistische Staatstheorie von Joachim Hirsch, Baden-Baden 2018, S. 21-38; Roland Roth, Radikaler Reformismus. Geschichte und Aktualität einer politischen Denkfigur, in: Brand/Görg, Zur Aktualität der Staatsform, a.a.O., S. 219-240.
[5] Sepp Eisenriegler, Kreislaufwirtschaft in der EU. Eine Zwischenbilanz, Wiesbaden 2020.
[6] Foundational Economy Collective, Die Ökonomie des Alltagslebens. Für eine neue Infrastrukturpolitik, Berlin 2019.
[7] Ingolfur Blühdorn unter Mitarbeit von Felix Butzlaff, Michael Deflorian, Daniel Hausknost und Mirijam Mock, Nachhaltige Nicht-Nachhaltigkeit. Warum die ökologische Transformation der Gesellschaft nicht stattfindet, Bielefeld 2020, S. 47 und S. 103.
[8] Andreas Novy, Kritik der westlichen Lebensweise, in: Fred Luks, Chancen und Grenzen der Nachhaltigkeitstransformation. Ökonomische und soziologische Perspektiven, Wiesbaden 2019, S. 43-58, hier: S. 51.
[9] Karl Polanyi, The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen. Frankfurt a. M. 1990 [1944], S. 339; Michael Brie weist auf das Dilemma hin, dass in demokratischer Hinsicht Ursachen und Wirkungen bzw. Kosten und Nutzen überschaubar sein müssten, um Entscheidungen treffen zu können, doch komplexe (Welt-) Gesellschaften kaum überschaubar seien. Vgl. Michael Brie, Diese Freiheit tötet. Karl Polanyis Forschungsfrage, in: Michael Rahlwes, Till Rudnick und Nicos Tzanakis Papadakis (Hg.), Radikale Philosophie und Kritik der Politik: Festschrift für F.O. Wolf zum 75. Geburtstag, Münster 2019, S. 94-110.
[10] Uta von Winterfeld, Von der Freiheit auf einem begrenzten Planeten, in: „FactorY-Magazin“, 1/2020, S. 59-62, hier: S. 61.
[11] Dieter Klein, Zukunft oder Ende des Kapitalismus? Eine kritische Diskursanalyse in turbulenten Zeiten, Hamburg 2019, S. 185.
[12] Wissen, Ökologische Krise und sozialer Protest, a.a.O., S. 36; vgl. auch Max Lill, Wie die Schockstarre überwinden? Perspektiven der Klimabewegung in Zeiten der Pandemie, www.zeitschrift-luxemburg.de, März 2020; Christian Zeller, Revolution für das Klima. Warum wir eine ökosozialistische Alternative brauchen, München 2020.
[13] Dorothee Häußermann, Und sie bewegt sich doch (nicht), www.klimareporter.de, 22.5.2020.
[14] Michael Brie, Ändert dies wirklich alles? Fragen beim Lesen von Naomi Kleins neuem Buch „Die Entscheidung. Kapitalismus vs. Klima“, in: Michael Brie (Hg.), Mit Realutopien den Kapitalismus transformieren? Kritische Beiträge zur Transformationsforschung 2, Hamburg 2015, S. 243-252, hier: S. 247.