Ausgabe Oktober 2020

Flüchtling für immer

Wir wurden zu Geflüchteten. Irgendwie fühlte es sich beständiger an als der Zustand, in dem wir uns in den vergangenen zehn Monaten befunden hatten, als wir uns in den Vereinigten Arabischen Emiraten versteckten. Dort waren wir Illegale: das gleiche verstörende Gefühl von Heimatlosigkeit, Unsicherheit und Mangel, doch in Dubai mussten wir uns selbst einen Unterschlupf suchen. Keine Regierung, die sagte: „Wir übernehmen die Verantwortung für euch“, wir waren auf uns selbst gestellt, und es war schwer, über den nächsten Schritt nachzudenken.

Vielleicht lag es daran, dass alles, was wir taten, im letzten Moment stattfand und abhängig von der Freundlichkeit eines Fremden, einem glücklichen Zufall oder einem Wunder war. Und als wir im Winter 1989 in Rom landeten, war ich von überbordender Liebe für Italien und alle Italiener erfüllt; ganz anders als in Dubai oder Schardscha. Der Flughafen war so europäisch, so beschaulich; ich wollte in jeden Laden laufen, an der westlichen Schokolade riechen und die teuren Stoffe befühlen. Doch ein Mann in einem schwarzen Anzug hielt ein Schild mit Mamans Namen hoch, und wir wurden zu einem Wagen geführt. Meine Mutter, mein jüngerer Bruder und ich drängten uns auf der Rückbank zusammen, wir froren und waren schmutzig nach dem langen Flug. Ich versuchte, wach zu bleiben, während wir durch die italienische Landschaft fuhren. Nach einer Stunde entdeckten wir endlich ein Haus auf einer Anhöhe, das in der Ferne aus der sanften Hügellandschaft hervorragte. Man hatte uns gesagt, dass man uns in eine „gute Flüchtlingsunterkunft“ bringen würde, an einen sicheren Ort auf Zeit für Durchreisende, die Asyl außerhalb Italiens suchten. Das Haus hieß Barba und war früher ein Hotel gewesen. Die italienische Regierung hatte das Gebäude gepachtet, um Menschen wie uns dort unterzubringen, die aus politischen und religiösen Gründen Asyl suchten, sowie Durchreisende, die besonders bedürftig waren: Ältere, Familien, Kinder. Es war aufregend, Barba in der Ferne auftauchen zu sehen, selbst wenn wir dort als Geflüchtete leben würden, in fremder Kleidung und Bettwäsche, und uns nicht fortbewegen durften, würde unsere Bleibe immerhin ein hübsches Hotel auf einer Anhöhe sein.

Es war schon später am Abend, als wir eine gewundene Bergstraße hinauffuhren. Unser Zimmer war klein, vielleicht sogar kleiner als das in dem von Kakerlaken bevölkerten Hostel in Schardscha, und es gab weder einen Kühlschrank noch eine Kochplatte. Nur ein Badezimmer und ein Bett. Wir setzten uns aufs Bett und fragten uns, woher wir Geld bekommen und wie wir mit unseren Nachbarn auskommen würden. Ob jemand von ihnen wohl Farsi sprach? Wie lange würden wir hierbleiben? Welches Land würde uns schließlich aufnehmen? Und was würden wir heute Abend essen?

Wir überlegten gerade, nach Mentana in einen Laden zu gehen, als jemand an die Tür klopfte. Eine junge Italienerin mit Punkfrisur versuchte uns zu erklären, dass wir den Gong zum Abendessen verpasst hätten. An jenem Abend sah ich die Kantine zum ersten Mal, ein halbrunder verglaster Raum, von dem aus man das gesamte grüne Tal überblicken konnte. Jetzt war sie leer und dunkel, aber am Morgen würde sie sich mit vertriebenen Familien wie uns füllen, Iranern, Afghanen, Russen, Rumänen. Sie würde von vielerlei Sprachen erfüllt sein und von den unterschiedlichsten Gebeten. Von Kindern, Müttern, Großmüttern. Doch in diesem Moment war es bedrückend still. Wir hockten im Halbdunkel, aßen die übrig gebliebene Pasta aus Schüsseln und dankten Gott, dass man hier mit Mahlzeiten versorgt wurde.

Wir konnten nur träumen und gegen die Einsamkeit ankämpfen

Trotz seiner pompösen Architektur war das Hotel Barba ein Flüchtlingscamp und wir durften uns nicht von dort fortbewegen, weil wir in Italien keinen Aufenthaltstitel hatten. Jeden Tag servierte man uns Suppe, Pasta, Kaffee und Brot zu festgelegten Zeiten, und wir saßen in der winterlichen Kälte und beteten, dass wir im Sommer nicht mehr hier sein würden. Wenn der Postbote kam, drängelten wir uns vor der Poststelle, um ja nichts zu verpassen. Wir wollten wissen, wer heute einen Brief erhielt. Dann verstummte die Menge, während der- oder diejenige ihn mit zitternden Fingern öffnete, einen raschen Blick darauf warf und anschließend entweder leise hinter vorgehaltener Hand weinte, Flüche murmelte oder auf die Knie fiel und laut seinem oder ihrem Gott dankte. Alle warteten voller Spannung auf einen Brief aus Amerika, England, Australien oder Kanada (große, weiträumige anglophone Länder). Ein Brief bedeutete, das Warten war vorbei, und das Leben konnte neu beginnen.

Zur Arbeit oder zur Schule konnten wir nicht gehen, also konnten wir nur träumen und gegen die Einsamkeit ankämpfen – ein unerträglicher Zustand. Wir aßen mit Menschen aus unseren Heimatländern, beteten auf unsere Art, manche vor dem Essen (sitzend, mit geneigtem Kopf) und andere danach (stehend, sich an den Händen haltend). An kalten Tagen schlichen sich die Kinder in einen nahegelegenen Obstgarten, um unreife Pfirsiche und Pflaumen zu stehlen, weil unsere Zungen nach etwas Saurem verlangten und es nichts anderes gab, um diesen Heißhunger zu stillen. Ich versuchte, einer Gruppe korpulenter russischer Männer etwas Englisch beizubringen, indem ich in meinem pinken Rock auf dem Hof herumlief und wahlweise auf einen Baum, einen Zaun, einen Tschador, eine Babuschka zeigte (die Männer waren so freundlich, sich Notizen zu machen).

Unser Kampf gegen die Langeweile nahm immer merkwürdigere Formen an: Eine afghanische Großmutter sammelte auf einer benachbarten Baustelle Ziegelsteine und trug sie unter ihrem Tschador in ihr Zimmer. Ihre Tochter sagte uns die Zukunft voraus und verwendete dazu die Rückstände des Pulverkaffees in unseren Bechern. Ein junger iranischer Soldat, dessen eine Gesichtshälfte von einer chemischen Verbrennung, die er sich während des Krieges zugezogen hatte, ganz ausgeblichen war, brachte uns bei, wie man Fußball spielt. Trotz seines sonderbar weißen Gesichts fand ich ihn genauso interessant wie die Prinzen in meinen Märchenbüchern. Vielleicht spürte ich, dass er sich zu Maman hingezogen fühlte. War sie nicht ich, nur in einem anderen Körper? Hier war ein Mann, der uns mochte, der mit mir spielte, um mich aufzuheitern, und sich dann unauffällig umschaute, um zu sehen, ob Maman auch zusah.

Wir hatten Baba in Isfahan zurückgelassen. Mit der Zeit begriff ich, dass ich nie wieder mit meinem Vater zusammenleben würde. Ich begriff auch andere Dinge, die sich in meinem Inneren bemerkbar machten. Ich verbrachte viel Zeit mit liebevollen Großmüttern aus den unterschiedlichsten Ländern. Ich begleitete Maman in die Zimmer der russisch-orthodoxen Christen, die uns Tee und Orangen servierten. Ich las englische Bücher, spielte Himmel und Hölle und sehnte mich danach, wieder ein Zuhause zu haben, die Tage des Umherwanderns hinter mir zu lassen und Wurzeln zu schlagen. Ich dachte über die Erwachsenen mit ihren Geheimnissen nach. Ich drängte die Leute, mir ihre Geschichten zu erzählen – und wurde so zu der Person, die ich heute bin.

Unsere Geschichten hatten große Kraft

In einem Flüchtlingscamp sind die Geschichten das Wichtigste. Jeder hat eine eigene, denn jeder ist eben erst aus einem Albtraum erwacht. Ohne die Erlaubnis, zu arbeiten oder sich fortzubewegen, hat niemand etwas zu tun und wartet nur darauf, einen neuen Platz in der Welt zugewiesen zu bekommen. Jeder ist ein Fremder, der sich erst vorstellen muss. Und Tee ist billig (in Barba kamen wir alle aus Ländern, in denen man Tee trinkt). Was konnte man also Besseres tun, als eine Teekanne aufzugießen, sich auf ein Kissen an einen niedrigen Tisch zu setzen und zu reden? Es war nicht nur ein Zeitvertreib. Unsere Geschichten hatten große Kraft. Die Erinnerungen anderer versetzten uns aus dem Exil in lebendige fremde Länder oder zurück nach Hause. Sie erinnerten uns an die lange, unbekannte Straße, die noch vor uns lag. So kurz nach unserer Flucht konnten wir es noch nicht erkennen, aber vor uns lagen noch einige scharfe Kurven. Wir hatten die eine große Geschichte unseres Lebens erschaffen; als Nächstes kam die Wartezeit im Flüchtlingscamp, wenn wir sie erzählen würden. Dann der Kampf um Asyl, wenn wir sie weiter ausschmücken würden. Dann die Anpassung an ein neues Leben, wenn wir sie zur Unterhaltung der Einheimischen zum Besten geben würden, und schließlich, im Alter, würden wir vielleicht auf diese Geschichte zurückkommen und sie ohne Zorn akzeptieren können: eine Heimkehr.

Zwei Jahrzehnte lang hat unsere Flucht definiert, wer ich war. Sie prägte meine Persönlichkeit und bestimmte jede meiner Entscheidungen. Als ich ins College kam, bestand mein Leben zur einen Hälfte aus der Zeit vor der Flucht und zur anderen daraus, sie erneut zu durchleben, in Kirchen und bei Gemeindeveranstaltungen, in denen meine Mutter sie zu einer Pilgerreise machte, in Collegebewerbungen, wo sie zu einem Bittgesuch wurde, bei Übernachtungspartys, wo sie zur Unterhaltung diente, und in Diskussionen nach öffentlichen Vorführungen von xenophoben Melodramen wie „China Cry“ und „Nicht ohne meine Tochter“ – Filme über christliche Frauen, denen der Tod droht und die nach Amerika fliehen.

Unsere Geschichte war auf wundersame Weise mit meiner Identität verwoben. Manchmal fragten die Leute mich: Aber leben dort nicht auch viele Christen? Oder: Konnte deine Mutter nicht einfach behaupten, dass sie Muslima war? Es dauerte lange, bis ich über derartige Fragen hinwegkam. Sie fühlten sich an wie eine schlechte Note, wie eine Kritik an meinem Gesicht und meinem Körper, an meiner Identität. Ich wurde gerettet und deshalb bin ich verzaubert. Ich habe eine Bestimmung. Mit jeder guten Tat gebe ich etwas an das Universum zurück. Wenn ich das nicht mehr hätte, wäre ich gesichtslos, nur ein weiterer Durchschnittsmensch, der sich abmüht – für was? Seelenlose, mittelmäßige Nebensächlichkeiten?

Was heißt ein »besseres Leben«?

Einmal sagte eine Frau in einer Kirche in Oklahoma zu mir: „Ich kann das gut verstehen. Sie kamen her, weil Sie ein besseres Leben wollten.“ Ich dachte, ich falle in Ohnmacht – ein besseres Leben? In Isfahan hatten wir gelbe Rosenbüsche, einen Swimmingpool. Mitten in unserem Wohnzimmer stand eine gläserne Vitrine, in der ein Baum wuchs. Ich hatte die zarten Hände von Morvarid, meiner Freundin und Nanny, einer neunzigjährigen Frau vom Land, ich hatte das Fruchtleder meiner Großmutter und die Schnitzel im Hotel Koorosh und Sauerkirschen und Obstgärten und einen Bauernhof – das Leben im Iran war märchenhaft. In Oklahoma lebten wir in einer Wohnanlage für Sozialfälle. Das Leben bestand aus einem großen grauen Parkplatz voller Öllachen und Zigarettenkippen, Kindern, die in der drückenden Hitze herumlungerten, Lehrern, die nichts von Mathematik verstanden. Ich verwendete meine Jugend und jedes Gramm meiner Zauberkraft darauf, von dort zu entkommen. Ein besseres Leben? Die Worte klangen schief in meinen Ohren.

Mit der Zeit fühlten sich all die Nacherzählungen wie Anbiederei an. Die Skeptiker zogen ihre Schlüsse aus den Einzelheiten, mit denen ich sie versorgt hatte: meine Kindheitsträume von KitKats und makellosen Bananen. Meine akademischen Ambitionen. Ich dachte daran, wie ich meine Geschichte zum ersten Mal in einem Büro der Asylbehörde in Italien erzählt hatte. Wie gnadenlos es war, dass wir, noch mit dem Schweiß und dem Staub der Flucht auf unseren Stirnen, dazu genötigt wurden, unseren Leidensweg in eine gute, überzeugende Geschichte zu verwandeln, um nicht zurückgeschickt zu werden. Und nachdem wir Asyl bekommen hatten, mussten wir diese Geschichte immer und immer wieder durchleben, um uns unseren Platz zu verdienen und die Skeptiker zu beruhigen. Jeden einzelnen Tag in seinem neuen Leben ist der Geflüchtete dazu aufgefordert, sich von den Opportunisten, den Wirtschaftsmigranten, abzugrenzen.

Es geht darum, ein Privileg zu schützen

Wie die meisten Geflüchteten, die eine lebensbedrohliche Reise hinter sich gebracht haben, waren meine Familie und ich fügsam, überglücklich, dankbar. Doch wir hatten nachhaltige Schäden davongetragen. Wenn der rationale Verstand eine glatte, saubere Straße ist, dann hatte unsere Schlaglöcher voller Paranoia und Angst. Ja, ich konnte Freude, Vernunft und Veränderung heraufbeschwören. Doch ein einzelnes falsches Wort konnte mich einen Tag, eine ganze Woche lang aus dem Tritt bringen und mich an meinem Wert und an meinem neuen Platz in dieser Welt zweifeln lassen. Bin ich keine richtige Geflüchtete? Derartige Andeutungen schmerzten mich.

Warum bestehen die Einheimischen auf dieser Unterscheidung? Warum verletzen sie die Schutzlosen, indem sie mit diesem Stigma drohen? Ich brauchte Jahrzehnte, um es zu begreifen: Es ist der Instinkt, sich gegen eine Horde fähiger Konkurrenten zu verteidigen. Es geht darum, eine Grenze zu ziehen, um ein Geburtsrecht, ein Privileg zu schützen.

Im Gegensatz zu Wirtschaftsmigranten haben Geflüchtete keinerlei Handlungsmacht; sie sind keine Bedrohung. Häufig sind sie so gebrochen, dass sie nur darauf hoffen können, durch die Fürsorge der Einheimischen wieder zu genesen. Als Adressaten von Großmütigkeit kann man sie bedauern. Ich war eine verträgliche Immigrantin, weil ich mich mit meinen Mantras selbst programmiert hatte: Ich bin gerettet worden. Ich werde mich würdig erweisen, etwas zurückgeben und mich verwandeln. Doch wenn man in der Dritten Welt geboren wurde und es wagt, sich auf den Weg zu machen, bevor man vernichtet wird, dann sind die eigenen Träume verdächtig. Man ist ein Schwindler, ein Opportunist, ein Dieb. Man maßt sich etwas an, was einem nicht zusteht. Etwas Unnatürliches und Bedrohliches spielt sich hier ab.

Meine Mutter kam nicht auf die Idee, die fest verankerten Vorurteile der Leute infrage zu stellen. Waren wir wirklich Geflüchtete? Sie erwehrte sich dieser Frage, indem sie unsere Geschichte erzählte: Sie war beinahe vom Regime ermordet worden, also sollte sie sich nicht mit den Vorurteilen anderer herumschlagen müssen. Sie war aufgebracht, wenn sie Geschichten von Asylsuchenden hörte, die über ihren Glauben gelogen hatten, und sie befragte Neuankömmlinge über die Bibel und ihre Untergrundgemeinden, doch sie stellte niemals deren Angst infrage – im Gegensatz zu den Einheimischen um uns herum. Die quälende Angst vor einem Leben ohne jegliche Perspektiven ist eine der Voraussetzungen, die jemanden dazu bringen, seine Heimat zu verlassen, in ein kleines Boot zu steigen oder Berge zu überwinden, die von Soldaten besetzt sind. Niemand, der in einer Diktatur gelebt hat, der seine Kinder gepackt und in einen Luftschutzkeller gerannt ist, kann die Angst anderer anzweifeln. Für meine Mutter ist der christliche Glaube zu heilig, um darüber zu lügen, und für sie ist es schwer zu akzeptieren, dass ein rigides, irrationales System manchen keine andere Wahl lässt, doch gleichzeitig weiß sie, dass die Gründe für eine Flucht vielschichtig und kompliziert sind. Dazu gehören immer Angst und eine greifbare Hoffnung. Es ist der Wunsch, sich neu zu erfinden, der aus unseren Albträumen erwächst, aber ebenso aus unserem Mut und Tatendrang. Und deshalb ist es spitzfindig, zwischen Menschen, die sich in Gefahr befinden, und solchen, die ihre Chance nutzen wollen, zu unterscheiden. Wo bleibt die Demut? Das Mitgefühl?

Die zynischsten Bürokraten entscheiden über komplexe Wahrheiten

Und was ist eine glaubhafte Gefahr in einem Land, in dem religiöse Abweichler, Homosexuelle und Ehebrecher gehängt werden, und wo ein hasserfüllter Fingerzeig in deine Richtung ausreicht, um dich zu einem davon zu machen? Ein Land, das so korrupt ist, dass die Laune eines Mullahs dich vor ein Erschießungskommando oder an den Galgen bringen kann, und du, wenn du einen Pasdar verärgert hast, am nächsten Morgen wegen Drogenbesitzes verhaftet werden kannst? Ein Land, in dem die Verwaltung eine Farce ist; in dem die Reichtümer unter der Hand unter einigen wenigen aufgeteilt werden; in dem junge Männer ohne Arbeit dahinvegetieren und junge Frauen verwelken, weil sie ihre Ambitionen und Wünsche nicht ausleben können; in dem das verführerische Flüstern des Opiums ständig in deinen Ohren klingt und deine Lungen so angefüllt von Verzweiflung sind, dass du keinen anderen Ausweg mehr siehst, als zu deinem eigenen Henker zu werden?

Was bedeutet Flucht unter solchen Umständen, und was ist nur Wirtschaftsmigration? Wer ist ein echter Geflüchteter? Ich muss lachen, wenn ich daran denke, dass „Geflüchteter“ eine sakrosankte Kategorie sein soll, ein Volk, das gesegnet ist, weil es der Hölle entronnen ist. Deshalb können diese Menschen auf keinen Fall zugeben, dass sie auch nur eine Spur von Freude zurückgelassen haben, sonst riskieren sie, wieder zu Migranten zu werden. Der heutige Iran ist ein Land voller Geflüchteter, die mit den kleinen Freuden des Lebens auskommen müssen, nachdem sie aus dem Paradies vertrieben worden sind, das vor der Revolution herrschte. Nachdem der Krieg mit dem Irak beendet war, wurde ihre Notlage häufig als unzureichend eingeschätzt. Syrien ist die Hölle. Afghanistan, Südsudan, Eritrea sind die Hölle. Der Irak ist... nicht ganz so schlimm? Und der Iran? Was ist furchtbar genug, damit der Westen sich verantwortlich fühlt, nicht nur als Mitverursacher des ganzen Wahnsinns, sondern als hauptsächlicher Nutznießer der Ressourcen unseres Planeten, der hinter den Kulissen sitzt und misstrauisch und tatenlos dabei zusieht, wie Fremde leiden?

Mittlerweile haben wir es unseren unfähigsten, zynischsten Bürokraten überlassen, über komplexe Wahrheiten zu entscheiden, wir haben ihnen nicht etwa aufgetragen, Leben zu retten oder die Müden und die Verzweifelten aufzunehmen, sondern Lügner aufzuspüren, unsere riesigen Ansprüche, unseren Lebensraum zu schützen und sich dabei über jegliche Moral hinwegzusetzen – was einer Pflichtverletzung gleichkommt. Noch empörender ist der Begriff „Wirtschaftsflüchtling“, eine Lüge, die von den Privilegierten ersonnen wurde, um leidende Fremde zu beschämen, die sich nach einem menschenwürdigen Leben sehnen. Hätten die Kinder der Privilegierten derartige Wünsche, würden sie es als „Motivation“ und „Unternehmergeist“ bezeichnen. Und während wir darüber murren, was man uns schuldet und ob genug für uns übrig bleibt, warten die Vertriebenen vor unserer Tür. Es sind Maler und Chirurgen, Handwerker und Studenten. Kinder und Mütter. Der Nachbar, der die leckere Soße macht. Das lustige Mädchen aus dem Naturkundeunterricht. Der Junge, der so gut tanzt. Der Großonkel, der immer in die falsche Straße abbiegt. Sie machen einen schmerzhaften Transformationsprozess durch, sie stehen von den Toten wieder auf, entledigen sich ihrer alten Identität, ohne eine Garantie dafür zu haben, dass sie eine neue bekommen werden.

Die Flucht als der erste Schritt im Leben eines Migranten

Ein niederländischer Beamter fragt einen iranischen Geflüchteten: „Sind Sie um Ihre Sicherheit besorgt?“ Er antwortet: „Ja, meine beiden Freunde und ich wurden vor zwanzig Jahren als Kommunisten verhaftet. Jede Woche melden wir uns bei der örtlichen Polizeibehörde. Letzte Woche waren meine Freunde danach verschwunden. Ich bin geflüchtet.“ „Haben Sie wieder Kontakte zu kommunistischen Untergrundorganisationen aufgenommen?“ „Nein“, sagt der Antragsteller. Er ist kein Dissident. Aber er wird verfolgt. „Dann sind Sie doch sicher“, sagt der Beamte. „Anscheinend haben Ihre Freunde ihre politischen Aktivitäten wieder aufgenommen. Aber Sie nicht, daher müssen Sie auch nichts befürchten.“

Der Beamte geht nicht nur davon aus, dass die iranische Regierung gründlich und gerecht ist (lächerlich), sondern auch noch unfehlbar. Wie soll man sich in einem derart unfairen, eigennützigen System zurechtfinden? Die Cleveren, die herumgefragt haben, wissen, dass sie gar nicht erst versuchen sollten, zu erklären, wie die Islamische Republik funktioniert, wie oft unschuldige Menschen verschwinden. Sie sagen einfach: „Ja, ich habe wieder Kontakt zu Aktivisten aufgenommen“, damit der Beamte ein Kreuzchen in seinem Formular machen kann.

Die Flucht ist der erste Schritt im Leben eines Migranten. An dem Tag, an dem wir unser Zuhause verließen, sagte man mir, von nun an könne ich so leben, wie ich wollte, und mein Potential würde nicht länger durch mein Geschlecht beschränkt werden. Und das stimmte. Doch eine Einschränkung war mir bereits auferlegt worden. Bislang wartete die Welt noch darauf, dass ich mich selbst definierte. War ich künstlerisch oder analytisch? Schüchtern oder wagemutig? Fromm oder weltlich? Doch nun war eine erste Kategorie für mich festgelegt worden: Migrantin, keine Einheimische.

Der Beitrag ist ein Auszug aus dem ersten Kapitel des aktuellen Buches von Dina Nayeri, „Der undankbare Flüchtling“, das soeben im Verlag Kein & Aber erschienen ist. Die Übersetzung aus dem Englischen stammt von Yamin von Rauch.

Aktuelle Ausgabe Oktober 2025

In der Oktober-Ausgabe wertet Seyla Benhabib das ungehemmte Agieren der israelischen Regierung in Gaza als Ausdruck einer neuen Ära der Straflosigkeit. Eva Illouz ergründet, warum ein Teil der progressiven Linken auf das Hamas-Massaker mit Gleichgültigkeit reagiert hat. Wolfgang Kraushaar analysiert, wie sich Gaza in eine derart mörderische Sackgasse verwandeln konnte und die Israelsolidarität hierzulande vielerorts ihren Kompass verloren hat. Anna Jikhareva erklärt, warum die Mehrheit der Ukrainer trotz dreieinhalb Jahren Vollinvasion nicht zur Kapitulation bereit ist. Jan Eijking fordert im 80. Jubiläumsjahr der Vereinten Nationen mutige Reformen zu deren Stärkung – gegen den drohenden Bedeutungsverlust. Bernd Greiner spürt den Ursprüngen des Trumpismus nach und warnt vor dessen Fortbestehen, auch ohne Trump. Andreas Fisahn sieht in den USA einen „Vampirkapitalismus“ heraufziehen. Und Johannes Geck zeigt, wie rechte und islamistische Rapper Menschenverachtung konsumierbar machen.

Zur Ausgabe Probeabo

Weitere Artikel zum Thema

Klasse statt Identität

von Lea Ypi

Die Aufklärung wird heutzutage oft geschmäht, sowohl von rechts als auch von links. Von der Rechten, weil kritisches Reflektieren, der Mut, sich seines Verstandes zu bedienen (Kant), schon immer eine Bedrohung für die passive Unterwerfung gegenüber Autorität bedeutet hat, die für die Normalisierung von Ausgrenzungen erforderlich ist.

Wir brauchen Fachkräfte – und schieben sie ab

von Lena Marbacher

Vor zehn Jahren, im Sommer 2015, sprach die damalige Bundeskanzlerin, Angela Merkel den berühmt gewordenen Satz: „Wir schaffen das!“. Trotz der damit suggerierten Offenheit gegenüber den vielen damals in Deutschland ankommenden Geflüchteten schob ihr Kabinett im darauffolgenden Jahr 25 375 Menschen ab.