Ausgabe Oktober 2020

Mali: Putschisten als Hoffnungsträger?

Oberstmajor Ismael Wague während einer Pressekonferenz in Kati bei Bamako, Mali, am 19. August 2020.

Bild: imago images / Xinhua

Rasch und weitgehend unblutig zwang in Mali am 18. August eine Gruppe von Offizieren den Präsidenten Ibrahim Boubacar Keïta zum Rücktritt. Dies geschah quasi unter den Augen von 13 000 UN-Soldaten (darunter Bundeswehrangehörige) und einem tausendköpfigen Bataillon französischer Spezialkräfte, ferner europäischen Militärausbildern, US-Beratern sowie kaum zählbaren ausländischen Hilfsorganisationen. Die jungen Offiziere etablierten sich als „Nationalkomitee zur Rettung des Volkes“ und appellierten an die gesamte Gesellschaft, beim „Wiederaufbau Malis“ mitzuwirken. Die Bühne für den Umsturz hatte zuvor eine wachsende außerparlamentarische Opposition gebaut; dies rahmt den Putsch auf seltsame Weise zivilgesellschaftlich ein. Nach sieben Jahren westlicher Intervention hat in Mali ausgerechnet ein Staatsstreich neue Hoffnungen geweckt – ein ebenso erstaunlicher wie lehrreicher Vorgang.

Seit Monaten verlangte eine heterogene Sammlungsbewegung unter dem Kürzel M5-RFP[1] den Rücktritt des 75jährigen Präsidenten; das Bündnis vereint links-säkulare und religiöse Kräfte, Jugendbewegungen und etablierte Politiker, die sich vom Präsidenten losgesagt hatten. Keïta war 2013 mit gewaltigen Versprechen das erste Mal ins Amt gekommen, nun wurden ihm Bereicherung, Wahlfälschung und der rapide Verfall des Staates angelastet. Dennoch stand er bis zuletzt unter dem Schutzschirm des Westens. Selbst als die Führung eines Staates, dessen Budget zu zwei Dritteln aus EU-Mitteln stammt, auf unbewaffnete Demonstranten schießen ließ und eine EU-trainierte malische Anti-Terror-Einheit gegen sie einsetzte, blieb die europäische Kritik verhalten. Dabei war allen, die in Mali auf Mission sind, bewusst: Keïta ist eine Katastrophe für das Land. Doch man glaubte ihn zu brauchen: als Garanten für die Fortsetzung der internationalen Einsätze, die über die Jahre zu einer Mischung aus Anti-Terror-Kampf und Migrationsabwehr geworden sind.

Für seine Bürger wurde Keïta in Funktion und Lebensweise zum Symbol einer typisch postkolonialen Beziehung, mit französischem Zweitpass und Vermögen außerhalb des Landes. Von seinem Sohn Karim, auf zentrale Posten gehievt, kursierte ein Video, das ihn auf einer Mittelmeer-Yacht mit knapp bekleideten Frauen zeigte, während die Bevölkerung unter dem Covid-19-bedingten Lockdown litt. In jenen Wochen machte der US-Botschafter in der Hauptstadt Bamako der Opposition die aberwitzige Vorhaltung, ihre Forderung nach einem Rücktritt des Staatschefs verstoße gegen die malische Verfassung. Den Oktroi einer nach westlichem Gutdünken definierten Rechtmäßigkeit haben die putschenden Militärs nun hinweggefegt.

Pragmatische Putschisten

Die Offiziere im Nationalkomitee sagen von sich, sie hätten das Werk der Opposition „vollendet“. Allerdings wollten sie auch eine weitere Zuspitzung auf der Straße verhindern. Die M5-Bewegung radikalisierte Aktionen zivilen Ungehorsams in einem Ausmaß, das im konservativen Mali neu ist, etwa durch systematische Verkehrsblockaden. Zeitgleich legten Streiks für soziale Anliegen Schulen, Gesundheitswesen und Justiz lahm. Militär und zivile Aktivisten nennen einander nun höflich „Partner“ und ringen darum, dass die jeweils andere Seite nicht zu stark wird.

Noch in der Nacht des Umsturzes gab der eloquente Junta-Sprecher Ismaël Wagué, bislang Vize-Stabschef der Luftwaffe, durch ein Wortspiel eine Deutung vor: Dies sei kein Staatsstreich, kein Coup d’Etat, sondern ein „Coup de Tête“: Nur ein Kopf, eine Person sei gestürzt worden, sie habe nicht den Staat verkörpert, nur Eigeninteresse. Das wirkt im malischen Kontext weniger abwegig, als es westlichen Beobachtern scheinen mag. Präsident Keïta vergab Posten routinemäßig an Verwandte, die Praktik machte Schule in der gesamten Verwaltung. In der malischen Öffentlichkeit wird der Begriff Putsch nun tatsächlich wenig verwendet; bei einer Umfrage in Bamako fanden ihn zwei Drittel der Befragten nicht passend. Kritik an den Militärs kann geäußert werden, die Presse ist weiterhin frei. Die Junta genießt Respekt, aber sie schüchtert die Öffentlichkeit bisher nicht ein. Angst hat nur, wer sich bereichert hat: Alles soll nun geahndet werden.

Ein „korrigierendes Eingreifen“ der Armee zu akzeptieren, entspringt nicht allein Verzweiflung. Vor knapp drei Jahrzehnten gab es einen vergleichbaren Vorgang: Damals wurde für die Einführung der Demokratie gekämpft, es gab Tote, und der Seitenwechsel von Offizieren verhalf der Bewegung zum Sieg. Die Armee verkörpert in den Augen vieler Malier Patriotismus und sogenannten Volkswillen – dass die Militärs nach Berichten der malischen Sektion von Amnesty International und der UN-Mission Minusma, die seit 2013 im Land ist, in Zentralmali selbst in Menschenrechtsvergehen verstrickt sind, wird gern verdrängt.

Die Putschisten sind Pragmatiker: Sie wollen innenpolitisch aufräumen, doch an größeren Kräfteverhältnissen offensichtlich nicht rühren. Alle internationalen Abkommen würden respektiert; die UN-Soldaten seien ebenso „Waffenbrüder“ wie die französischen Spezialkräfte der Operation Barkhane. Der antifranzösischen Stimmung, die in einem Teil der zivilen Opposition verbreitet ist, geben die Offiziere keine Nahrung.

Dass der schweigsame 37jährige Assimi Goïta als Junta-Präsident firmiert, dürfte gleichfalls ein Signal an den Westen sein. Der Oberst kommandierte eine diskrete neue Elite-Einheit in Zentralmali, die mit Hilfe des US-Militärs eingerichtet wurde, nahm an dessen Africom-Manövern teil und weilte für Lehrgänge auch in Deutschland. Andere Junta-Mitglieder wurden in Russland und China fortgebildet, und der formell Ranghöchste ist ein christlicher General, der an der Sorbonne internationale Beziehungen studierte. Wichtiger als die Details von Werdegängen ist: Die Offiziere kennen die Welt außerhalb Malis, haben den Rückhalt aller Waffengattungen – und erstaunen die Öffentlichkeit durch Unbestechlichkeit. Tatsächlich tauchten gleich nach dem Umsturz Alt-Politiker mit Koffern voll Geld an der Garnison der Putschisten auf, der örtlichen Redensart folgend: Es gibt keinen Malier, der nicht käuflich ist. Die Offiziere antworteten in ihrem Communiqué No. 3: Sie verbäten sich höflichst solche Avancen.

Ihre Dekrete verbreitete die Junta auch über Twitter und Facebook, ein Indiz, dass die Offiziere auf ihre netzaffinen zivilen Altersgenossen rechnen. Unter gebildeten jungen Maliern ist im Schatten der großen Krise durch soziale Medien eine Öffentlichkeit entstanden, die nun kritisch jeden Schritt der Militärs begleitet.

Für die ausländischen Akteure markiert der Umsturz ein doppeltes Desaster, in moralisch-ethischer und in strategischer Hinsicht. Schon länger war klar, dass der Friedensprozess zu scheitern droht, solange die westliche Intervention die Macht der alten politischen Elite begünstigt.[2]

Das Bedürfnis nach Staat

Was nun geschah, bestätigt diesen Befund. Die vergangenen sieben Jahre seien eine kostspielige Vergeudung von Zeit gewesen, kommentiert die International Crisis Group: weil Sicherheitspolitik so viel wichtiger war als die Qualität des Regierens. Offenkundig ist nun, wie falsch ein War on Terror strukturiert ist, wenn er als militärischer Kampf um ein Territorium ausgetragen wird, während dessen Bewohner verzweifelt nach einem gerechten Staat rufen. Schon vor dem Putsch warnte ein Manifest malischer Intellektueller, die Bevölkerung fühle sich „verwaist“ – eine bemerkenswerte Formulierung angesichts von zigtausend ausländischen Paten, die Mali zu retten vorgeben.

Das Bedürfnis nach Staat zu missachten, hatte fatale Folgen. In Zentralmali, wo gegenwärtig die meisten Todesopfer zu verzeichnen sind, entwickelte sich ein dörflicher Dschihadismus weniger aus religiösen Motiven, sondern als Reaktion auf eine Verwaltung, die allein mit Willkür und Geldgier assoziiert wurde. Bewaffnete Hirten ersetzten die korrupten Richter durch islamistische Kadis. Den malischen Wunsch, mit den Anführern eines solchen einheimischen Dschihadismus in Verhandlung zu treten, blockierte Frankreich allerdings. Für dessen Spezialkräfte ist es zwar legitim, in Nordmali mit Separatisten und Schmugglern taktische Bündnisse einzugehen, aber sobald eine schwarze Fahne der Islamisten weht, heißt es: schießen, nicht reden. Wer als Terrorist gilt und liquidiert werden darf, definieren seit sieben Jahren nicht Malier, sondern Ausländer.[3]

Währenddessen wurden die Konflikte stets komplexer; längst sterben mehr Menschen durch Verteilungskämpfe zwischen ethnischen Gemeinschaften als durch Angriffe von Dschihadisten. Dabei wurden Letztere durch die Operation Barkhane nie dauerhaft geschwächt, nur in neue Räume abgedrängt. Nun ist auch das nördliche Burkina Faso destabilisiert, eine Million Menschen gelten dort als Binnenvertriebene.

Die Korruption der politischen Klasse in Bamako nährte die Unsicherheit in den nördlichen Landesteilen. Das zeigt folgendes Beispiel: Gleich nach dem Putsch verhafteten die Offiziere Malis Geheimdienstchef, General Moussa Diawara. Die UNO hatte ihn zuvor bezichtigt, er halte eine schützende Hand über die Drogengeschäfte einer bewaffneten Miliz nordmalischer Araber, wofür er von einem Parlamentsmitglied aus deren Community bezahlt wurde. Und damit nicht genug: Der Geheimdienstchef im Sold der Transsahara-Schmuggler war ein Freund des Präsidentensohns Karim Keïta, der wiederum die nationale Sicherheitspolitik verantwortete. Ein Video, das vor dem Umsturz kursierte, zeigt die beiden Schwergewichte auf einer Hochzeitsfeier: Karim Keïta verstreut ohne hinzusehen stapelweise frisch gedruckte 5000-Franc-Scheine – für viele Malier ein Wochenlohn, sie kriechen dafür zu Keïtas Füßen auf dem Boden. Wie in einem Brennglas illustriert die Szene den Zusammenhang von Korruption, organisiertem Verbrechen und Demütigung.

Die frankophone Elite behandelt den Zentralstaat wie ihr Eigentum. Dies ist nicht der einzige, aber ein wesentlicher Grund, warum die vor drei Jahrzehnten erkämpfte Demokratie so wenig substanziellen Fortschritt bewirkt hat: Die meisten Bürger blieben Statisten. Der Putsch hat nun die Suche nach einer besseren Demokratie mit Wucht erneut auf die Tagesordnung gesetzt. Sie muss inklusiv sein: für ein Land mit 30 Ethnien und zwölf einheimischen Sprachen, in dem nur ein Viertel die Amtssprache Französisch spricht und mehr als die Hälfte Analphabeten sind.

„Wir müssen unsere Demokratie so überarbeiten, dass sie den Erwartungen des Volkes entspricht“, erklärte Junta-Sprecher Ismaël Wagué. Nach den Vorstellungen der M5-Opposition heißt dies beispielsweise: eine neue Verfassung mit mehr Macht für das Parlament und weniger für den Präsidenten; den Staatshaushalt gerechter verteilen, die Hundertschaft politischer Parteien von den Fleischtöpfen vertreiben. Junge Aktivisten möchten gleich die ganze politische Klasse aufs Altenteil schicken, verlangen eine „Tiefenreinigung“ im Staat.

Große Beratungskonferenzen begannen, doch standen sie gleich unter Einfluss von außen: Die Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft (Cedeao) verlangte unter Androhung von Sanktionen, in spätestens einem Jahr Wahlen anzusetzen – eine Frist, die vielen Maliern, aber auch auswärtigen Experten als zu kurz erscheint. Die Cedeao will – auch im Auftrag der internationalen Gemeinschaft – die Macht der Putschisten einhegen, besitzt aber selbst in Punkto Demokratie wenig Glaubwürdigkeit. Zwei CedeaoGrößen, der ivorische und der guineische Staatschef, stellen sich in diesem Oktober für eine dritte Amtszeit zur Wahl, verfassungswidrig, gegen große Protestbewegungen. Dass solche Staatsführer Mali Vorschriften machen wollen, hat die Popularität der Junta im Inland eher vergrößert. Am Ende einigten sich Junta und Vertreter zivilgesellschaftlicher und politischer Gruppen auf eine 18monatige Übergangsperiode, die der frühere malische Verteidigungsminister Bah N‘Daou anführt.

Frankreich, in Mali die einflussreichste externe Kraft, hat den größten Ansehensverlust zu verzeichnen. Seine Bündnispolitik mit den Tuareg-Rebellen machen viele Malier dafür verantwortlich, dass die nördliche Region Kidal seit 2013 eine Enklave ist, deren Verbindung zum übrigen Staat allein durch die UN-Mission aufrechterhalten wird. Beharrlich hält sich der Verdacht, Paris wolle sich so den Zugriff auf Rohstoffe in der Sahara sichern. Auch ist die Frankreichkritik westafrikanischer Intellektueller, die sich unter anderem am quasi-kolonialen Zuschnitt der Franc-CFA-Währungspolitik festmacht, mittlerweile bei der Jugend auf der Straße angekommen. Auf Kundgebungen in Bamako sind russische Fahnen zu sehen – die Ablehnung Frankreichs flankiert eine Art Trotzliebe zu Russland.

Doch Paris macht wenig Anstalten, seine Rolle zu reflektieren. Über den gestürzten Präsidenten hieß es flugs, man habe ihn ja immer schon kritisiert. Und die Spezialkräfte machen weiter, als habe es keinen Putsch gegeben. Das scheint auch die Linie anderer zu werden. Die militärische Ausbildungsmission der EU wurde vorerst ausgesetzt, doch ihre 400 Trainer, darunter 75 deutsche, bleiben im Land, desgleichen die Bundeswehrsoldaten bei der UN. Endet Malis Aufbruch schon bald in einer erstickenden Umarmung?

Eine wirkliche Chance für einen Neubeginn hat das Land nur, wenn es auch bei den ausländischen Akteuren kein Weiter-so gibt. Was die Offiziere der Junta selbst nicht anrühren wollen, muss gleichfalls auf den Prüfstand: der Zuschnitt von Minusma, die Anti-Terror-Strategie von Barkhane, die Struktur der Entwicklungshilfe. Vor allem aber ist Zurückhaltung gefragt. Mali braucht Zeit – jeder Zeitdruck führt nur zurück zum schlechten Alten: Und dessen Repräsentanten stehen schon hinter den Kulissen bereit.

[1] M für Mouvement (Bewegung), die 5 das Datum einer Kundgebung, RFP für Rassemblement des Forces Patriotiques (Sammlung der patriotischen Kräfte).

[2] Charlotte Wiedemann, Mali am Abgrund: Fünf Jahre Militärintervention, in: „Blätter“, 5/2018, S. 64-70.

[3] Vgl. Charlotte Wiedemann, Mit Dschihadisten verhandeln?, www.monde-diplomatique.de, 12.4.2018.

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