
Bild: Armin Laschet (CDU) und Annalena Baerbock (Bündnis 90 / Die Grünen), IMAGO / Sven Simon
Wir erleben dieser Tage eine absurde Verkehrung der politischen Verhältnisse: Während die Doppelspitze der einst basisdemokratischen Grünen einträchtig „im Hinterzimmer“ über die erste Kanzlerkandidatur in ihrer Parteigeschichte entscheidet, rebelliert die Basis der staatstragenden CDU, angetrieben vom Volkstribun Markus Söder, gegen die eigenen Parteigremien. Damit werden die vergangenen Wochen als Zäsur in die Geschichte der Republik eingehen. Die einstige grüne Chaospartei gehört, was die Machtfrage anbelangt, der Vergangenheit an, während der vormalige Kanzlerwahlverein der Union sich durch praktizierte „Basisdemokratie“ regelrecht selbst demontiert hat.
Doch um Basisdemokratie handelt es sich dabei nur scheinbar. Denn diese kannte bei den Ur-Grünen, bei aller Chaotik der Parteitage, immer auch mehr oder weniger geregelte Verfahren. Was dagegen soeben bei der CDU geschehen ist, war der Versuch der Basis, angestiftet durch den populistisch agierenden Strategen Söder, ein neues plebiszitäres Moment gegen die eigene Parteiführung durchzusetzen – was wiederum mit einem brutalen Gegenschlag seitens der CDU-Spitze beantwortet wurde. „Es gibt ein Projekt Kanzlerkandidat gegen die eigene Parteibasis. Das hat es noch nie gegeben“, bringt die Bundestagsabgeordnete Elisabeth Motschmann das folgenschwere CDU-Desaster infolge der Nominierung Armin Laschets auf den Punkt.
In dieser totalen Chaotik liegt auch der eklatante Unterschied zu den oft als Vergleich bemühten Ereignissen von 1979. Damals rebellierte die CSU, übrigens weit über ein Jahr und nicht nur fünf Monate vor der nächsten Bundestagswahl, gegen den von der CDU als Spitzenkandidaten aufgebotenen niedersächsischen Ministerpräsidenten Ernst Albrecht, den Vater Ursula von der Leyens. Doch damals konnte man sich in den Parteivorständen auf ein gemeinsames Verfahren einigen, nämlich auf eine Abstimmung in der Bundestagsfraktion, in der sich am Ende der CSU-Vorsitzende Franz Josef Strauß bei den Abgeordneten von CDU und CSU durchsetzte.
Diesmal gab es ein solches geordnetes Verfahren gerade nicht. Denn bis heute – und hier liegt der Ursprung des Debakels – hat die Union keinen bindenden Modus entwickelt, ihren Kanzlerkandidaten zu bestimmen, falls CDU und CSU sich nicht auf eine Person einigen können. Dieses Versagen ist umso erstaunlicher, als es schon dreimal in der Geschichte beider Parteien – vor den Wahlen 1976, 1980 und 2002 – zu erbittertem Streit über die Spitzenkandidatur gekommen ist, also stets dann, wenn die Union nicht den Titelverteidiger stellte, sondern aus der Opposition heraus einen Kandidaten aufbieten musste. Durch den von Angela Merkel geschaffenen Präzedenzfall, ihren Verzicht auf die Titelverteidigung, war nun erneut eine ungeklärte Spitzenkandidatur gegeben. Dem folgte eine bei der einstigen Machtmaschine CDU/CSU eigentlich unvorstellbare Selbstdemontage der vermeintlichen „Union“ – und zugleich ein einzigartiges Lehrstück über Partei- und persönliche Egoismen, das tiefe Spuren in der deutschen Demokratie hinterlassen wird.
Der Clash der Egomanen
Mit Laschet und Söder prallten zwei konträre Egoismen schroff aufeinander. Erstens der vermeintlich angestammte Führungsanspruch der stärkeren Schwesterpartei CDU und vor allem der Machtegoismus des nordrheinwestfälischen Ministerpräsidenten, der sich als CDU-Parteivorsitzender qua Amt zum Kanzlerkandidaten berufen wähnt und zugleich wusste, dass er sich kaum an der Parteispitze würde halten können, wenn er nicht zu diesem gekürt würde.
Zweitens aber auch Söders Egoismus, der seinen Anspruch auf seine überragenden Umfragewerte stützte und zu dessen Durchsetzung auch die Desavouierung der CDU-Spitzengremien in Kauf nahm. Indem Söder das erste, einstimmige Votum von CDU-Vorstand und -Präsidium nicht anerkannte, unter Berufung auf die von ihm geforderte „Breite“ der Zustimmung, demonstrierte er: Der angeblich neue Söder ist noch immer der alte, der um der Macht und Durchsetzung der eigenen Ziele willen auch die Demolierung der Schwesterpartei bereitwillig in Kauf nimmt.
Der „Guerillakrieger“ Söder verfuhr dabei wie immer in seiner Karriere. In dieser musste er sich stets gegen das Establishment durchsetzen,[1] was er mit dem immer gleichen Mittel tat, dem „Reinhorchen in die Basis“. Zu diesem Zweck betitelte Söder nun die CDU-Gremien in populistischer Manier als bloße „Hinterzimmer“, um sich doch auch die eigene Unterstützung aus seinem „Hinterzimmer“, dem CSU-Vorstand, einzuholen. Zugleich mobilisierte er die Angst der CDU-Bundestagsabgeordneten vor dem Mandatsverlust. Das bescherte Söder zweierlei – ungeheure Zustimmung an der CDU-Basis und radikale Ablehnung durch deren Parteiführung. In gewisser Weise erntete Söder damit das, was der Populist Friedrich Merz gesät hatte, der zweimal als „Mann der Basis“ am „Establishment“ der CDU gescheitert war. Nun agierte der CSU-Mann Söder als die „Stimme des Volkes“ gegen die CDU-Spitze.
All das hat erhebliche Folgen für unser repräsentatives System. Denn bei seinem Agieren beruft sich der „Franken-Machiavelli“ („Tagesspiegel“) auf eine angeblich „moderne Form der Demokratie“, die nicht mehr altmodisch auf die Entscheidung der Gremien schaut, sondern allein auf die Stimmung beim eigentlichen Souverän – dem Volk und, davon abgeleitet, der Parteibasis. Zur entscheidenden Größe werden damit die Umfragewerte der Demoskopen. In gewisser Weise stellt Söder damit das Verhältnis von Partei und Volk auf den Kopf. In Artikel 21 Grundgesetz heißt es: „Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit“ – „indem sie insbesondere auf die Gestaltung der öffentlichen Meinung Einfluss nehmen [...] und für eine ständige lebendige Verbindung zwischen dem Volk und den Staatsorganen sorgen“, wird dieses Prinzip in Paragraph 1 Parteiengesetz konkretisiert. Das heißt, es gibt durchaus ein gewisses Sender-Empfänger-Verhältnis, das von den Parteien zum Volke geht. Zum Zwecke der Meinungsbildung und Überzeugung legen die Parteien daher ja auch laut Parteiengesetz „ihre Ziele in politischen Programmen nieder“ und nicht nur die dem Volk abgelauschten.
Hinter Söders Prinzip der „modernen Demokratie“, man könnte sie auch Demoskopie-Demokratie nennen, steht dagegen die Idee einer direkteren Demokratie: Der populistisch agierende Volkstribun artikuliert hier direkt den Willen des Volkes, notfalls eben auch gegen die Gremien und ihre Verfahren.
Allerdings kommt etwas Entscheidendes hinzu: Söder hätte für seine Attacke gegen das „Hinterzimmer“ niemals so viel Zustimmung erfahren, wenn nicht im Elfenbeinturm der CDU-Gremien eine enorme Realitätsverleugnung herrschte. Ungeachtet der miserablen Zustimmungswerte für Laschet, die schon lange weit mehr als eine bloße Momentaufnahme sind, hielt die CDU-Spitze unbeirrbar an ihrem Kandidaten fest. Das gipfelte in Laschets Ausspruch „Die großen Kanzler waren nicht immer die Lieblinge der Medien“, was völlig die Tatsache verkennt, dass die großen Kanzler der CDU wie der SPD Ergebnisse von über vierzig Prozent erzielten – eine Marke, von der die Laschet-CDU nur träumen kann.
Der Aufstand der CDU-Basis
Diese Ignoranz hatte einen Sturm der Empörung seitens der CDU-Basis zur Folge – gegen Laschet und für Söder. Als jedoch viele annahmen, Söder werde nun, da er die CDU-Gremien fast sturmreif geschossen hatte, seinen letzten Trumpf ausspielen und – dem Strauß-Vorbild von 1979 folgend – eine Kampfabstimmung in der Bundestagfraktion herbeiführen, spielte der Franke in einem letzten Coup den Ball zurück in die Reihen der CDU: Mit einer Rhetorik der Demut, aber angeblich unter der Androhung des CDU-Vorsitzenden, ihn als CDU im Wahlkampf nicht zu unterstützen, unterwarf er sich ein zweites Mal dem Votum der CDU-Gremien – allerdings in der Hoffnung darauf, dass der Aufstand der CDU-Basis nun in der entscheidenden Sitzung des CDU-Vorstands Folgen zeitigen würde.
Und Söder kalkulierte durchaus richtig: In dieser tatsächlich historischen Sitzung am Abend des 19. April kam es zu einer massiven Absetzbewegung von Laschet, von den meisten Ländervorsitzenden über die Ministerpräsidenten bis hin zu Wirtschaftsminister Peter Altmaier, der regelmäßig als Sprachrohr der Kanzlerin agiert. Mit dem Satz „lieber einen Kanzler der CSU als der Grünen“, war es der saarländische Ministerpräsident Tobias Hans, der die grassierende Angst vor dem Machtverlust durch einen Kandidaten Laschet auf den Punkt brachte.
Eigentlich war damit der Kipppunkt erreicht, an dem man das klare Votum der Basis hätte akzeptieren müssen. Doch anstatt einzulenken, betrieb der Parteivorsitzende, unterstützt durch Wolfgang Schäuble, eine Abstimmung über seine Kanzlerkandidatur, die er letztlich mit zwei Dritteln der Stimmen gewann – wohlgemerkt in einem Gremium, das sich dem eigenen Parteivorsitzenden zu höchster Loyalität verpflichtet weiß. Der Aufstand von unten wurde so mit einem Oktroi beantwortet: Dem Plebiszit gegen die Parteispitze folgte der Putsch von oben gegen die eigene Basis.
Am Ende dieses historischen Schauspiels liegen zwei Geschlagene auf der Lichtung. Denn beide Protagonisten sind letztlich gescheitert. Söder musste sich dem schwächeren Konkurrenten beugen. Dabei hatte er in der Sache völlig Recht: „Die Union braucht die beste Aufstellung, nicht die angenehmste“ und „Personen entscheiden die Wahlen“ – jedenfalls weit mehr als früher, zu Zeiten stärkerer Parteibindung. Allerdings wurde Söder selbst – und das ist die eigentliche Ironie der Geschichte – zum Opfer seiner populistischen Überrumpelungsstrategie. Hätte er weit früher seinen Hut mutig in den Ring geworfen und seinen Willen bekundet, den Weg zur Kanzlerkandidatur über die Parteibasis gehen zu wollen, ohne die CDU-Spitze derart zu düpieren, dann hätte ihn der CDU-Vorstand schwerlich aushebeln können. Damit ist Söder – diesmal jedenfalls noch – an den geordneten Verfahren der Parteiendemokratie gescheitert. Laschet dagegen hat sich zwar als Kanzlerkandidat durchgesetzt, zieht aber nun schwer angeschlagen in den Wahlkampf. Er wurde in der Debatte im eigenen Parteivorstand gewogen und für die Kanzlerschaft als zu leicht befunden. Damit rächt sich auch, dass die Kanzlerin einen starken Nachfolger in der CDU nie aufgebaut, sondern immer nur verhindert hat. Heute ereilt die CDU zum dritten Mal das fast schon traditionelle Elend nach jeder langen Kanzlerschaft. Ob nach Adenauer, Kohl oder Merkel: Was übrigbleibt, ist ein entkernter Kanzlerwahlverein, der lediglich den Erhalt der Regierungsmacht garantieren soll – und nun sogar daran scheitert. CSU-Chef Söder hätte das Autoritäts- und Führungsvakuum der CDU füllen können, zum Nutzen der Union. Seine Niederlage wird jetzt von Teilen seiner Anhängerschaft mit dem Austritt aus der CDU oder Wahlkampfverweigerung beantwortet werden, zum Nachteil der Union. Sie hat durch parteitaktischen Egoismus und strategisches Unvermögen ihre Chance verspielt, mit einem starken Kandidaten ein Ergebnis deutlich über 30 Prozent zu erzielen.
All das sind natürlich enorme Chancen für die Grünen und Annalena Baerbock, schon mit der ersten Kanzlerkandidatur zur stärksten Partei aufzusteigen. Erste Umfragen deuten jedenfalls bereits darauf hin, dass die Union dramatisch abstürzen wird.[2]
Die eigentlichen Nutznießer dieses beispiellosen Versagens, und das ist das Fatale dieses Vorgangs, dürften aber weniger die Grünen als vielmehr die Parteien rechts der Union sein. Gegen einen Kandidaten Laschet können AfD und FDP mit starken Ergebnissen rechnen, während ein Kandidat Söder speziell der AfD erhebliche Verluste hätte beibringen können. Die erste Konsequenz der Laschet-Kandidatur werden wir wohl schon am 6. Juni mit der Wahl in Sachsen-Anhalt erleben, wo eine ohnehin schwache CDU nun einen Wahlkampf gegen eine triumphierende AfD wird führen müssen.
Mit einem Spitzenkandidaten Söder hätte die Chance bestanden, die autoritären Bedürfnisse, die offensichtlich in erheblichen Teilen der Bevölkerung herrschen, wieder in die Union zurückzuführen. Der CSU-Chef wäre weit stärker in der Lage gewesen, die Stimmen der rechten Wutbürger wieder in Richtung der Volksparteien zu kanalisieren. Insofern hätte Söders populistischer Aufschlag gegen die demokratischen Gremien und Verfahren, so er sich damit tatsächlich durchgesetzt hätte, die repräsentative Demokratie am Ende in dialektischer Weise wohl wieder gestärkt. So aber ist genau das Gegenteil eingetreten: Die Ignoranz des Laschet-Flügels hat die Vorbehalte gegen Gremien und Parteien massiv vergrößert und damit auch die Chancen der Rechtspopulisten auf Zugewinne bei den kommenden Wahlen.
Insofern greift es viel zu kurz, in der Schwäche der Union allein eine Chance für die Grünen und die von Baerbock postulierte „Erneuerung“ des Landes zu sehen. Denn vermutlich hätte eine starke schwarz-grüne Koalition, angeführt von Söder und Baerbock, die größte Schlag- und Integrationskraft entfalten können, um tatsächlich ökologische Reformen in diesem Lande durchzusetzen. Im besten Falle dreht sich dieses Verhältnis mit dem Kandidaten Laschet nun schlicht um, zu Grün-Schwarz. Einiges spricht jedoch dafür, dass sich ein Sieg der Grünen über CDU/CSU letztlich als ein Pyrrhussieg erweisen könnte. Denn eine zu schwache Union könnte eine Dreierkonstellation unter Beteiligung der FDP erforderlich machen. Und eine derartige Blockade-Koalition verheißt, egal ob als schwarze oder als rote Ampel, alles andere als ökologischen Fortschritt – selbst unter einer grünen Kanzlerin.
[1] Abgesehen von einer Ausnahme, der Berufung zum Generalsekretär durch Edmund Stoiber, vgl. auch Roman Deininger und Uwe Ritzer, Markus Söder. Der Schattenkanzler, München 2020, S. 56.
[2] Vgl. Forsa sieht Grüne bei 28 Prozent – Union stürzt auf 21 ab, www.welt.de, 20.4.2021.