
Bild: Eine Frau watet mit ihren Habseligkeiten durch das Hochwasser im Bezirk Rajanpur in der pakistanischen Provinz Punjab, 28.8.2022 (IMAGO/Xinhua)
Ein Klima-Gemetzel dieses Ausmaßes habe ich noch nicht gesehen.“ Mit diesen Worten warb der sichtlich schockierte UN-Generalsekretär Antonio Guterres bei seinem Besuch in Pakistan Mitte September um internationale Unterstützung für das südasiatische Land, in dem der seit Juni andauernde extreme Monsunregen verheerende Schäden angerichtet hat. Auch wenn das wahre Ausmaß der Katastrophe erst in einigen Wochen bekannt sein dürfte, sind die vorläufigen Zahlen dramatisch. Rund ein Drittel des Landes steht nach Angaben der pakistanischen Katastrophenschutzbehörde seit Wochen unter Wasser. Satellitenbilder zeigen einen gigantischen Binnensee, der sich infolge der Überflutungen im Süden Pakistans gebildet hat und dessen Pegel nur langsam sinkt. Mehr als 1400 Menschen sind bislang in den Fluten gestorben. 17 Millionen Häuser wurden zerstört und mindestens 35 Millionen der 230 Millionen Einwohner Pakistans sind direkt betroffen. Viele von ihnen harren auch Tage und Wochen, nachdem sie Häuser, Felder, Vieh – und damit ihre Lebensgrundlage – in den Wassermassen verloren haben, unter freiem Himmel aus.
Es droht eine humanitäre Katastrophe, denn die am schwersten betroffenen Gebiete, vor allem in der Provinz Sindh, sind kaum zugänglich. Die Hilfe, die im Land ist, kommt daher nur langsam an den Orten an, wo sie am dringendsten benötigt wird. In den Flutgebieten bilden sich unterdessen Mückenschwärme, die gefährliche Infektionskrankheiten übertragen. Und das zum Teil stark verschmutzte Wasser stellt eine zusätzliche Gesundheitsgefährdung dar. Es fehlt an Medikamenten, Strom und Nahrungsmitteln. Mittelfristig droht Pakistan zudem eine soziale und wirtschaftliche Katastrophe. Denn in Sindh werden rund ein Drittel der pakistanischen Lebensmittel produziert. Bereits jetzt sind die Preise für diese landesweit stark gestiegen, worunter vor allem die ärmere Bevölkerung in den großen Städten leidet. Sollte das Wasser nicht bis zur wichtigen Herbstaussaat von Weizen abgeflossen sein, wäre gar die Ernährungssicherheit des Landes bedroht. Daneben ist Beobachtern zufolge rund die Hälfte der Baumwollernte in diesem Jahr den Fluten zum Opfer gefallen, wodurch die Arbeitsplätze von Hunderttausenden bereits an der Armutsgrenze lebenden Textilarbeitern bedroht sind. Pakistan zählt zu den größten Baumwollproduzenten der Welt; vor allem die Textilexporte nach Europa sind für das Land eine unverzichtbare Einnahmequelle. Und auch der Verlust von mehr als einer Million Stück Vieh wiegt für zahllose Kleinbauern und Familien schwer. Eine große Herausforderung für den Wiederaufbau ist zudem die Zerstörung von rund 12 000 Kilometern Straße und 390 Brücken, vor allem in den Provinzen Sindh, Khyber Pakhtunkhwa und Belutschistan.
Die Katastrophe hätte für Pakistan zu keinem schlechteren Zeitpunkt kommen können. Der im Frühjahr abgesetzte Premierminister Imran Khan und sein Nachfolger Shehbaz Sharif liegen im Dauerclinch. Im November steht turnusgemäß die Ernennung des nächsten Chefs der politisch äußerst einflussreichen pakistanischen Armee an. Die innenpolitische Stimmung ist aufgeheizt, und alle Seiten versuchen, die Flut und ihre Folgen für ihren eigenen kurzfristigen Vorteil zu nutzen. Anstatt die ethnisch und religiös vielfältige Gesellschaft in der Not zu einen, bestimmen Populismus und schmutzige Tricks in einem nicht enden wollenden Machtkampf die Politik. Das ist Gift für die Entwicklung eines Landes, dessen Wirtschaft bereits vor der Flut in einem schlechten Zustand war. Die doppelte Belastung infolge der Corona-Pandemie und der Auswirkungen des Ukraine-Krieges haben in Pakistan zu einer anhaltend hohen Inflation und einem Verfall der Landeswährung geführt. Steigende Energie- und Nahrungsmittelpreise waren so schon vor der Flutkatastrophe für viele Familien zu einer großen Belastung geworden.
Um den notorisch klammen Staatshaushalt zu sanieren, vereinbarte Pakistan bereits 2019 mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) ein sechs Mrd. Dollar schweres Rettungsprogramm – das 21. seit Pakistans Unabhängigkeit vor 75 Jahren –, das tiefgreifende soziale Einschnitte vorsieht. Weil die Regierung Imran Khans Auflagen des Programms verletzte, wurde es Anfang des Jahres ausgesetzt und konnte erst vor kurzem nach zähen Verhandlungen wieder aufgenommen werden.
Doch die IWF-Milliarden werden kaum ausreichen, um die Flutschäden abzudecken. Die Regierung geht von mindestens 30 Mrd. Dollar aus, die für den Wiederaufbau benötigt werden. Woher das Geld dafür kommen wird, ist derzeit völlig unklar. Denn auch die nun anlaufende internationale Hilfe für Pakistan, darunter bislang knapp 25 Mio. Euro aus Deutschland, ist angesichts des Ausmaßes der Katastrophe kaum mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein. Und Geld allein wird Pakistans Zukunft nicht sichern. Denn unter Klimaforschern herrscht die traurige Gewissheit, dass Pakistan zu den am stärksten vom Klimawandel betroffenen Ländern zählt. Der jüngste Klima-Risiko-Index von Germanwatch sieht Pakistan weltweit an achter Stelle. Zu den Folgen des Klimawandels in Pakistan gehören neben extremem Regen und Überflutungen auch Hitzewellen und Dürreperioden. Diese Entwicklungen können sich gegenseitig verstärken, wenn etwa Hitzewellen zu Gletscherschmelzen und Sturzfluten führen, die auf einen ausgetrockneten Boden treffen. Laut dem IPCC-Bericht 2021 ist die Wahrscheinlichkeit eines extremen Niederschlagsereignisses in Pakistan mittlerweile 1,3-mal höher und dabei 6,7 Prozent intensiver als im Jahr 1900. Sollte die durchschnittliche globale Temperatur um vier Grad ansteigen, werden solche Ereignisse mit einer 2,7-mal höheren Wahrscheinlichkeit und einer zusätzlichen Intensität von 30,2 Prozent eintreten. Kurzum: Durch den Klimawandel bedingte oder verstärkte Naturkatastrophen werden in Pakistan häufiger auftreten und schlimmer ausfallen.
Der Klimawandel als Bedrohungsmultiplikator
Dabei wirkt der Klimawandel in Pakistan wie ein Bedrohungsmultiplikator. Bestehende soziale und wirtschaftliche Probleme des Landes werden durch den Klimawandel zusätzlich verschärft. Wenn etwa Dürren und Überschwemmungen zu Nahrungsmittel- und Wasserunsicherheit führen, steigt in der Folge die Armut. Soziale Spannungen zwischen einer quasi-feudalen Elite von Großgrundbesitzern und ausgebeuteten Landarbeitern werden dann ebenso zunehmen wie Landflucht und ethnisch-religiöse Konflikte in den Städten. Die ökologischen Veränderungen infolge des Klimawandels verschärfen bereits jetzt existierende gesellschaftliche Konflikte, die wiederum zu einer ernsthaften Gefahr für die politische Stabilität und Demokratie des Landes werden können.
Die neue Normalität einer Welt im Zeichen des Klimawandels hat in Pakistan somit bereits begonnen und sie verlangt, den Blick von einer Bekämpfung der Ursachen des Klimawandels auf eine Bewältigung seiner Folgen zu richten. Dies kann nur durch einen ganzheitlichen Ansatz des Katastrophenmanagements gelingen, dessen Grundlage die Erkenntnis ist, dass extreme Wetterphänomene zu einem regelmäßig wiederkehrenden Ereignis geworden sind. Es braucht daher einen gesamtgesellschaftlichen Konsens über die Bedeutung der daraus folgenden Aufgaben sowie ein aufeinander abgestimmtes Handeln aller staatlichen Ebenen, um das bestehende Durcheinander an Zuständigkeiten zu überwinden.
Bislang hat Pakistan hierbei wenig vorzuweisen. Die diesjährigen Fluten sind nicht das erste Extremwetterereignis in der jüngeren Vergangenheit. Seit den schweren Fluten von 2010 hat es immer wieder, allerdings meist regional beschränkte Katastrophen gegeben. Die Flut von 2022 ist jedoch die erste schwere Naturkatastrophe in Pakistan, die sich in Echtzeit in den sozialen Medien abspielt. Twitter und Facebook sind voll mit dramatischen Videoaufnahmen von einstürzenden Gebäuden, Straßenzügen, die einfach weggeschwemmt werden, und dazwischen immer wieder Menschen, die verzweifelt um ihr Leben kämpfen. Das verstärkt die politische Wirkung der Katastrophe und lässt in der Bevölkerung die Wut auf die politischen Entscheidungsträger und staatlichen Organe wachsen, die anscheinend wenig aus den vergangenen Desastern gelernt haben. Die Behörden, von der Kommune bis zur Bundesregierung in Islamabad, sind im Angesicht der aktuellen Katastrophe erschreckend überfordert. So wurden Wetterwarnungen ignoriert und keine ausreichenden Vorbereitungen für den Ernstfall getroffen. Die Aussichten auf eine Aufarbeitung dieser Versäumnisse sind schlecht, denn bislang überziehen sich die erst seit April amtierende Regierung und die bis dahin regierende Opposition mit Vorwürfen. Es entsteht der Eindruck, dass Politiker mehr auf Inszenierung und Imagepflege in sozialen Medien setzen denn auf tatkräftige Hilfe. In der aktuellen Katastrophe sind es daher vor allem die zahllosen freiwilligen Helfer vor Ort, zivilgesellschaftliche Organisationen und die große Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung, die die Not zumindest einiger Betroffener lindern. Diesen Bemühungen mangelt es jedoch an Koordination.
Anpassung an die neue Normalität
Wenn das Wasser wieder abgeflossen ist, sollte es nicht nur um zurückliegende Versäumnisse gehen, sondern vor allem um die weit dringendere Aufgabe: eine möglichst rasche Anpassung an den Klimawandel. Experten schlagen schon seit längerem konkrete Projekte vor, die nun schnellstmöglich angegangen werden müssen. Das betrifft an erster Stelle die Wiederaufforstung und Einrichtung von Überschwemmungsgebieten im Bereich des Indus und seiner Zuflüsse. Perspektivisch müssen bei der Raumplanung in der Nähe von Gewässern die Fehler der Vergangenheit korrigiert werden. Vielerorts wog man sich in falscher Sicherheit, als trotz der Zunahme lokaler Extremwetterereignisse die Niederschlagsmenge insgesamt abgenommen hatte und sich in der Nähe von Gewässern attraktive Flächen für Landwirtschaft, Tourismus und Wohngebiete darboten. Viele dieser Flächen sind heute überflutet und die riskante Bebauung von Überschwemmungsflächen gilt als einer der Hauptgründe für die verheerenden Auswirkungen der Flut.
Beim Wiederaufbau der zerstörten Gebiete ebenso wie bei neuen Bau- und Infrastrukturvorhaben gilt es daher, extreme Wetterereignisse von Anfang an mitzubedenken. Bereits begonnene oder geplante Bauprojekte in potenziellen Überschwemmungsgebieten müssen umgehend gestoppt werden. In den besonders schwer betroffenen Regionen entlang des Indus sowie der Provinzen Sindh und Belutschistan müssen in besiedelten und landwirtschaftlich genutzten Gebieten zusätzliche Deiche und Abflusskanäle gebaut werden, um die Wassermengen bei Überflutungen kontrollieren zu können. Großer Handlungsbedarf besteht auch in der Landwirtschaft. Die Anpassung an den Klimawandel bedeutet hier, landwirtschaftliche Produktion aus Überflutungsgebieten zu verlagern und zu modernisieren. Durch den verstärkten Einsatz moderner technischer Hilfsmittel und eine bessere soziale Absicherung von oft ausgebeuteten Landarbeitern können klimabedingte Ernteausfälle und Armut zumindest teilweise kompensiert werden. Voraussetzung für solche und eine Vielzahl weiterer notwendiger Maßnahmen sind eine Stärkung der schwachen Verwaltungsstrukturen vor Ort, das konsequente Vorgehen gegen die weit verbreitete Korruption und vor allem eine frühzeitige und weitreichende Einbindung der lokalen Bevölkerung. Hierbei ist die politische und wirtschaftliche Elite des Landes gefordert, die eigenen wirtschaftlichen Interessen notfalls hintanzustellen. Es gilt, Interessenkonflikte in zentralen Fragen wie Wassermanagement, Hochwasserschutz und Arbeitsbedingungen zugunsten der lokalen Bevölkerung zu lösen – kein einfaches Unterfangen in einem Land, in dem politische Macht oft eng verwoben ist mit Großgrundbesitz.
Wie das gelingen kann, zeigt ein Pilotprojekt der National University of Sciences and Technology in Gilgit-Baltistan. Dort arbeiten Wissenschaft, Behörden und lokale Gemeinden gemeinsam an Lösungen, um die Schäden der durch den Klimawandel bedingten beschleunigten Gletscherschmelze samt Sturzfluten zu reduzieren. Pakistan verfügt in seinen nördlichen Bergregionen über mehr als 7200 Gletscher, deren Schmelze zunehmend tiefer gelegene Siedlungen bedroht. Das Projekt soll auf der Grundlage von wissenschaftlichen Modellierungen die Bebauung an die Risiken anpassen. Weil die Betroffenen von Anfang an in die Entscheidungen eingebunden werden, erhofft man sich, dass am Ende auch für die Einzelnen teilweise einschneidende Veränderungen akzeptiert werden. Im größeren Maßstab bedeutet dies, dass Staat und Gesellschaft auch in Zeiten ohne Extremwetter gemeinsam an der Anpassung an den Klimawandel arbeiten müssen. Um eine umfassende Strategie zur Bewältigung der Folgen des Klimawandels in Pakistan zu entwickeln, braucht es daher ein aufeinander abgestimmtes Vorgehen von Bundes- und Provinzregierungen, internationalen Organisationen, Experten und der Zivilgesellschaft vor Ort.
Auf internationaler Ebene haben die Fluten in Pakistan die Dringlichkeit der Frage globaler Klimagerechtigkeit noch einmal unterstrichen. Denn es sind besonders die Länder des Globalen Südens, die schon jetzt unter einem Klimawandel leiden, den sie nicht herbeigeführt haben. Pakistan hat weniger als ein Prozent zu den globalen CO2-Emissionen beigesteuert. Und so fordern pakistanische Politiker zu Recht mehr Unterstützung vor allem aus dem Westen. Dabei sollte der Fokus nicht nur auf der dringend benötigten kurzfristigen Katastrophenhilfe liegen. Mindestens ebenso wichtig sind langfristige Investitionen in öffentliche Infrastruktur, Verwaltung, Gesundheitswesen, soziale Sicherung und das Bildungssystem. Denn eine erfolgreiche Anpassung an die neue Klimarealität gelingt nur dann, wenn die Folgen des Klimawandels nicht auf eine Umweltkrise reduziert, sondern als umfassende Krise der Ernährung, Gesundheit, Entwicklung und Flucht angegangen werden.