Ausgabe März 2023

Kapitalismus als Kannibalismus

Die multidimensionale Krise und der Sozialismus des 21. Jahrhunderts

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Bild: IMAGO / Panthermedia

Seit dem Ende der Systemkonkurrenz, dem Untergang des realexistierenden Sozialismus, gibt es auf der Welt nur noch ein herrschendes System, wenn auch in durchaus unterschiedlicher Ausprägung, nämlich den Kapitalismus. Da aber die globalen Krisen nicht ab-, sondern zunehmen und sich wechselseitig verstärken, stellt sich eine entscheidende Frage: Was stimmt nicht mit dem Kapitalismus? Kritiker, die den Kapitalismus aus einem eher eng gefassten Blickwinkel, als bloße Wirtschaftsform, betrachten, erkennen an ihm drei wesentliche Fehler: Ungerechtigkeit, Irrationalität und Unfreiheit.

Erstens sehen sie die zentrale Ungerechtigkeit des Systems in der Ausbeutung der Klasse der freien, eigentumslosen Arbeiter durch das Kapital. Letztere arbeiten viele Stunden umsonst und produzieren enormen Reichtum, an dem sie keinen Anteil haben. Der Nutzen fließt vielmehr der Kapitalistenklasse zu, die sich die überschüssige Arbeit und den dadurch erzeugten Mehrwert aneignet und letzteren für ihren eigenen, vom System diktierten Zweck reinvestiert – nämlich um immer mehr davon zu akkumulieren. Die noch schwererwiegendere Folge ist das unerbittliche exponenzielle Wachstum des Kapitals als feindselige Macht, die genau die Arbeiter beherrscht, die es produzieren. Schauplatz dieser Ausbeutung ist die Sphäre der Produktion.

Zweitens besteht nach dieser Sichtweise eine der entscheidenden Irrationalitäten des Kapitalismus in seiner eingebauten Tendenz zu wirtschaftlichen Krisen. Ein Wirtschaftssystem, das auf die unbegrenzte Akkumulation von Mehrwert ausgerichtet ist, der von profitorientierten Unternehmen privat angeeignet wird, ist von Natur aus selbstdestabilisierend. Das Streben nach Kapitalvermehrung durch Produktivitätssteigerung mittels technischen Fortschritts führt immer wieder zu einem Fall der Profitrate, zur Überproduktion von Waren und zur Überakkumulation von Kapital. Reparaturversuche wie die Finanzialisierung schieben den Tag der Abrechnung nur hinaus und sorgen dafür, dass er umso schlimmer ausfällt, wenn er denn kommt. Im Allgemeinen wird der Verlauf der kapitalistischen Entwicklung von periodischen Wirtschaftskrisen unterbrochen: von Boom-Bust-Zyklen, Börsencrashs, Finanzpaniken, Pleitewellen, massiver Wertvernichtung und Massenarbeitslosigkeit.

Und schließlich drittens besagt die eher enge Sichtweise, dass der Kapitalismus zutiefst unfrei und damit konstitutiv undemokratisch ist. Zugegeben, er verspricht oftmals – gerade in seiner europäischen Ausprägung – Demokratie im politischen Bereich. Dieses Versprechen wird jedoch systematisch im Ökonomischen durch soziale Ungleichheit einerseits und durch Klassenmacht andererseits unterlaufen. Insbesondere der kapitalistische Arbeitsplatz ist in den meisten Ländern von jeglichem Anspruch auf demokratische Selbstverwaltung ausgenommen. In dieser Sphäre befiehlt das Kapital und die Arbeiter gehorchen.

Die Probleme des Kapitalismus ergeben sich gemäß dieser Perspektive aus der inneren Dynamik der kapitalistischen Wirtschaft, seine Fehler liegen also primär in seiner wirtschaftlichen Organisation. Dieses Bild ist keineswegs falsch, aber unvollständig. Es zeigt vor allem die dem System inhärenten wirtschaftlichen Übel korrekt auf, versäumt es aber zugleich, eine Reihe von nichtökonomischen Ungerechtigkeiten, Irrationalitäten und Unfreiheiten zu erfassen, die ebenso konstitutiv für das System sind. Um diese zu identifizieren, verlangt der Begriff „Kapitalismus“ nach einer grundsätzlichen Klärung. Mit dem Wort wird gemeinhin ein Wirtschaftssystem bezeichnet, das auf Privateigentum und Markttausch, auf Lohnarbeit und gewinnorientierter Produktion beruht. Aber diese Definition ist zu eng gefasst und verschleiert eher das wahre Wesen des Systems, als dass sie es offenlegt.

„Kapitalismus“, so werde ich im Folgenden argumentieren, bezeichnet etwas weit Größeres, Umfassenderes, nämlich eine Gesellschaftsordnung, die eine profitorientierte Wirtschaft dazu befähigt, die außerökonomischen Stützen, die sie zum Funktionieren braucht, auszuplündern: Reichtum, der der Natur und unterworfenen Bevölkerungen entzogen wird; vielfältige Formen von Care-Arbeit, die chronisch unterbewertet, wenn nicht gar völlig verleugnet werden; öffentliche Güter und staatliche Befugnisse, die das Kapital sowohl benötigt als auch zu beschneiden versucht; die Energie und Kreativität der arbeitenden Menschen. Obwohl sie nicht in den Unternehmensbilanzen auftauchen, sind diese Formen des Reichtums wesentliche Voraussetzungen für die Profite und Gewinne, die dort sehr wohl verzeichnet sind. Als wesentliche Grundlagen der Akkumulation stellen auch sie konstitutive Bestandteile der kapitalistischen Ordnung dar.

Kapitalismus bezeichnet also nicht nur eine Wirtschaftsform, sondern eine Gesellschaftsform, die es einer offiziell als kapitalistisch bezeichneten Wirtschaft erlaubt, monetären Wert für Investoren und Eigentümer anzuhäufen, während sie den nicht ökonomisierten Reichtum aller anderen verschlingt. Indem sie diesen Reichtum den Konzernen auf dem Silbertablett serviert, lädt sie diese ein, sich an unseren kreativen Fähigkeiten und an der Erde, die uns ernährt, zu laben – ohne die Verpflichtung, das, was sie verbrauchen, wieder aufzufüllen, oder das, was sie beschädigen, zu reparieren.

Damit aber sind den verschiedensten Problemen Tür und Tor geöffnet. Zugespitzt gesagt: Wie der Ouroboros, das alte Bildsymbol einer den eigenen Schwanz fressenden Schlange, ist die kapitalistische Gesellschaft darauf ausgerichtet, ihre eigene Substanz zu verschlingen. Sie ist ein wahrer Dynamo der Selbstdestabilisierung, der regelmäßig Krisen auslöst, während er routinemäßig die Grundlagen unserer Existenz auffrisst.

Eine seltene Art von Krise in Form mehrerer Fressanfälle

Der Kapitalismus ist also ein kannibalistisches System, dem wir die gegenwärtige globale Krise verdanken. Offen gesagt, handelt es sich um eine seltene Art von Krise, in der mehrere Fressanfälle zusammentreffen. Was wir dank der jahrzehntelangen Finanzialisierung erleben, ist nicht „bloß“ eine Krise der grassierenden Ungleichheit und der prekären Niedriglohnarbeit; auch nicht „bloß“ eine Krise der Fürsorge oder der sozialen Reproduktion; auch nicht „bloß“ eine Krise der Migration und der rassistischen Gewalt. Es handelt sich auch nicht „einfach“ um eine ökologische Krise, in der ein sich aufheizender Planet tödliche Seuchen ausspuckt, und nicht „nur“ um eine politische Krise, die sich durch eine ausgehöhlte Infrastruktur, einen verstärkten Militarismus und dadurch auszeichnet, dass überall auf dem Globus Politiker Erfolg haben, die sich als starke Männer (strong men) gerieren. Oh nein, es ist viel schlimmer: Wir haben es mit einer allgemeinen Krise der gesamten Gesellschaftsordnung zu tun, in der all diese Katastrophen konvergieren, sich gegenseitig verschärfen und uns zu verschlingen drohen. Legt man dieses „kannibalische“ Verständnis des Kapitalismus zugrunde, kommen diese fundamentalen Probleme klar zum Vorschein.

Erstens fördert die kannibalische Sicht auf den Kapitalismus einen erweiterten Katalog von Ungerechtigkeiten zutage. Diese sind aber eben nicht ausschließlich in der Ökonomie des Systems begründet, sondern in den Beziehungen zwischen der kapitalistischen Ökonomie und ihren nichtökonomischen Bedingungen. Ein Beispiel dafür ist die Trennung zwischen wirtschaftlicher Produktion, bei der die notwendige Arbeitszeit in Form von Geldlöhnen vergütet wird, und sozialer Reproduktion, bei der die Arbeit unbezahlt oder unterbezahlt ist, naturalisiert oder sentimentalisiert und zum Teil mit Liebe vergütet wird. Diese historisch geschlechtsspezifische Aufteilung verankert wichtige Formen der Herrschaft im Herzen der kapitalistischen Gesellschaften: die Unterordnung der Frau, die Geschlechterbinarität und die Heteronormativität. In ähnlicher Weise errichten kapitalistische Gesellschaften eine strukturelle Trennung zwischen freien „Arbeitern“, die ihre Arbeitskraft gegen Lohn zur Deckung ihrer Reproduktionskosten eintauschen können, und abhängigen „Anderen“, deren Körper, Land und Arbeitskraft einfach beschlagnahmt werden können. Diese Teilung fällt mit der globalen colour line zusammen. Sie trennt die „bloß“ Ausbeutbaren von den offen Enteigenbaren und rassifiziert letztere Gruppe als von Natur aus verletzlich. Das Ergebnis ist die Verfestigung einer Reihe von strukturellen Ungerechtigkeiten, darunter rassistisch motivierte Unterdrückung, (alter und neuer) Imperialismus, die Enteignung von Indigenen und Völkermord.Schließlich führen kapitalistische Gesellschaften eine scharfe Trennung zwischen Menschen und nichtmenschlicher Natur ein, die nicht mehr demselben ontologischen Universum angehören. Die nichtmenschliche Natur fungiert allein als Zapfhahn und Senke, weshalb sie sich brutaler Instrumentalisierung ausgesetzt sieht. Selbst wenn man dies nicht als Ungerechtigkeit gegen die „Natur“ (oder gegen nichtmenschliche Tiere) betrachten will, ist es doch zumindest eine Ungerechtigkeit gegen bestehende und künftige Generationen von Menschen, denen ein zunehmend unbewohnbarer Planet hinterlassen wird. Generell macht also eine erweiterte Sicht der kapitalistischen Gesellschaft einen erweiterten Katalog struktureller Ungerechtigkeiten sichtbar, der die Klassenausbeutung einschließt, aber weit darüber hinausgeht.

Die systematische Zerstörung der eigenen Grundlagen

Eine sozialistische Alternative zum Kapitalismus müsste neben den ökonomischen Ausbeutungsverhältnissen auch diese anderen gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten beseitigen. Sie darf sich nicht darauf beschränken, die Organisation der wirtschaftlichen Produktion zu verändern, sondern muss auch deren Verhältnis zur gesellschaftlichen Reproduktion und damit die Geschlechter- und Sexualordnung transformieren. Ebenso muss sie der Mitnahmementalität des Kapitals mit Blick auf die Natur und der Enteignung des Reichtums der unterjochten Bevölkerungen und damit der rassistischen und imperialistischen Unterdrückung ein Ende machen. Kurz gesagt: Wenn der Sozialismus die Ungerechtigkeiten des Kapitalismus beseitigen soll, muss er nicht „nur“ die kapitalistische Wirtschaft, sondern die gesamte institutionalisierte Ordnung der kapitalistischen Gesellschaft verändern.

Aber damit noch nicht genug. Das erweiterte Konzept weitet auch unseren Blick darauf, was als kapitalistische Krise gilt. Wir können auf diese Weise einige eingebaute selbstdestabilisierende Tendenzen erkennen, die über die der kapitalistischen Wirtschaft innewohnenden Dynamiken hinausgehen.

Erstens gibt es eine systemische Tendenz, die soziale Reproduktion zu kannibalisieren – und damit Fürsorgekrisen zu provozieren. In dem Maße, in dem das Kapital versucht, die Bezahlung der unbezahlten Care-Arbeit, von der es abhängig ist, zu vermeiden, übt es regelmäßig enormen Druck auf diejenigen aus, die diese Arbeit in erster Linie leisten: Familien, Gemeinschaften und vor allem Frauen. Die gegenwärtige, finanzialisierte Form der kapitalistischen Gesellschaft erzeugt heute genau eine solche Krise, da sie sowohl eine Kürzung der öffentlichen Bereitstellung sozialer Dienstleistungen als auch eine Erhöhung der Lohnarbeitsstunden pro Haushalt, also gerade auch von Frauen, fordert.

Die erweiterte Sichtweise macht zweitens eine inhärente Tendenz zur ökologischen Krise sichtbar. Da das Kapital es vermeidet, auch nur annähernd die wahren Wiederbeschaffungskosten für die Inputs zu zahlen, die es der nichtmenschlichen Natur entnimmt, laugt es die Böden aus, verschmutzt es die Meere, überflutet es Kohlenstoffsenken und überfordert ganz allgemein die Kohlenstoffspeicherkapazität des Planeten. Es bedient sich kannibalisch am natürlichen Reichtum und verleugnet dessen Reparatur- und Ersatzkosten, wodurch es die metabolische Interaktion zwischen den menschlichen und nichtmenschlichen Komponenten der Natur regelmäßig destabilisiert. Die Folgen sind heute unübersehbar: Was den Planeten zu verbrennen droht, ist nämlich nicht, wie in fast jeder UN-Deklaration bemüht, „die Menschheit“, sondern der Kapitalismus.

Die Tendenzen des Kapitalismus zur ökologischen und sozial-reproduktiven Krise sind drittens untrennbar mit seinem konstitutiven Bedarf an enteignetem Reichtum rassifizierter Bevölkerungen verbunden: seine Abhängigkeit von gestohlenem Land, erzwungener Arbeit und geplünderten Rohstoffen; seine Abhängigkeit von rassifizierten Zonen als Deponien für Giftmüll und von rassifizierten Gruppen als Lieferanten von unterbezahlter Care-Arbeit, die zunehmend in globalen Betreuungsketten organisiert wird. Das Ergebnis ist eine Verflechtung von wirtschaftlicher, ökologischer und sozialer Krise mit Imperialismus und rassistisch-ethnischem Antagonismus.

Von der Krise des Regierens zur Untergrabung der Demokratie

Viertens offenbart der erweiterte Blick auf den Kapitalismus eine strukturelle Tendenz zur politischen Krise. In diesem Bereich will das Kapital ebenfalls beides zugleich haben: öffentliche Güter und eine Freistellung von ihrer Finanzierung. Durch die Hinterziehung von Steuern und die Schwächung staatlicher Regulierungen neigt es dazu, die öffentliche Gewalt auszuhöhlen, von der es doch zugleich abhängig ist. Die aktuelle, finanzialisierte Form des Kapitalismus hebt dieses Spiel auf eine ganz neue Ebene. Die Megakonzerne sind den territorial gebundenen öffentlichen Mächten weit überlegen, indem die globale Finanzwelt die Staaten diszipliniert; indem sie Wahlergebnisse, die nicht in ihrem Sinne ausfallen, lächerlich macht und antikapitalistische Regierungen daran hindert, auf die Forderungen der Bevölkerung einzugehen. Das Ergebnis ist eine große Krise des Regierens, die nun mit einer Krise der Hegemonie einhergeht, da sich die Menschen auf der ganzen Welt massenhaft von den etablierten politischen Parteien und dem neoliberalen Common Sense abwenden.

Und schließlich ist da noch das eingebaute Demokratiedefizit des Kapitalismus. Auch dieser Fehler erscheint weitaus größer, wenn wir uns eine erweiterte Sichtweise dieses Gesellschaftssystems zu eigen machen. Das Problem besteht nicht nur darin, dass die Bosse in den Fabriken das Sagen haben. Es geht auch nicht nur darum, dass wirtschaftliche Ungleichheit und Klassenmacht jeden Anspruch auf gleiche demokratische Mitsprache im politischen Bereich zunichtemachen. Ebenso wichtig, wenn nicht sogar noch wichtiger ist, dass dieser Bereich von Anfang an stark beschnitten wurde.

Tatsächlich wird durch die Trennung von Wirtschaft und Gemeinwesen der Spielraum für demokratische Entscheidungen von vornherein radikal verkleinert. Wenn die Produktion an private Unternehmen übertragen wird, sind es nicht wir, die unser Verhältnis zur Natur und das Schicksal des Planeten kontrollieren, sondern die Klasse der Kapitalisten. Ebenso entscheiden nicht wir, sondern sie über die Form unseres Arbeits- und Nichtarbeitslebens – wie wir unsere Energien und unsere Zeit aufteilen, wie wir unsere Bedürfnisse interpretieren und befriedigen. Indem sie die private Aneignung des gesellschaftlichen Überschusses gestattet, ermächtigt die spezifische Verbindung von Wirtschaft und Gemeinwesen schließlich die Kapitalisten, den Gang der gesellschaftlichen Entwicklung zu gestalten und damit unsere Zukunft zu bestimmen. Die zentralen gesellschaftlichen Fragen werden in kapitalistischen Gesellschaften also von vornherein von der politischen Agenda gestrichen. Investoren, die auf maximale Akkumulation aus sind, entscheiden sie hinter unserem Rücken. Kurzum: Der Kapitalismus kannibalisiert nicht nur sich selbst, sondern auch uns – er raubt uns die kollektive Freiheit, gemeinsam zu entscheiden, wie wir leben wollen.

Wie hätte ein Sozialismus für das 21. Jahrhundert auszusehen?

Mit der Rückkehr des „Kapitalismus“ aufgrund der Erkenntnis seiner fundamentalen Krisenhaftigkeit hat aber auch der „Sozialismus“ ein Comeback erlebt – als Bezeichnung für die bedeutendste Alternative zum Kapitalismus. Wenn aber der Sozialismus tatsächlich die beschriebene kapitalistische Kannibalisierung überwinden will, steht er vor einer ziemlich großen Aufgabe. Er muss eine neue Gesellschaftsordnung erfinden, die nicht „nur“ die Klassenherrschaft überwindet, sondern auch die Asymmetrien zwischen den Geschlechtern, die rassistische/ethnische/imperialistische Unterdrückung und die politische Herrschaft in den unterschiedlichsten Bereichen. Ebenso muss er vielfältige Krisentendenzen entinstitutionalisieren: nicht „nur“ wirtschaftliche und finanzielle, sondern auch ökologische, sozial-reproduktive und politische. Schließlich muss ein Sozialismus für das 21. Jahrhundert den Geltungsbereich der Demokratie erheblich erweitern – und zwar nicht „nur“ durch die Demokratisierung der Entscheidungsfindung innerhalb einer vordefinierten „politischen“ Zone. Grundlegender ist, dass er die Definition und Abgrenzung, die Festlegung der Rahmen (der frames), die das „Politische“ ausmachen, selbst demokratisieren muss. Sprich: Er muss den Geltungsbereich der demokratischen politischen Selbstbestimmung weit über seine derzeitigen kläglich engen Grenzen hinaus erweitern.

So gesehen ist die Aufgabe, den Sozialismus für das 21. Jahrhundert neu zu denken, durchaus beachtlich. Wenn diese Aufgabe bewältigt werden kann (und das ist ein großes Wenn), dann nur durch die gemeinsamen Anstrengungen vieler Menschen, darunter Aktivisten und Theoretikerinnen. Es gilt, die in sozialen Kämpfen gewonnenen Einsichten mit programmatischem Denken und politischer Organisation zusammenzuführen. In der Hoffnung, einen Beitrag zu diesem Prozess zu leisten, möchte ich abschließend drei Überlegungen anstellen, die zeigen sollen, wie die vorangegangene Diskussion ein neues Licht auf einige klassische Topoi sozialistischen Denkens wirft.

Die erste betrifft die institutionellen Grenzen. Diese ergeben sich, wie wir gesehen haben, aus den institutionellen Trennungen des Kapitalismus: seiner Trennung von Produktion und Reproduktion, von Ausbeutung und Enteignung, von Wirtschaft und Politik, von menschlicher Gesellschaft und nichtmenschlicher Natur.

Ziehen wir die Grenzen neu – nachhaltig und gerecht

Genau diese Trennungen sind dazu prädestiniert, in kapitalistischen Gesellschaften zu Krisenherden und Kampfschauplätzen zu werden. Für Sozialistinnen ist deshalb die Frage, ob und wie gesellschaftliche Sphären voneinander abgegrenzt und miteinander verbunden sind, mindestens genauso wichtig wie die Frage nach ihrer internen Organisation. Anstatt sich einseitig auf die innere Organisation der Wirtschaft (oder auch der Natur, der Familie oder des Staates) zu konzentrieren, müssen Sozialisten über das Verhältnis der Wirtschaft zu ihren gesellschaftlichen Bedingungen nachdenken. Wenn der Sozialismus sämtliche institutionalisierten Formen kapitalistischer Irrationalität, Ungerechtigkeit und Unfreiheit überwinden soll, muss er die Beziehungen zwischen Produktion und Reproduktion, Gesellschaft und Natur, dem Ökonomischen und dem Politischen neu denken.

Dabei geht es nicht darum, dass Sozialisten darauf abzielen sollten, diese Trennungen ein für alle Mal zu beseitigen. Im Gegenteil, der katastrophale sowjetische Versuch, die Unterscheidung zwischen „dem Politischen“ und „dem Ökonomischen“ aufzuheben, kann als allgemeine Warnung vor einem solchen Bestreben dienen. Aber wir können – und müssen – die institutionellen Grenzen, die wir von der kapitalistischen Gesellschaft geerbt haben, neu denken. Wir sollten zumindest versuchen, sie neu zu ziehen, damit dringende Angelegenheiten, die der Kapitalismus ins Ökonomische verwiesen hat, politisch oder sozial werden. Wir sollten auch darüber nachdenken, ihren Charakter zu verändern, die Grenzen weicher und durchlässiger zu gestalten. Wir sollten uns auf jeden Fall überlegen, wie wir die verschiedenen Bereiche, die durch sie getrennt werden, miteinander kompatibel und wechselseitig responsiv, nicht antithetisch und nicht antagonistisch machen können. Mit Sicherheit muss eine sozialistische Gesellschaft die Neigung des Kapitalismus überwinden, Nullsummenspiele einzuführen, die der Natur, der öffentlichen Macht und der sozialen Reproduktion das wegnehmen, was sie der Produktion geben.

Noch wichtiger ist, dass wir die gegenwärtigen Prioritäten in diesen Bereichen umkehren müssen. Wenn kapitalistische Gesellschaften die Imperative der sozialen, politischen und ökologischen Reproduktion denen der Warenproduktion unterordnen, die ihrerseits auf Akkumulation ausgerichtet ist, müssen Sozialistinnen die Dinge auf den Kopf stellen: Sie müssen die Pflege der Menschen, den Schutz der Natur und die demokratische Selbstverwaltung als höchste gesellschaftliche Prioritäten einführen, die wichtiger sind als Effizienz und Wachstum. In der Tat besteht die Aufgabe des Sozialismus genau darin, die Dinge in den Vordergrund zu stellen, die das Kapital in den verleugneten Hintergrund drängt.

Schließlich muss ein Sozialismus für das 21. Jahrhundert den Prozess der institutionellen Gestaltung demokratisieren, das heißt, die Gestaltung und den Umfang der gesellschaftlichen Bereiche zu einer politischen Frage machen. Kurz gesagt: Was der Kapitalismus hinter unserem Rücken für uns entschieden hat, sollte nun im Rahmen kollektiver demokratischer Verfahren von uns entschieden werden. Daher sollten wir uns selbst daran beteiligen, was Rechtstheoretiker als „Redomaining“ bezeichnen: die Grenzen neu ziehen, die gesellschaftlichen Bereiche abstecken und entscheiden, was in diese Bereiche aufgenommen werden soll. Dieser Prozess kann als „metapolitisch“ angesehen werden, das heißt als Mobilisierung politischer Prozesse des Redomaining (zweiter Ordnung), um politische Räume (erster Ordnung) demokratisch zu konstituieren. In diesem Fall entscheiden wir selbst politisch, welche Angelegenheiten politisch behandelt werden und in welchen politischen Arenen. Um als wirklich demokratisch gelten zu können, muss die sozialistische Umgestaltung jedoch gerecht sein. Erstens muss die Entscheidungsfindung in angemessener Weise inklusiv sein; bei jeder Angelegenheit, die erörtert wird, müssen alle Betroffenen das Recht haben, sich zu beteiligen. Darüber hinaus muss die Beteiligung zu gleichen Bedingungen erfolgen. Demokratie erfordert eine gleichberechtigte Beteiligung und ist daher mit struktureller Herrschaft unvereinbar.

Aber es gibt noch eine andere, weniger bekannte Idee, an der sich der Prozess ebenfalls orientieren sollte. Nennen wir sie „Pay as you go“. Der Sozialismus des 21. Jahrhunderts, der alle Formen des Trittbrettfahrens und der sogenannten primitiven Akkumulation ablehnt, muss die Nachhaltigkeit all jener Produktionsbedingungen sicherstellen, die der Kapitalismus so rücksichtslos kaputtgemacht hat. Mit anderen Worten: Eine sozialistische Gesellschaft muss sich bemühen, den gesamten Reichtum, den sie in der Produktion und Reproduktion verbraucht, wieder aufzufüllen, zu reparieren oder zu ersetzen.

Zunächst muss sie die Arbeit, die Gebrauchswerte produziert (einschließlich der Care-Arbeit, die die Menschen erhält), sowie die Arbeit, die Waren produziert, wiederherstellen. Darüber hinaus muss sie all den Reichtum ersetzen, den sie einem Außen entnimmt – also Bevölkerungen und Gesellschaften in der Peripherie sowie der nichtmenschlichen Natur. Und schließlich muss sie die politischen Kapazitäten und öffentlichen Güter wieder auffüllen, auf die sie im Zuge der Befriedigung anderer Bedürfnisse zurückgreift. Mit anderen Worten: Es darf kein Trittbrettfahren geben, wie es der Kapitalismus gleichzeitig fördert und ablehnt. Diese Bedingung ist eine conditio sine qua non für die Überwindung der intergenerationellen Ungerechtigkeit, die der kapitalistischen Gesellschaft eigen ist. Nur wenn sie beachtet wird, kann ein Sozialismus für das 21. Jahrhundert die vielfältigen Krisentendenzen und Irrationalitäten des Kapitalismus überwinden.

Dies bringt mich zu einer zweiten Reihe von Überlegungen, die die klassische sozialistische Frage nach dem Überschuss betreffen. Der Überschuss ist der Fundus an Reichtum, den die Gesellschaft kollektiv erwirtschaftet und der über das hinausgeht, was sie benötigt, um sich auf ihrem gegenwärtigen Niveau und in ihrer gegenwärtigen Form zu reproduzieren. In kapitalistischen Gesellschaften wird der Überschuss als Privateigentum der Kapitalistenklasse behandelt und von den Eigentümern veräußert, die das System dazu zwingt, ihn immer und immer wieder, ohne Ende, zu reinvestieren in der Hoffnung, noch mehr davon zu produzieren. Das ist, wie wir gesehen haben, sowohl ungerecht als auch selbstdestabilisierend.

Demokratisieren wir den Überschuss – als kollektiven Reichtum

Eine sozialistische Gesellschaft muss die Kontrolle über den gesellschaftlichen Überschuss demokratisieren. Sie muss die Überschüsse demokratisch verteilen und durch kollektive Entscheidungen genau festlegen, was mit den vorhandenen Überkapazitäten und Ressourcen geschehen soll – und auch, wie viel Überkapazitäten sie in Zukunft produzieren will und ob sie angesichts des Klimawandels überhaupt Überschüsse produzieren möchte. Der Sozialismus muss also den in der kapitalistischen Gesellschaft verankerten Wachstumsimperativ entinstitutionalisieren. Das bedeutet nicht, wie einige Ökologinnen jetzt argumentieren, dass wir Degrowth als fest eingebauten Gegenimperativ institutionalisieren müssen. Es bedeutet vielmehr, dass wir die Frage des Wachstums (wollen bzw. brauchen wir es überhaupt und wenn ja, wie viel, welcher Art, wie und wo?) zu einer politischen Frage machen müssen, die es auf der Grundlage multidimensionaler, von der Klimawissenschaft informierter Überlegungen zu entscheiden gilt. In der Tat muss ein Sozialismus für das 21. Jahrhundert alle diese Fragen als politische Fragen behandeln, als Gegenstand demokratischer Verfahren.

Wir können den Überschuss auch als gewonnene Zeit begreifen: Zeit, die nach der notwendigen Arbeit für die Bedürfnisbefriedigung und für die Wiederauffüllung dessen, was wir verbraucht haben, übrig bleibt; also Zeit, die freie Zeit sein könnte. Die Aussicht auf freie Zeit war ein Dreh- und Angelpunkt aller klassischen Darstellungen der sozialistischen Freiheit, auch der von Marx. In der Anfangsphase eines neuen Sozialismus hätten wir aber vermutlich erst einmal relativ wenig zusätzliche freie Zeit. Der Grund dafür liegt in der enormen unbezahlten Rechnung, die die sozialistische Gesellschaft vom Kapitalismus erben würde. Obwohl der Kapitalismus sich seiner Produktivität rühmt und obwohl Marx selbst ihn für einen wahren Motor der Überschussproduktion hielt, habe ich meine Zweifel. Das Problem ist, dass Marx den Überschuss so gut wie ausschließlich in der nicht vergüteten Arbeitszeit sah, die das Kapital den Lohnarbeitern entzieht, nachdem diese genügend Wert produziert haben, um ihre eigenen Lebenshaltungskosten zu decken. Den verschiedenen unentgeltlichen Leistungen, die das Kapital enteignet und sich aneignet, schenkte er dagegen viel weniger Aufmerksamkeit und noch weniger der Tatsache, dass es deren Reproduktionskosten nicht decken kann.

Was wäre, wenn wir diese Kosten in unsere Berechnungen einbeziehen würden? Was wäre, wenn das Kapital für die unentgeltliche Reproduktionsarbeit, für die ökologische Reparatur und Wiederherstellung, für den Reichtum, der den rassifizierten Menschen entzogen wurde, und für die öffentlichen Güter hätte zahlen müssen? Wie viel Überschuss hätte es dann wirklich produziert?

Beziehen wir die Reproduktionskosten ein: Keine Märkte oben und unten

Das ist natürlich eine rhetorische Frage. Wie genau man sie zu beantworten versuchen könnte, ist unklar. Klar ist jedoch, dass eine sozialistische Gesellschaft eine saftige Rechnung für jahrhundertelang nicht bezahlte Kosten erben würde. Sie würde zudem eine saftige Rechnung für massenhaft unbefriedigte Bedürfnisse der Menschen überall auf der Welt erben: Gesundheitsversorgung, Wohnraum, nahrhafte (und leckere) Lebensmittel, Bildung, Transport usw. Auch diese Bereiche sollten nicht als überschüssige Investitionen betrachtet werden, sondern als absolute Notwendigkeit. Das Gleiche gilt für die dringliche und riesige Herausforderung einer Dekarbonisierung der Weltwirtschaft – eine Aufgabe, die keineswegs optional ist. Generell bekommt die Frage, was notwendig und was überflüssig ist, im Lichte unserer erweiterten Vorstellungen vom Kapitalismus und vom Sozialismus eine ganz andere Bedeutung. Das trifft auch auf einen dritten wichtigen Topos der Gesellschaftstheorie zu: die Rolle der Märkte in einer sozialistischen Gesellschaft. In dieser Frage lassen sich die Implikationen des kannibalischen Kapitalismuskonzepts auf eine simple Formel bringen: keine Märkte oben, keine Märkte unten, aber möglicherweise einige Märkte dazwischen.

Lassen Sie mich das erklären. Was ich mit „oben“ meine, ist die Verteilung des sozialen Überschusses. Angenommen, es gibt einen sozialen Überschuss zu verteilen, dann muss er als kollektiver Reichtum der Gesellschaft insgesamt betrachtet werden. Keine Privatperson, kein Unternehmen und kein Staat kann ihn besitzen oder das Recht haben, einseitig über ihn zu verfügen. Als wahrhaft kollektives Eigentum muss der Überschuss über kollektive Entscheidungs- und Planungsprozesse verteilt werden – eine Planung, die demokratisch organisiert werden kann und muss. Marktmechanismen sollten auf dieser Ebene keine Rolle spielen. Die Regel lautet: weder Märkte noch Privateigentum „at the top“.

Dasselbe gilt für „unten“, womit ich die Ebene der Grundbedürfnisse meine: Unterkunft, Kleidung, Nahrung, Bildung, Gesundheitsversorgung, Transport, Kommunikation, Energie, Freizeit, sauberes Wasser und saubere Luft zum Atmen. Es stimmt natürlich, dass wir nicht ein für alle Mal festlegen können, was genau als Grundbedürfnis gilt und was genau erforderlich ist, um es zu befriedigen. Auch das muss Gegenstand demokratischer Diskussionen, Auseinandersetzungen und Entscheidungen sein. Aber was auch immer dazu gezählt wird, muss als Rechtsanspruch bereitgestellt werden und nicht auf der Grundlage der individuellen Zahlungsfähigkeit. Das bedeutet, dass die Gebrauchswerte, die wir zur Befriedigung dieser Bedürfnisse produzieren, keine Waren sein können, sondern sie müssen öffentliche Güter sein. Das verweist übrigens auf einen entscheidenden Nachteil von Vorschlägen für ein universelles (oder bedingungsloses) Grundeinkommen hin, das vorsieht, den Menschen Geld zu überweisen, damit sie Dinge zur Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse kaufen können. Auf diese Weise wird die Befriedigung der Grundbedürfnisse nämlich als Ware behandelt. Eine sozialistische Gesellschaft sollte sie aber als öffentliche Güter betrachten. Es sollte an der Basis keine Märkte geben.

Also keine Märkte unten oder oben. Aber was ist mit dem Dazwischen? Sozialistinnen sollten sich das Dazwischen als einen Raum vorstellen, in dem mit einer Mischung aus verschiedenen Möglichkeiten experimentiert werden kann: ein Raum, in dem Märkte einen Platz finden könnten, ebenso wie Genossenschaften, Commons, selbstorganisierte Assoziationen und selbstverwaltete Projekte. Viele traditionelle sozialistische Vorbehalte gegen Märkte würden sich in dem Kontext, den ich mir hier vorstelle, auflösen oder abschwächen, da ihre Funktionsweise weder die Dynamik der Kapitalakkumulation und der privaten Aneignung des gesellschaftlichen Überschusses befeuern noch davon verzerrt werden würde. Sobald der obere und der untere Bereich sozialisiert und dekommodifiziert sind, würden sich Funktion und Rolle der Märkte in der Mitte verändern. Dieses Vorhaben scheint klar genug, auch wenn wir jetzt noch nicht genau sagen können, wie es konkret umgesetzt werden soll.

Viele solcher Ungewissheiten schreien nach Reflexion und Klärung durch diejenigen, die eine erweiterte Konzeption des Sozialismus für das 21. Jahrhundert entwickeln wollen. Gewiss, die von mir hier skizzierte Sichtweise ist eindeutig partiell und vorläufig. Sie befasst sich nur mit einer Teilmenge der dringlichsten und relevantesten Fragen und tut dies in einer Weise, die eingestandenermaßen sondierend ist. Dennoch hoffe ich, die Vorzüge dieser Herangehensweise an die Frage, was Sozialismus heute bedeuten sollte, aufgezeigt zu haben.

Einer dieser Vorzüge ist die Aussicht, den Ökonomismus der gängigen Vorstellungen zu überwinden. Ein weiterer Vorteil ist die Möglichkeit, die Relevanz des Sozialismus für eine breite Palette aktueller Probleme aufzuzeigen, die über die der traditionellen Arbeiterbewegungen hinausgehen, nämlich soziale Reproduktion, struktureller Rassismus, Imperialismus, Entdemokratisierung und Klimawandel. Ein dritter Vorteil ist, dass sie ein neues Licht auf einige klassische Topoi des sozialistischen Denkens werfen kann, darunter institutionelle Grenzen, den sozialen Überschuss und die Rolle der Märkte.

Darüber hinaus schließlich hoffe ich, etwas Einfacheres, aber Wichtigeres gezeigt zu haben: dass es sich lohnt, das sozialistische Projekt im 21. Jahrhundert weiterzuverfolgen; dass „Sozialismus“ kein bloßes Schlagwort oder Relikt der Geschichte bleiben muss, sondern der Name einer echten Alternative zu dem System werden kann, das derzeit den Planeten zerstört und unsere Chancen auf ein freies, demokratisches und gutes Leben zunichtemacht.

Der Beitrag basiert auf „Der Allesfresser: Wie der Kapitalismus seine eigenen Grundlagen verschlingt“, dem jüngsten Buch der Autorin, das am 11. März im Suhrkamp Verlag erscheint. Die Übersetzung stammt von Andreas Wirthensohn.

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