Ausgabe Juni 2024

Megacity Neom: Saudi-Arabiens archaischer Futurismus

 The Line ist ein Bandstadt-Gebäude in Saudi-Arabien, das ohne Autos, Straßen und Kohlendioxidemissionen auskommen soll. Es ist Teil des Großprojekts Neom (IMAGO / ABACAPRESS)

Bild: The Line ist ein Bandstadt-Gebäude in Saudi-Arabien, das ohne Autos, Straßen und Kohlendioxidemissionen auskommen soll. Es ist Teil des Großprojekts Neom (IMAGO / ABACAPRESS)

Es ist das Prestigeprojekt des saudischen Herrschers Mohammed Bin Salman: die Zukunftsenklave Neom.[1] Auf 26 500 Quadratkilometern entsteht im Nordwesten Saudi-Arabiens ein futuristisches Siedlungsprojekt samt einer Megacity namens „The Line“. In einem Band von 200 Metern Breite und 500 Metern Höhe soll sie sich über 170 Kilometer durch die saudische Wüste ziehen, autofrei und komplett mit erneuerbarer Energie betrieben. Neun Millionen Menschen sollen hier künftig auf einer Fläche von nur 34 Quadratkilometern wohnen und arbeiten können.

An Konzeption und Bau beteiligen sich auch deutsche Firmen, darunter das Laboratory for Visionary Architecture (Lava) aus Berlin. Der Name seines Unternehmens, so Lava-CEO Tobias Wallisser, sei Programm. Man wolle Lebensbereiche entwickeln, die nicht nur fürs postfossile Zeitalter gedacht sind, sondern auch fürs postautomobile. Vor allem eines fasziniert den Städteplaner mit Professur in Stuttgart: wie eine Stadt aussieht, in der die Energie regenerativ ist, also nicht mehr auf fossilen Brennstoffen beruht, „an einem Ort, der eigentlich als nicht bewohnbar gilt“.[2] Auch reize ihn das Tempo, mit dem Saudi-Arabien das Vorhaben umsetzt – wogegen man in Berlin jahrelang diskutiere, ob es möglich sei, zwei Blocks in der Friedrichstraße autofrei zu machen. Wer Wallisser in seinem Firmen-Loft unweit vom Alexanderplatz zuhört, könnte sich fragen, wieso jemand wie er Konzepte fürs Land der heiligen Stätten Mekka und Medina ausarbeiten sollte. Dabei steht er in einer durchaus langen Tradition: Selten wurde Saudi-Arabien in Saudi-Arabien geplant. Ab den 1930er Jahren finanzierte die US-Erdölgesellschaft, CASOC, später ARAMCO, die bitterarme Familie al Saud, baute das rückständige Land auf und errichtete neben Förderanlagen auch die ersten Straßen, Schulen und modernen Gebäude. Die al-Saud reichten Millionen an Öleinkünften weiter an die wichtigen Stämme im Land, die im Gegenzug treue Gefolgschaft zu geloben hatten. Ihre Macht über den größten Teil der Arabischen Halbinsel legitimierte die Familie nicht nur durch ihre Finanzkraft, sondern auch religiös: mit Hilfe der besonders rigiden Islam-Ideologie des puristischen Predigers Mohammed Abdel Wahhab.

Diese Mischung führte zu den vielzitierten Kontrasten Saudi-Arabiens: Hightech und Mittelalter, Hochhäuser, Luxus und verschleierte Frauen, die von Chauffeuren über Highways gefahren werden, weil der wahhabitische Kodex ihnen verbietet, selbst Autos zu steuern. Solange der Wahhabismus, genauso wie die Ölmillionen, das Land stabilisierte, störte er die jeweiligen Entscheidungsträger in Washington nicht.

Doch in den 1990er Jahren zeichnete sich das Ende des fossilen Zeitalters ab und damit auch das Ende der alten Denkmuster. Bei der selbst ernannten Königsfamilie sorgte das für Unruhe. Wie konnte man sich eine wachsende Bevölkerung weiter als Untertanen erhalten, ohne sie mit den Öleinnahmen weiter zu alimentieren? Wie ließen sich irgendwann Steuern eintreiben, ohne erklären zu müssen, weshalb das nicht auch andere Herrscher als die al-Saud tun könnten? Und würde es gelingen, einen Wahhabismus in die Schranken zu weisen, der inzwischen nahtlos in den Dschihadismus überging, Terroristen nach Art Osama Bin Ladens schuf, die die gedeihliche Partnerschaft mit dem Westen – und damit letztlich auch die eigene Herrschaft – unterminierten?

Spätestens nach dem 11. September 2001 wurde allen Beteiligten klar, dass Saudi-Arabien sich neu erfinden musste. Man brauchte einen Hoffnungsträger, jemanden, der das System vom Kopf auf die Füße stellte. Mehr als ein Jahrzehnt lang rumpelte es in den Ratsversammlungen der Prinzen. Dann präsentierte König Salman 2017 seinen erst 32-jährigen Lieblingssohn Mohammed Bin Salman. Kennern des Landes war er bereits als Spindoktor seines kranken und erschöpften Vaters aufgefallen, und als mutmaßlicher Drahtzieher des Jemenkrieges verantwortlich für rücksichtslose Luftangriffe auf Wohnviertel und grausame Hungerblockaden gegen die Zivilbevölkerung. Doch wenn Tobias Wallisser über seine Erfahrungen im Saudi-Arabien des jungen starken Mannes spricht, ist ihm seine Begeisterung über den „gesellschaftlichen Wandel“ anzumerken. Aber wie genau sieht dieser Wandel aus?

Neom: Bin Salmans Vision von einem neuen Saudi-Arabien

2017 darf ein anderer Deutscher, der Spitzenmanager Klaus Kleinfeld, den Vorhang zu den Visionen Bin Salmans hochziehen. Auf einem Panel stellt er Neom vor – so etwas wie den Modellversuch für die „Agenda 2030“, die Bin Salman dem Königreich nun verordnet. In einer Enklave von der Größe Belgiens sollen die Reformen ausgetestet werden. Vor handverlesenen Gästen aus Wirtschaft und Industrie schwärmt er von der wunderbaren Lage: Ein Gebiet zwischen dem Roten Meer, dem Golf von Akaba, eingefasst von Israel, Jordanien, Ägypten, zugleich Nahe des Suezkanals. Laut Kleinfeld so etwas wie das Paradies auf Erden, „ein Ort, an dem der Geist zur Ruhe kommt. Aber auch: Ein Ort, an dem wir Wohlstand generieren und eine ganz neue Zukunft entwerfen können.“[3] Der ehemalige Siemens-Aufsichtsratsvorsitzende eröffnet gleichzeitig den Reigen der Aufsichtsratsvorsitzenden der Neom-Company. Den internationalen Investoren zählt er auf, was alles dafür spricht, hier in der Wüste eine neue Welt zu bauen, eine Welt der Zukunft: Das Dreiländereck beschreibt er als praktisch jungfräulich: Auf Anordnung „Seiner Königlichen Hoheit“ dürfe man hier „alles ausprobieren, ohne durch eine gewachsene Infrastruktur behindert zu werden“. Und dann verkündet der Deutsche zum Erstaunen besonders der westlichen Gäste den eigentlichen Clou: Die Gesetze der Scharia Saudi-Arabiens werden für die Zukunftsenklave aufgehoben. Neom wird seine eigenen Gesetze, seine eigene Regierung bekommen, und zwar so, dass Interessierte aus der ganzen Welt hierherströmen und gemeinsam die Zukunft zur Gegenwart werden lassen – so die Idee. „Wir haben die volle gesetzgeberische Autorität! Seine Königliche Hoheit, der Kronprinz, hat uns aufgegeben: ‚Schreibt die Gesetze in der denkbar investorenfreundlichsten Manier.‘ Und genau das passiert jetzt gerade, mit Hilfe internationaler Anwaltskanzleien.“[4]

Auch im übrigen Land, jenseits der Enklave, überrascht MBS, wie sich Mohammed Bin Salman gern abkürzt, durch erste Highlights seiner „Agenda 2030“. Die Mittelklasse soll gefördert, der Arbeitsmarkt für Frauen geöffnet werden. Steuern werden erhoben. Gleichzeitig bietet MBS der Bevölkerung auch Gegenleistungen an: Das archaische Autofahrverbot ist aufgehoben, in Riad eröffnet die erste Frauenfahrschule. Kinos nehmen den Betrieb auf, bildende Künstler dürfen ausstellen, Musikveranstaltungen werden geplant. Die Gralshüter des Wahhabismus, die all das als unislamisch verpönt haben, werden per Federstrich zum Schweigen gebracht.

MBS bleibt bei alldem seltsam rätselhaft. Was hat es auf sich mit den neuen Gesetzen, die er konzipieren – oder andere konzipieren lassen – will? Bekannt ist, dass er eine traditionelle Ausbildung absolviert und Islam studiert hat. Und es fällt auf, dass er sich, anders als seine Generationsgenossen, nicht in anderen Sprachen äußert. Interviewanfragen führen zu nichts – außer zur Erkenntnis, dass das Informationsministerium jetzt an westliche PR-Firmen outgesourct ist, zum Beispiel an die Berliner Agentur WMP.

Der Mord an Jamal Khashoggi als Zäsur

Und dann, mitten im Enthusiasmus über die Reformen, im Oktober 2018, erschüttert ein Schock das Königreich und seine Partnerländer: Im saudischen Konsulat von Istanbul wird der Journalist Jamal Khashoggi ermordet – ein Reformanhänger, der dem neuen Machthaber geraten hatte, auch ein paar politische Freiheiten zu genehmigen. Die UN-Sonderermittlerin Agnès Callamard bescheinigt im Frühjahr 2019 MBS und seinem Berater al-Qahtani, für ein Verbrechen verantwortlich zu sein, das sie als Staatsverbrechen qualifiziert. Es ist ein bestialischer Mord: Khashoggi, feige in die Falle gelockt, von einem Sonderkommando erstickt, auseinandergesägt und spurlos beseitigt.

Was der Jemenkrieg nicht vermochte, vermag nun diese eine Tat an einem einzigen Menschen: Für die Weltöffentlichkeit offenbart sich hier nicht die Moderne, sondern ein archaischer Sadismus. Sehen so die neuen „Gesetze“ Bin Salmans, sieht so das neue Saudi-Arabien aus? Die Tat lässt eine beispiellose Empörung im Westen hochkochen. Der Hoffnungsträger scheint mindestens in der westlichen Öffentlichkeit erledigt, zum Paria geworden, obwohl der damalige US-Präsident Donald Trump nach wie vor die Hand über ihn hält. Selbst Geschäftsleute wie der Vorstandsvorsitzende von Siemens, Joe Kaeser, beschließen, vorläufig nicht mehr nach Saudi-Arabien zu reisen. Lord Norman Foster, einer der an Neom beteiligten Architekten, steigt ebenfalls aus. Kein EU-Politiker will noch mit MBS fotografiert werden.

 Als wäre MBS nicht schon diskreditiert genug, taucht ein paar Monate nach Veröffentlichung des UN-Untersuchungsberichts zum Fall Khashoggi eine Quelle zur Zukunftszone Neom auf und zeigt hinter der elysischen Kulisse eine nicht sehr paradiesische Realität: Ein Video mit einem der Bewohner des Landstrichs, auf dem die Enklave entstehen soll. Abdul Rahim al-Howaiti, ein Mann mit schütterem Vollbart und der saudischen Keffieh-Kopfbedeckung steht auf dem Flachdach seines Hauses, filmt sich selbst mit dem Smartphone, schwenkt auf einen Konvoi von Polizeifahrzeugen, lanciert einen Hilferuf an die gesamte Welt und hält so etwas wie das Gegenplädoyer zu dem, was Klaus Kleinfeld 2017 auf dem Neom-Eröffnungspanel formulierte.[5]

Häuser werden geräumt, zerstört, Menschen vertrieben oder mit Geld und Versprechungen geködert – und warum sollen sie, die Howaitat, das Land ihrer Vorväter verlassen? Damit auf ihrem Gebiet ein Raum für Ausländer entstehe? Wer solle wissen, ob in einer solchen Welt die Muslime noch willkommen seien? Reiche aus der ganzen Welt sollen hierhergebracht werden, unter ihrem eigenen System. „Das ist nichts anderes als Staatsterrorismus!“ Er gehe nicht weg, auch nicht, wenn man ihm 100 Mio. biete. Er sei bereit zu sterben. Er warte jetzt auf die Spezialkräfte, die da unten angerückt seien.

Für die Staatsmacht ist Howaiti kein Unbekannter. In den vergangenen Wochen hatte er sich bereits anlässlich von Versammlungen und Petitionen als Wortführer der Neom-Gegner positioniert. Man betrachtet ihn als Terroristen und wird ihm und seinen Anhängern später Verbindungen zu Al Qaida und dem Islamischen Staat vorwerfen. Kurz nach Ende der Videoaufnahme beginnen die Spezialkräfte, teils mit schweren Waffen, auf Abdul Rahims Haus zu feuern. Der schießt von innen mit dem Gewehr zurück und stirbt, wie von ihm vorausgesehen, in den Trümmern seines Hauses.

Erst Khashoggi und nun al-Howaiti – wird hier der unbarmherzige Vernichtungsfeldzug gegen alle abweichenden Meinungen fortgesetzt? Steht Neom damit vor dem Aus, genauso wie sein Bauherr? Weit gefehlt: 2020 beginnt der politisch totgeglaubte MBS ungeahnte Volten zu vollführen. In rasantem Tempo verwandelt er sich vor den Augen der Öffentlichkeit zu einem Friedensbringer, Versöhner, Umweltaktivisten. Er tritt bei Veranstaltungen auf, sprudelt in einem nach autodidaktischer Aneignung klingenden, texanisch gefärbten Englisch heraus: Den (von ihm angezettelten) Krieg im Jemen will er beenden. Er streckt Friedensfühler zum schiitischen Erzfeind Iran aus. Bahnt die Abraham-Abkommen an, die kooperationswillige arabische Staaten mit Israel aussöhnen sollen. Monate nach Russlands Angriff auf die Ukraine richtet er eine internationale Friedenskonferenz aus. 2022 bringt er schließlich Neom wieder ins Gespräch, lanciert in einem Kongresszentrum den Baubeginn der Bandstadt „The Line“ und hält ein flammendes Plädoyer im Stile der Klimakleber: In den Städten, klagt er, habe man nach der industriellen Revolution Maschinen und Autos Vorrang vor den Menschen eingeräumt. Selbst in den fortschrittlichsten Städten verbrächten die Menschen einen Großteil ihrer Zeit im Verkehr. Im Jahr 2025 würden Milliarden Menschen zu Flüchtlingen geworden sein aufgrund steigender CO2-Emissionen sowie ansteigender Meeresspiegel. „Warum“, so ruft er verzweifelt ins Mikrofon, „müssen Millionen Menschen sterben? Jährlich? Aufgrund von Luftverschmutzung?“

Neom – Inbegriff der grünen Wende?

Inzwischen hat sich die Situation radikal geändert. Durch den Ukrainekrieg steuert Europa und insbesondere Deutschland auf eine Energiekrise zu. Politiker der Ampelkoalition versuchen verzweifelt, sich vom russischen Gas unabhängig zu machen, die Frage nach den erneuerbaren Energien scheint drängender als je zuvor. Alle sind plötzlich zurück: Klaus Kleinfeld taucht als Berater des Kronprinzen wieder auf. Annalena Baerbock und Robert Habeck reisen nach Riad, um die Energiezusammenarbeit neu auszuloten. Das Tiefbauunternehmen Bauer zieht Aufträge für die Ausschachtung der Bandstadt „The Line“ an Land. Volocopter erhält den Zuschlag für die Lufttaxis, die zukünftig im Himmel über Neom schweben sollen. Das Bundeswirtschaftsministerium begrüßt in seiner Broschüre zur deutsch-saudischen Zusammenarbeit im Juni 2022, dass die Thyssenkrupp AG den Zuschlag für eine Elektrolysefabrik zur Herstellung von grünem Wasserstoff erhalten habe, und gibt bekannt, dass das „Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz die Investition mit einer Kreditbürgschaft in Höhe von 1,5 Millionen Euro unterstützt“.

Nun aber entdeckt die saudische Opposition das Thema Neom. Der Autor Abdullah Aljuraiwi, die Frauenrechtlerin Fouz al-Otaibi und andere Schlüsselfiguren haben nach dem Khashoggi-Mord ein Netzwerk gegründet und engagieren sich bei ALQST, einer Londoner Menschenrechtsorganisation mit Fokus auf Saudi-Arabien. ALQST hält Verbindungen zu den Repräsentanten des Howaitat-Stammes, die unter Lebensgefahr Informationen über die Situation im Neom-Baugebiet herausschmuggeln, und dokumentiert die Lage von rund 20 000 Menschen, die für das Vorhaben vertrieben werden sollen. Betroffen sind mehrere Dörfer: al Khuraiba, Sharma und Gayal. Die meisten Bewohner lebten dort, zwischen Wüste und Meer, seit Generationen, als Fischer oder Kamelzüchter. Viele von ihnen wurden bereits zwangsweise geräumt und ihre Häuser zerstört, andere mit Druck dazu gebracht, Übertragungsurkunden an den saudischen Staat zu unterzeichnen. Wieder anderen wurden Entschädigungen versprochen, die sich aber als zu niedrig erwiesen. Repräsentanten der Howaitat haben Unterschriften gesammelt und sich in Petitionen an den Staat gewandt. Dutzende sind in der Folge unter Anwendung des Terrorparagrafen verhaftet worden.

Die saudische Exiljuristin Lina al-Hathloul, Sprecherin von ALQST, versucht in Veranstaltungen und Fernsehinterviews, die westliche Öffentlichkeit aufzurütteln. Während britische, deutsche oder US-Firmen Neom hochzögen, würden die Gegner des Projekts gefoltert, Menschen wie Shadli al Howaiti, der Bruder des getöteten Videofilmers, „der bloßen Sonne ausgesetzt – stundenlang, ohne dass er sich auch nur bewegen konnte. Dazu kam Schlafentzug. Und dann fingen sie mit der sozusagen klassischen körperlichen Folter an. Ihm wurde auf die Fußsohlen geschlagen“, so al-Hathloul. [6] Am Ende habe er ein Geständnis abgelegt, das nun als Grundlage seines Todesurteils diene. Diese und andere Informationen leitet ALQST an die UNO weiter.

Firmenlogik: »Wo keiner wohnt, lässt sich auch keiner foltern«

Der zuständige UN-Sonderberichterstatter, der Inder Balakrishnan Rajagopal, wendet sich daraufhin am 28. April 2023 an die saudische Regierung, die Neom Company, einige der beteiligten internationalen Firmen und die für sie zuständigen Regierungen und informiert sie über die Lage der verhafteten Neom-Gegner. 47 von ihnen, bilanziert er, sitzen im Gefängnis, einige der Verhafteten seien vor den Gerichtsverhandlungen gefoltert worden. Mindestens drei Personen wurden bereits zum Tode verurteilt, unter ihnen Abdul Rahims Bruder Shadli, sein Cousin sowie dessen Vater.

Rajagopal bittet die saudische Regierung um Aufklärung. Die an Neom beteiligten internationalen Firmen erinnert er an die UN-Leitprinzipien zu Wirtschaft und Menschenrechten – die Unterzeichnerstaaten, unter ihnen auch die angeschriebenen Regierungen, verpflichten sich seit der Ratifizierung 2011 bei allen Projekten „ihre Verantwortung gegenüber Menschenrechten wahrzunehmen, menschenrechtsrelevante Missstände abzustellen und dagegen vorzugehen, wo immer sie auftreten, [...] auch falls sie selbst nicht zu diesen Missständen beigetragen haben“.

Der Brief des UN-Sonderberichterstatters erreicht im Frühjahr 2023 auch das Berliner Lava-Architekturbüro. Man habe reagiert, „das mitgeteilt, was wir mitteilen konnten. Und ich glaube, mehr können wir nicht machen“, sagt Städteplaner Wallisser.[7] „Als Masterplaner für Trojena”, heißt es in Wallissers Antwortschreiben, „haben wir Studien bezüglich der Umwelt- und der sozialen Auswirkungen der Entwicklung angestellt. Nach unserem Wissen gibt es auf dem Gebiet, auf dem wir tätig sind, keine Menschenrechtsverletzungen.“[8] Schließlich, so der Architekt, plane man den Neom-Teil Trojena, ein nachhaltiges Ferienressort – in der Gegend, erklärt er, wohne so gut wie keiner. Wo keiner wohnt, so Lavas Logik, lässt sich auch keiner foltern.

Die Verfolgung der Neom-Gegner und die Verantwortung Deutschlands

Am 28. April 2023 richtet der UN-Sonderberichterstatter schließlich ein Schreiben an die Bundesregierung, in dem er an Deutschlands Ratifizierung der UN-Richtlinien zu Wirtschaft und Menschenrechten erinnert, Deutschlands Aufsichtspflicht über die am Neom-Projekt beteiligten deutschen Firmen anmahnt, ein Projekt, das anscheinend konzipiert werde „ohne die freie und vorherige Konsultation und Zustimmung und angemessene Entschädigung des Howaitat-Stammes“.[9] Sonderberichterstatter Rajagopal macht die Bundesregierung auch auf die anhängigen Todesurteile gegen mehrere Neom-Gegner sowie die mutmaßliche Folter an ihnen aufmerksam und fragt, welche Schritte sie gegen deutsche Firmen zu unternehmen gedenkt, die möglicherweise zu Menschenrechtsverletzungen beitragen.

Am 22. Juni 2023 erwidert das Auswärtige Amt: „Die deutsche Regierung legt hohe Maßstäbe an die Vergabe von Exportbürgschaften an.“ Nur Firmen, die bei menschenrechtlich unbedenklichen Projekten mitarbeiteten, erhielten eine Export- bzw. Hermesbürgschaft. Auf Neom geht die Bundesregierung mit keinem Wort ein, obwohl die UNO sie ausdrücklich darauf angesprochen hatte. Möglich wird das durch einen simplen Trick: „Bis jetzt“, so heißt es in der Formulierung, „hat die deutsche Bundesregierung keinerlei Anträge für Exportbürgschaften in Zusammenhang mit ‚The Line‘ erhalten. Insofern wurden auch keine Exportbürgschaften erteilt.“ Das ist nicht gelogen und doch falsch. Denn so bleibt unerwähnt, dass das Bundeswirtschaftsministerium für das Neom-Projekt sehr wohl eine Exportbürgschaft erteilt hat. Nicht für „The Line“, sondern für Thyssenkrupps Wasserstoffanlage in der in Neom geplanten Industriestadt Oxagon.

Eine Rückfrage beim UN-Sonderberichterstatter Rajagopal ergibt, dass Berlin in puncto Neom sogar doppelt in der Pflicht ist: Zum einen als Unterzeichnerstaat der „Richtlinien für Wirtschaft und Menschenrechte“. Zum anderen wegen des in Deutschland seit Januar 2023 geltenden Lieferkettengesetzes. Dieses verpflichtet die Bundesregierung, Firmen nicht nur an direkten Menschenrechtsverstößen zu hindern, sondern die indirekte Beteiligung an Menschenrechtsverstößen zu verhindern, die andere Firmen oder Auftraggeber entlang der Lieferkette begehen. In diesem Fall wären das die auftraggebende Neom-Company oder der saudische Staat.

Respektiert Deutschland also das Lieferkettengesetz? Was würde mit dem dank Thyssenkrupp produzierten grünen Wasserstoff geschehen, wenn sich herausstellt, dass er in Zusammenhang mit Menschenrechtsverletzungen produziert wird? Und warum beantwortet die Bundesregierung vor diesem Hintergrund eine Anfrage der UNO offensichtlich fehlerhaft?

Auf die Bitte nach einem Gespräch zum Thema Saudi-Arabien bei den zuständigen Ministerien – darunter das Büro der Menschenrechtsbeauftragten des Auswärtigen Amtes und das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz – kommen sämtlich ablehnende Antworten. Einzig Lamya Kaddor, bei den Grünen Berichterstatterin für Nah- und Mittelost, erklärt sich bereit, etwas zu sagen. Das Thema Neom fällt für sie unter das Oberthema Klimaschutz. Und der ist aus ihrer Sicht eine globale Angelegenheit von allergrößter Dringlichkeit. Wenn Deutschland diese grüne Transformation positiv begleiten könne, sollte es das tun. „Auch bei schwierigen Partnern.“ Hinzu komme noch, „dass diese Länder am Golf, insbesondere auch Saudi-Arabien, auch geopolitisch eine immer wichtigere Rolle spielen“. Kaddor verweist auf Saudi-Arabiens Annäherung an den Iran, die von Mohammed Bin Salman initiierten Abraham-Abkommen zur Versöhnung arabischer Staaten mit Israel. Und kommt auf den Gazakrieg zu sprechen: „Saudi-Arabien fängt Raketen der Huthis auf Israel ab. Das haben sie auch mehrfach schon getan.“ Einen Verstoß gegen das maßgeblich von den Grünen initiierte Lieferkettengesetz sieht sie nur „in der Theorie“. Tatsächlich dürfe man Neom aber nicht als das eine große Projekt betrachten. „Es gibt ja zig Teilprojekte, die darunterfallen, die ja alle noch mal separat zu betrachten und juristisch zu bewerten sind.“[10]

Der saudischen Oppositionellen Lina al-Hathloul ist es unverständlich, wie sich die Ampelkoalition beim Thema Neom dreht und windet. Klimaschutz als oberste Priorität, gedeihliche Beziehungen zu seinem Partner Mohammed Bin Salman? „Wenn Leuten der Kopf abgeschlagen werden soll, dann müsste doch irgendwann mal der Alarm losgehen.“ Auch für die beteiligten Firmen gebe es eine moralische Verpflichtung. „Das Mindeste ist doch, den Auftraggebern zu erklären: ‚Ich werde es nicht hinnehmen, dass Menschen sterben, die sich weigern, dafür den Platz zu räumen.‘“

Lava-Stadtplaner Wallisser setzt sich durchaus mit solchen Überlegungen auseinander – nur sei das eben Politik, für die andere zuständig seien, zum Beispiel „Frau Baerbock“. Und was die Opposition der Neom-Gegner angehe – wenn man ihm folgt, ein weites Feld voller archaischer Wüstentraditionen, Denn: „Welche Stammesfehden dahinter liegen […], ist für uns nicht einfach beurteilbar.“ Formulierungen, die „funktionieren“: Juristisch einwandfrei. Es reicht ein Kniff, ein Dreh, ein Perspektivenwechsel – und weiter geht es zum nächsten fragwürdigen Projekt. Deutschlands Firmen geben sich gern als Vorreiter in Sachen Klima, Fairness und Nachhaltigkeit. Doch wirklich beispielgebend sind sie vor allem, wenn es um eines geht: sich Standards zu entziehen. Sogar, wenn es die selbstgesetzten sind.

[1] neom.com/de-de.

[2] Im Gespräch mit dem Autor, vgl. Marc Thörner, Blut, Sand und Beton – Deutschland und das NEOM-Projekt der Saudis, ardaudiothek.de, 20.2.2024.

[3] NEOM‘s chief exec: The project attracts ‚huge interest‘ from foreign investors, youtube.com, 10.5.2018.

[4] Ebd.

[5] The Murder of Abdul Rahim al-Hwaiti NEOM, youtube.com, 14.4.2020.

[6] Gespräch des Autors mit Lina al-Hathloul am 25.9.2023.

[7] Im Gespräch mit dem Autor, vgl. Marc Thörner, Blut, Sand und Beton, a.a.O.

[8] Schreiben von Laboratory for Visionary Architecture Berlin GmbH vom 26.6.2023, spcommreports.ohchr.org.

[9] Schreiben von Balakrishnan Rajagopal u.a. vom 28.4.2023 (Ref.: UA DEU 2/2023), spcommreports.ohchr.org.

[10] Im Gespräch mit dem Autor, vgl. Marc Thörner, Blut, Sand und Beton, a.a.O.

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