Bild: Der Deutsche Bank Tower in Frankfurt, 25.9.2019 (IMAGO / C. Hardt / Future Image)
Der Bundeshaushalt sorgt traditionell für Streit, in diesem Jahr mehr denn je. Denn die schwarz-rote Bundesregierung will im laufenden Jahr 503 Mrd. Euro ausgeben, rund 82 Mrd. davon sollen über neue Kredite finanziert werden. Obwohl die Reform der Schuldenbremse und das neue Infrastruktur-Sondervermögen mehr Spielraum ermöglichen, sieht die Finanzplanung perspektivisch düster aus: Bis 2029 fehlen über 170 Mrd. Euro – allein im Bundeshaushalt. Um diese Lücke zu schließen, fordern einige Parlamentarier:innen Kürzungen bei Sozialleistungen, vor allem beim Bürgergeld. Härtere Sanktionen und Abstriche könnten im kommenden Jahr 1,5 Mrd. Euro zusätzlich in die öffentlichen Kassen spülen.
Während im Parlament um wenige Milliarden gefeilscht wird, bleiben gigantische Einnahmeverluste nahezu unbeachtet: jene durch Wirtschaftskriminalität. Allein durch Steuerhinterziehung entsteht Deutschland jedes Jahr ein geschätzter Schaden von 100 Mrd. Euro.[1] Ähnliche Summen schleusen Kriminelle jährlich durch Geldwäsche in den legalen Wirtschaftskreislauf ein.[2] Angesichts dieser Dimensionen müsste großes politisches Interesse daran bestehen, Wirtschaftskriminalität zu unterbinden und die gestohlenen Milliarden zurückzuholen. Doch die Realität sieht anders aus: Während der Staat jeden kleinen Fehler von Sozialleistungsempfänger:innen streng ahndet, tut er kaum etwas dagegen, dass sich einige Kriminelle freimütig auf Kosten der Allgemeinheit bereichern. Er misst die Taten schlicht mit zweierlei Maß.
Schaden ohne Konsequenzen
Die Untätigkeit des Staates zeigt sich besonders gut bei der Verfolgung von sogenannten Tax Trades, also Wertpapiergeschäften wie CumEx und CumCum, die einzig auf Profite aus ungerechtfertigten Steuervorteilen zulasten öffentlicher Kassen angelegt sind. Bei CumEx-Geschäften lassen sich Akteure Kapitalertragsteuern erstatten, die vorher nie gezahlt wurden. Bei CumCum zahlen Akteure keine oder weniger Kapitalertragsteuer, als sie eigentlich müssten. Vorsichtig geschätzt haben CumEx und CumCum zusammengenommen bislang einen Schaden von rund 40 Mrd. Euro verursacht.
Während die CumEx-Aufklärung in den letzten Jahren zumindest etwas vorangekommen ist, stehen die Behörden bei CumCum noch am Anfang: Nach jüngsten Zahlen des Bundesfinanzministeriums haben die Finanzämter bis Ende 2024 weniger als ein Prozent des entstandenen Schadens rechtskräftig zurückgefordert.[3] Und das, obwohl der Bundesfinanzhof schon im Jahr 2015 eine gängige Variante von CumCum-Geschäften für illegal erklärt hat und weitere finanzgerichtliche Urteile folgten.
Die Tatenlosigkeit bei der Verfolgung von Wirtschaftskriminalität, wie sie bei illegalen Tax Trades exemplarisch sichtbar wird, schadet der Gesellschaft in mehrfacher Hinsicht. Offensichtlich sind die enormen finanziellen Einbußen: Milliarden, die Bund, Ländern und Kommunen eigentlich für öffentliche Aufgaben zur Verfügung stünden, versickern in kriminellen Kanälen. Die Folge sind kaputte Straßen und Brücken, überlastete Schienen, marode Schulen und löchrige Mobilfunknetze. Während die Koalition erbittert über Einsparungen im Sozialetat streitet, könnte eine entschlossene Bekämpfung von Wirtschaftskriminalität jährlich für Mehreinnahmen in Milliardenhöhe sorgen und den Haushalt nachhaltig entlasten.
Zweitens verursachen Wirtschaftskriminelle ökonomische Schäden. Insbesondere verschaffen sie sich durch illegale Praktiken unfaire Vorteile, die den Wettbewerb verzerren: Wer Steuern hinterzieht oder schwarzarbeiten lässt, kann Waren und Dienstleistungen billiger anbieten; wer Geld etwa im Immobiliensektor wäscht, lässt Objekt- und Mietpreise steigen. Das Nachsehen haben die ehrlichen Bürger:innen und Unternehmen.
Die Kleinen hängt man, die Großen lässt man laufen
Drittens nimmt der Rechtsstaat Schaden, wenn er den Eindruck vermittelt, dass unterschiedliche Maßstäbe gelten. Mit Härte verfolgt er Sozialleistungsbetrug, etwa das verspätete Melden einer Arbeitsaufnahme. Die Bundesagentur für Arbeit beziffert den dadurch entstandenen Schaden im Jahr 2022 auf rund 270 Mio. Euro. Das Dunkelfeld wird auf etwa 20 Mrd. Euro geschätzt[4], weit unterhalb der geschätzten Schäden, die durch Steuerhinterziehung und Geldwäsche entstehen. Trotzdem ist die Anklagequote hoch, Strafen für Betroffene deutlich spürbar. Besonders gravierender Sozialleistungsbetrug ist gesetzlich zudem als „Verbrechen“ im Sinne des Paragrafen 12 Strafgesetzbuch eingestuft. Diese Fälle können deswegen nicht durch schnelle Deals „abgekürzt“ werden, sondern alle Ermittlungsansätze müssen verfolgt und die Ermittlungen zu Ende geführt werden.
Zum Vergleich: Auch im Bereich von Wirtschaftskriminalität wird nur ein vergleichsweiser kleiner Teil der Fälle entdeckt und werden strafrechtliche Ermittlungen eingeleitet. Doch viele dieser Fälle – insbesondere im Bereich Steuerhinterziehung – kommen gar nicht erst zur Anklage. Soweit Anklage erhoben wird, enden wiederum viele Gerichtsverfahren mit Einstellungen oder Verfahrensabsprachen. Das ist möglich, weil selbst schwere Steuerhinterziehung rechtlich kein „Verbrechen“ darstellt und daher gegen – oft vergleichsweise geringe – Geldbuße eingestellt werden kann. Dass sich die oft wohlhabenden Täter hochqualifizierte Anwälte leisten können, die zu erheblicher Gegenwehr in der Lage sind, während Behörden gerade im Bereich von Wirtschaftskriminalität und Steuerhinterziehung häufig schwach aufgestellt sind, trägt erheblich zur Bereitschaft bei, langwierig und komplex erscheinende Verfahren auf diese Weise schneller zu beenden.
Wenn der Staat bei der Rechtsdurchsetzung gegenüber einkommensschwächeren Tätern härter vorgeht als gegenüber finanziell meist stark aufgestellten Wirtschaftskriminellen, verstößt dies gegen einen zentralen Grundsatz des Rechtsstaats, nämlich gegen Artikel 3 Grundgesetz: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.“ Die im Vergleich zum Umgang mit Wirtschaftskriminellen an den Tag gelegte Härte gegenüber den Schwächsten beschreibt der Journalist Ronen Steinke in seinem Buch „Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich“. Sein Fazit: Das Rechtssystem benachteilige ärmere Menschen.Auch im öffentlichen Diskurs dominiert das Thema Sozialhilfebetrug. Dagegen werden die Bekämpfung von schwerer Wirtschaftskriminalität wie CumEx und CumCum und die damit verbundene Möglichkeit, jährlich mehrere Milliarden Euro zurückzuholen, lediglich von Wirtschafts- und Finanzmedien regelmäßig aufgegriffen.
Die beschriebene Ungleichbehandlung kann man in einem Satz zusammenfassen: Die Kleinen hängt man, die Großen lässt man laufen. Die Folgen sind gravierend.
Zielgerichtet gegen die Gerechtigkeitslücke
Auf individueller Ebene zeigt sich, dass vermögende Personen rechtliche Grenzen eher überschreiten können, ohne zur Verantwortung gezogen zu werden. Wenn keinerlei Ahndung durch den Staat erfolgt und die Gesellschaft bereit ist, Taten wie Steuerhinterziehung als „Kavaliersdelikt“ zu entschuldigen, bildet sich eine Kultur der Gleichgültigkeit gegenüber Wirtschaftskriminalität. Dies kann sich sogar kriminalitätsfördernd auswirken, denn ein geringes Entdeckungsrisiko bildet einen hohen Tatanreiz[5], zumal die Täter selbst bei Entdeckung der Tat kaum eine Stigmatisierung durch die Gesellschaft zu befürchten haben.
Auf kollektiver Ebene leidet das Vertrauen in den Staat. Warum sollten Bürger:innen ihre Steuern korrekt zahlen, wenn andere ungestraft Millionen und Milliarden verschwinden lassen? Die wirtschaftspsychologische Forschung zeigt: Steuerehrlichkeit hängt wesentlich davon ab, wie handlungsfähig Menschen den Staat erleben und für wie gerecht sie seine Institutionen halten. Je weniger ausgeprägt dieser Eindruck ist, desto mehr steigt die Bereitschaft zum Fiskalbetrug.[6] Damit droht eine gefährliche Spirale: Weitestgehende Straffreiheit für Vermögende untergräbt die Steuermoral, sinkende Einnahmen verschärfen den Druck auf den Sozialstaat, Kürzungen belasten vor allem die Schwächeren. Das Ergebnis sind gesellschaftliche Spaltung und Vertrauensverlust in die Politik sowie den Rechtsstaat und seine Institutionen. In diesem Klima verfängt die Erzählung „Die da oben gegen uns da unten“ und bereitet einen fruchtbaren Boden für rechtspopulistische und verschwörungsideologische Bewegungen. Die Politik darf diese Gerechtigkeitslücke nicht länger hinnehmen.
Drei Handlungsfelder sind zentral für eine wirksame Verfolgung von Wirtschaftskriminalität: Erstens sind Behörden in allen Bereichen – Justiz, Polizei, Finanzverwaltung – operativ zu schwach aufgestellt. Sie sind chronisch unterbesetzt, technisch rückständig und schlecht vernetzt. Notwendig sind leistungsstarke Behörden mit ausreichend geschultem Personal, moderner Technik und klaren Zuständigkeiten. Damit sich Fachexpertise entwickeln kann, sollten Bundes- und Landesbehörden verstärkt Spezialist:innen statt Generalist:innen ausbilden. Für bessere Zusammenarbeit braucht es rechtliche Grundlagen für den Datenaustausch sowie eine einheitliche, moderne IT-Infrastruktur. Zudem wäre es insbesondere für die Verfolgung von Steuerhinterziehung wie CumEx, CumCum sowie Geldwäsche sinnvoll, eine zentrale Ermittlungsstelle auf Bundesebene zu schaffen. Denn dabei handelt es sich nicht um lokale Kriminalitätsphänomene, sondern um international organisierte Wirtschaftskriminalität. Dem kann eine spezialisierte, schlagkräftige Einheit auf Bundesebene besser begegnen als die zahlreichen Landesbehörden.
Verbesserungen hängen entscheidend vom politischen Willen ab. Die jeweils verantwortlichen Minister:innen müssen die von ihnen geleiteten Behörden unterstützen, indem sie Prioritäten festlegen und Arbeitsergebnisse evaluieren. Dass das gelingen kann, haben Minister in Nordrhein-Westfalen im Kampf gegen CumEx bewiesen: In seiner Zeit als Justizminister hatte Peter Biesenbach spezielle Stellen bei der Staatsanwaltschaft Köln für die Bearbeitung von CumEx-Fällen geschaffen, und sowohl der Innenminister als auch der Finanzminister in NRW sorgten zeitweise für mehr polizeiliche Ermittler:innen und Steuerfahnder:innen.
Finanzlobby einschränken
Für den Kampf gegen schwere Wirtschaftskriminalität muss zweitens die mächtige Finanzlobby zurückgedrängt werden. Seit drei Jahren gibt es in Deutschland das Lobbyregister, und die Finanzlobby steht seit jeher an seiner Spitze. Auch im Jahr 2024 stammten zehn der 100 finanzstärksten Registereinträge von Banken, Versicherern und der Fondsindustrie. Ihr Budget lag bei fast 40 Mio. Euro – mehr, als Auto- und Chemielobby zusammen zur Verfügung standen. Ihre Armada aus hunderten Lobbyist:innen bearbeitet mit oft irreführenden Argumenten und Narrativen Finanzpolitiker:innen und beeinflusst Gesetzgebungsprozesse. Die Finanzlobby ist damit den Vertreter:innen der Zivilgesellschaft klar überlegen. Dieses gefährliche strukturelle Ungleichgewicht in der Interessenvertretung ließe sich durch strengere Regeln korrigieren: Nötig sind ein aussagekräftigeres Lobbyregister mit Offenlegungspflichten für Lobbytreffen, verpflichtende Transparenzhinweise bei (steuer-)juristischen Fachaufsätzen, längere Karenzzeiten für Politiker:innen beim Wechsel in Wirtschaft und Verbände, mehr Transparenz für Nebenverdienste von Beamt:innen, insbesondere für oberste Bundesrichter:innen.[7]
Reform des Strafrechts
Auch müssen Politik und Verwaltung die Risiken durch Wirtschaftskriminalität viel ernster nehmen, als sie es bislang tun. Beispielsweise darf Steuerhinterziehung nicht länger milder behandelt werden als Sozialhilfebetrug. Gravierende Fälle der Steuerhinterziehung sollten genauso wie schwerwiegende Fälle des Betrugs als Verbrechen eingestuft werden mit der Folge, dass keine schnellen Deals mehr möglich sind. Nur das kann die systematische Ungleichbehandlung durchbrechen. Parallel dazu muss Wirtschaftskriminalität intensiver erforscht werden, um wirksame Prävention zu ermöglichen.Schließlich trägt auch die Gesellschaft Verantwortung. Noch immer gilt es als „clever“, den Fiskus auszutricksen. Solange Wirtschaftskriminalität verharmlost oder gar bewundert wird, fehlt der notwendige gesellschaftliche Druck zur Ächtung.
Nötig ist eine kulturelle Wende: Wirtschaftskriminalität, Steuerhinterziehung und Geldwäsche sind keine Kavaliersdelikte, sondern Angriffe auf das Fundament unseres Zusammenlebens. Sie nehmen dem Staat die Mittel, unsere Daseinsfürsorge zu garantieren. Die Tatenlosigkeit des Staates tut ihr Übriges. Wenn Gleichheit vor dem Gesetz nicht endlich durchgesetzt wird, steht nicht nur die Solidität des Haushalts auf dem Spiel, sondern die der Demokratie und des Rechtsstaats selbst.
[1] Vgl. Richard Murphy, The European Tax Gap, London 2019.
[2] Vgl. Joras Ferwerda u.a., The Economic and Legal Effectiveness of Anti-Money Laundering and Counter Terrorism Financing Policy in the EU (ECOLEF), Utrecht 2013.
[3] Vgl. Bundestag-DS 21/915.
[4] Vgl. Christoph Sackmann, Sozialbetrugsfall sorgt für Wirbel – wo der Staat jährlich 113 Milliarden Euro verliert, focus.de, 27.2.2024.
[5] Vgl. Johannes Kaspar, Die Möglichkeiten strafrechtlicher Prävention von Wirtschaftsdelinquenz aus kriminologischer Sicht, in: Britta Bannenberg und Jörg-Martin Jehle (Hg.), Wirtschaftskriminalität, Mönchengladbach 2010, S. 135-150.
[6] Vgl. Falk Tennert und Petra Arenberg, Steuermoral und Steuerehrlichkeit – Perspektiven auf Einstellungen, Emotionen, Gerechtigkeitswahrnehmung und innovative, praxisbezogene Konzepte, in: Matthias Hiller u.a., Finance-Perspektiven im Wandel, Wiesbaden 2024, S. 269-288.
[7] Vgl. Wolfgang Janisch, Justiz. Ein bisschen was nebenbei, sueddeutsche.de, 22.9.2024.