
Bild: Ein Auszubildender im Ausbildungszentrum der Bauindustrie in Oberhausen. Frühe Berufsorientierung und individuelle Betreuung sind der Schlüssel, wenn man die Zahl der Menschen ohne Abschluss senken will. Foto vom: 18.7.2024 (IMAGO / Funke Foto Services / Lars Fröhlich)
Die Zahl war lediglich einen Tag lang einige Schlagzeilen wert: Rund 2,9 Millionen junge Menschen zwischen 20 und 34 Jahren hierzulande haben keinen Berufsabschluss, so stand es im Entwurf des Berufsbildungsberichtes im April. Das war‘s. Nach einem Tag war es kein Thema mehr. Als der Bericht kurz darauf erschien, gab es nur noch müdes mediales Geplätscher.[1] Dabei ist dies eine unfassbare Zahl, mitten in einem weiteren Rekord, dem Fachkräftemangel. Kein Tag vergeht, an dem nicht irgendwo analysiert, geschätzt, prognostiziert wird, wer wo fehlt. Mitten in der Debatte darüber, wie viele Hunderttausende Arbeitskräfte wir aus dem Ausland brauchen, damit Autobau, Straßenbau oder Pflege auch künftig stattfinden und dadurch Infrastruktur, Verteidigung, Krankenkasse, Bildung und Rente finanziert werden können, schaut man achselzuckend zu, wie fast drei Millionen junge Frauen und Männer Gefahr laufen, irgendwo in der großen deutschen Niedriglohnklasse zu verschwinden.
Dabei ist es nicht nur ein Fachkräfteproblem: Keinen Berufsabschluss zu haben, hat viele Folgen. Menschen ohne Berufsabschluss sind öfter und schneller arbeitslos als andere. Bei ihnen liegt die Arbeitslosenquote bei fast 21 Prozent, mit Berufsabschluss liegt sie gerade einmal bei drei Prozent.[2] Sie verdienen weniger als Menschen mit Abschluss. Sie sind häufiger krank, weil sie oft die schweren körperlichen Jobs machen, die andere nicht machen wollen.[3] Wie viele von ihnen später nur wenig Rente bekommen, wird nicht erfasst – aber die These, dass es viele sein dürften, ist nicht besonders steil.
Ganz abgesehen davon, was es individuell für jeden dieser Menschen bedeutet, keinen Abschluss zu haben, kostet es also den Staat Geld, wenn Menschen den Sprung in einen Ausbildungsberuf nicht schaffen: Es kostet (aufstockende) Grundsicherung und höhere Gesundheitskosten, zugleich fehlen Einnahmen aus der Arbeitslosen-, Kranken- und Pflegeversicherung.
Alle selbst schuld? Nein. Die wenigsten Betroffenen sind gelangweilte Abiturienten, die feststellen, dass sie statt Ausbildung lieber eine Karriere à la Joschka Fischer starten wollen, dem ehemaligen grünen Bundesaußenminister, der ebenfalls keine hat.
Es gibt eine typische Ausgangslage für den gescheiterten Berufsübergang: Die meisten dieser jungen Menschen haben schon den Schulabschluss nicht geschafft. Darunter sind wiederum viele aus Förderschulen, also mit besonderen Bedarfen. Es sind vor allem junge Männer. Und es sind viele darunter, die einen Migrationshintergrund haben. Hinzu kommen jene, die die Schule noch schaffen, aber anschließend ihre Ausbildung abbrechen. Eine Rekordzahl – fast jeder dritte Auszubildende – steigt inzwischen mittendrin aus[4], niemand erhebt, wie viele dieser jungen Menschen danach lieber gleich arbeiten gehen, als eine neue Lehrstelle zu suchen. Schließlich lockt das leicht verdiente Geld: Der Lohn eines Verkäufers in Ausbildung im ersten Lehrjahr beträgt unter 1000 Euro brutto – eine Warenverräumerin ohne Ausbildung bei Lidl steigt aber schon mit rund 1600 Euro brutto ein.[5]
Dass dies langfristig keine gute Perspektive ist – weder kann man eine Familie davon ernähren noch später eine ausreichende Rente beziehen –, davon haben Schulen viele Jugendliche offenbar nicht überzeugen können. Hinzu kommt, dass viele, gerade migrantische Eltern, nicht wissen, wie das duale Ausbildungssystem funktioniert, und daher nicht beraten können. Was umso dramatischer ist, weil Eltern zu den wichtigsten Ratgebern in Sachen Berufsfindung zählen.
Warteschleifen ohne Übergang
Allerdings gäbe es eine reelle Chance, die Jugendlichen abzuholen – immer zum Ende der Schulzeit. Dann könnte die Bildungsrepublik, der Industriestandort, das international geachtete Land der dualen Ausbildung diese an die Hand nehmen und detailliert aufzeigen, wie man in eine der über 300 dualen Ausbildungen oder über 150 Schulausbildungen einsteigen kann.
Zwar gibt es ein solches Betreuungsangebot, aber es ähnelt eher einem Dschungel als einem durchdachten System: Laut Bundesinstitut für berufliche Bildung (Bibb) überbieten sich Bund, Länder und Kommunen zusammen mit hunderten Trägern mit Ideen dazu, wie jenen, die die Schulen hoffnungsarm verlassen, geholfen werden kann. Demnach gibt es 160 Programme von Bund und Ländern zu Berufsorientierung, Berufsvorbereitung oder Übergangsmanagement, in denen beraten und vermittelt wird. Hinzu kommen 115 schulische Bildungsgänge ohne berufsqualifizierten Abschluss. Dazu zählen Berufsvorbereitung, Berufsgrundbildungsjahr, Einstiegs- oder Integrationsklassen und allerlei weitere lokale Initiativen.
Über 260 teure Bemühungen, junge Menschen in Berufe zu bekommen. Und zugleich ein Rekord von 2,9 Millionen jungen Menschen, die keinen Abschluss haben. Warum funktioniert das alles nicht? Viele dieser Maßnahmen sind sinnvoll. Manche Jugendliche brauchen einfach Zeit, um herauszufinden, was sie möchten. Andere lernen Wichtiges dazu, wie Deutsch, oder holen den Schulabschluss nach. Aber viele Maßnahmen führen nicht in eine Berufsausbildung, sondern entwickeln sich zu unendlichen Warteschleifen ohne Übergang, die die Jugendlichen irgendwann entnervt verlassen.
Theoretisch könnte man diesen Dschungel ausforsten und einfach jene Maßnahmen rausfiltern, die wirklich in eine Ausbildung führen. Aber dazu müssten Daten vorliegen – aus den Schulen, den Betrieben, von den Maßnahmen –, sie müssten ausgetauscht und vor allem ausgewertet werden. Sie liegen aus drei Gründen nicht vor: Erstens, weil Bildung Ländersache ist und Arbeitsmarktpolitik Bundessache, und weil damit der Austausch nicht erlaubt ist. Zweitens, weil die eigentlich 2020 eingeführte Schülerdatennorm bis heute nicht von allen Bundesländern erfüllt wird. Diese Norm verpflichtet die Länder, Schülerdaten wie Name, Adresse und Schulgang an die Arbeitsagentur zu melden. Und sie liegen drittens deshalb nicht vor, weil das immerhin in Eckpunkten vorhandene Forschungsdatengesetz bislang am Datenschutz scheitert.[6]
Trotz dieser fehlenden Daten ist durchaus bekannt, wie es gehen könnte. Es gibt einen Vorreiter, der zeigt, wie man die Jugendlichen auffängt: Egal mit welchen Expertinnen und Experten man spricht, irgendwann fällt immer der Hinweis: Hamburg. Der Stadtstaat hat vor einigen Jahren die Reißleine gezogen, weil rund 8000 Jugendliche die Schule verließen, ohne dass man wusste, was sie danach machen. Also wurde mit allen Beteiligten der Dschungel durchforstet, ein elftes Schuljahr für Minderjährige eingeführt – fast bundesweit inzwischen Usus –, der Datenaustausch forciert und Betriebe gesucht, die kooperieren. Seitdem ist bekannt, wo Jugendliche ohne Schulabschluss stecken, was sie können und was sie brauchen.
Hamburg und Kirchmöser: Zwei Leuchttürme
Und es gibt auch in einem kleineren Format Vorbilder: Die berufsorientierte Schule in Kirchmöser bei Brandenburg. Dort gehen alle Jugendlichen ab der 7. Klasse einen Tag pro Woche nicht in die Schule, um das Curriculum durchzunehmen, sondern absolvieren in Betrieben Praktika. Für jeden Schüler gilt: zwölf Wochen Holz, zwölf Wochen Metall, zwölf Wochen soziale Einrichtungen. Rund 90 Betriebe stehen dafür unter Vertrag. Wenn man den Schulleiter fragt, wie viele seiner Schülerinnen und Schüler nach der Schule einen Ausbildungsplatz haben – ohne die, die das Abitur anstreben –, dann sagt er: „Mit wenigen Ausnahmen – alle“. Weil die Betriebe die jungen Bewerber kennen und weil die jungen Bewerber wissen, was das ist: Ausbildung.
Richtig ist: Weder Hamburg noch Kirchmöser sind leicht übertragbar. Schulgesetze in Flächenländern zu ändern, ist wesentlich komplizierter als in einem Stadtstaat. Wo es wenige Betriebe gibt, ist es schwierig, Kooperationspartner zu finden. Und man kann es auch schlicht falsch kopieren: Berlin, das einzige Bundesland, das bisher kein 11. Pflichtschuljahr hatte, zieht ab dem nächsten Schuljahr nach – dort verschwinden Jahr für Jahr 3000 Jugendliche ohne einen Schulabschluss von der Schule. Doch so sinnvoll die Idee ist, sie hapert massiv an der Umsetzung: Wenige Wochen vor dem Start fehlen Räume, Betriebe, Lehrpersonal und eine kohärente Strategie. Schlechte Kopien sind keine gute Lösung.
Dabei ist das Erfolgsgeheimnis, das Hamburg und Kirchmöser verbindet, einfach: frühe Berufsorientierung und individuelle Betreuung. Das ist nicht neu, die Kultusministerkonferenz hat bereits in den 1960er Jahren die frühe Vorbereitung auf den Beruf gefordert. Und in den Stellungnahmen zu den nationalen Bildungsberichten taucht diese Forderung immer wieder auf, vom Bibb, von den Arbeitgebern und von den Arbeitnehmern: Je früher, je praxisorientierter, je kontinuierlicher, je individueller die Berufsorientierung ist, desto besser. Stattdessen aber wird sie noch immer stiefmütterlich behandelt: mit überforderten Lehrenden, die nicht für alles zuständig sein können, mit zu kurzen und zu seltenen Praktika, mit viel zu wenig Einblicken in Unternehmen.
Der Ernst des Lebens, der Beruf, den man jahrzehntelang ausüben soll, wird in Schulen oft wie eine finstere Bedrohung behandelt, mit der man möglichst spät zu tun haben sollte.
Helfen sollten seit 2010 stattdessen bundesweit die sogenannten Jugendberufsagenturen: Anlauf- und Servicestellen, in denen Jugendliche, Eltern und Lehrende Beratung bekommen, wie Ausbildung organisiert und was alles möglich ist. Sehr sinnvoll, längst ein fester Bestandteil in Hamburg. Doch 14 Jahre später fehlen bundesweit noch viele von ihnen und bei den Bestehenden ist die Qualität nicht gesichert. Heißer Tipp vom Bibb dazu: Die Jugendberufsagenturen spielen eine „zentrale Rolle“, müssten aber ihr Angebot überprüfen und verbessern.[7]
Richtig neu ist das vielgelobte Startchancen-Programm, vereinbart zwischen Bund und Ländern. Es umfasst 20 Mrd. Euro, läuft zehn Jahre, soll 4000 Schulen erreichen – und sei das größte Bildungsprogramm aller Zeiten. 60 Prozent für Grundschulen, der Rest für weiterführende Schulen, explizit auch für die Berufsvorbereitung.
Doch: Was heißt in dem Fall „groß“? Zum Vergleich: Für die geplante Intel-Fabrik in Magdeburg gibt es zehn Mrd. Euro Förderung, dort werden 3000 Arbeitskräfte gebraucht. Hoffentlich kriegt eine der Schulen in Magdeburg vom Startchancen-Programm etwas ab für zukünftige Arbeitskräfte –, denn das ist bei rund 33 500 Schulen bundesweit nicht gesagt. Alle Schülerinnen und Schüler, die eine Startchance brauchen, aber nicht ins Programm kommen: Pech gehabt. So teuer geht Scheitern.
Es hapert an der Weiterbildung
Theoretisch – aber nur theoretisch –, könnte ein junger Mensch ohne Abschluss alles nachholen in seinem Leben. Das Problem ist aber nicht nur die schlechte Förderung am Anfang. Es setzt sich fort, wenn Menschen ohne Berufsabschluss älter werden. Denn ausgerechnet sie, die so viel davon profitieren würden, lernen viel zu selten dazu, auch und obwohl sie es nachweislich möchten.[8] Gut, Weiterbildung ist insgesamt nicht sehr beliebt in Deutschland: Nur 8,1 Prozent der Deutschen bildeten sich 2022 fort, damit gehört Deutschland zu den Schlusslichtern in der EU. Zum Vergleich: In Schweden waren es 36 Prozent. Und hierzulande bilden sich besonders Angestellte und Beamte fort, danach kommen Arbeiterinnen und Arbeiter. Weil diese und andere nicht wollen? Nein. Weil das Weiterbildungssystem zutiefst ungerecht strukturiert ist. Ausgerechnet jene, die am meisten davon profitieren würden, kommen in Deutschland an Weiterbildung nicht heran, schrieb die OECD 2021 in ihrem Weiterbildungsbericht. Wer qualifiziert schon die Hilfskraft, wenn die Fachkraft eine Weiterbildung braucht? Die Teilnahme sei bei den weniger Qualifizierten „besonders ungleich verteilt“.[9] Das System sei unübersichtlich und es gebe keine Standards, was Anbieter qualitativ mindestens bieten müssen. Diese scharfe Kritik stammt aus einer Zeit, als von der immensen Kraft der Künstlichen Intelligenz, die gerade dazu übergeht, etliche Jobs irreversibel umzukrempeln, und Weiterbildung notwendig macht, noch nicht die Rede war.
Auch hier gilt: Natürlich gab und gibt es staatliche Förderung. Wie das WeGeBau-Programm der Bundesagentur für Arbeit, entstanden 2006, zur Weiterbildung gering qualifizierter und älterer Arbeitnehmer. Daran teilgenommen haben „eher wenig“ Menschen, drückt sich das Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung vorsichtig aus, und dann folgt die übliche Litanei der Probleme: zu unbekannt, zu komplex, zu hoher Aufwand. Besonders in ländlichen Regionen gibt es auch zu wenig passende Angebote. Seit 2019 ist es überführt in das Qualifizierungschancengesetz. Die Liste der Kritikpunkte daran ist lang und erzählt viel über Bürokratie und wenig über Erfolg.
Ein anderer Blick auf die gesamte Misere ist: Alles nicht so schlimm. Schließlich sind nicht alle, die keinen Abschluss haben, arbeitslos. Im Gegenteil. Das Bundesamt für Statistik weist insgesamt sieben Millionen Beschäftigte ohne Berufsabschluss aus, Millionen, die alles wegarbeiten, was andere nicht machen (wollen), und die auf ihre Art vermutlich Experten geworden sind, nur ohne Papier. Das kann man gut finden. Nur darf man dann nicht über Fachkräftemangel jammern.
[1] Vgl. Bundesministerium für Bildung und Forschung, Berufsbildungsbericht 2024, bmbf.de, 8.5.2024.
[2] Bundesagentur für Arbeit, Arbeitsmarktbericht Dezember 2023, arbeitsagentur.de, 3.1.2024.
[3] Thomas G. Grobe, Susanne Steinmann und Julia Gerr, Barmer Gesundheitsreport 2018. Schriftenreihe zur Gesundheitsanalyse, Band 9, barmer.de, Mai 2018.
[4] Vgl. BIBB, Pressemitteilung: Vertragslösungsquote in der dualen Berufsausbildung auf neuem Höchststand, bibb.de, 9.11.2023.
[5] Vgl. Kommissionierer – Jobs, Gehalt und Berufsbild, jobs.lidl.de.
[6] Vgl. Forschungsdatengesetz. Leopoldina fordert frei zugänglichen Daten-Pool, forschung-und-lehre.de, 14.5.2024.
[7] Vgl. Gemeinsame Stellungnahme des Hauptausschusses des BIBB zum Entwurf des Berufsbildungsberichts 2024, bibb.de, 8.5.2024.
[8] Berufsbildungsbericht 2024, a.a.O., S 109.
[9] OECD, Continuing Education and Training in Germany, oecd-ilibrary.org, 23.4.2021.