
Bild: Die »Bloquons tout«-Proteste sollen Frankreich lahmlegen. Ein Demonstrant in Straßburg bringt die Lage auf den Punkt, 18.9.2025 (IMAGO / PsnewZ)
Der Knall kam mit Ansage: Am 8. September stürzte der französische Premierminister François Bayrou über eine von ihm überraschend angesetzte Vertrauensabstimmung. Der liberale Politiker erreichte dabei etwas Bemerkenswertes: In einem tief gespaltenen Parlament, in dem kein Lager auf eine Mehrheit kommt, stimmte eine überwältigende Zahl von 364 der 573 Abgeordneten gegen ihn, darunter 13 der mitregierenden Konservativen. Bayrou war bereits der vierte Premier in rund anderthalb Jahren; nun muss mit Sébastien Lecornu ein fünfter sein Glück versuchen. Bayrous liberal-konservative Regierung war bloß neun Monate im Amt, immerhin sechs Monate länger als das vorherige Kabinett. Lecornu soll nun bis zur Präsidentschaftswahl 2027 durchhalten. Ob ihm das gelingen wird, ist allerdings schon jetzt fraglich.
Massiver Gegenwind kommt jedenfalls nicht nur von den Oppositionsbänken, sondern auch aus der Gesellschaft: Zwei Tage nach der Abstimmung in der Assemblée nationale füllten sich die Straßen des Landes mit Demonstranten. Schon bevor Bayrou sein politisches Schicksal in die Hand der Abgeordneten legte, hatte Bloquons tout angekündigt, das Land lahmlegen zu wollen. Die neue Bewegung organisiert sich dezentral und wird aufgrund ihrer politischen Heterogenität mit den Gelbwesten verglichen. Anders als bei den Gilets Jaunes dominieren bei Bloquons tout derzeit allerdings linke Strömungen.[1] Und schon eine Woche später folgte der nächste landesweite Protesttag, dieses Mal organisiert von den Gewerkschaften. So wirken die Ereignisse dieses Septembers wie eine neue Episode in der Geschichte vom scheinbar unregierbaren Frankreich, in dem „Kompromiss“ und „Koalition“ exotische Fremdwörter zu sein scheinen.
Diese Wahrnehmung ist nicht falsch, aber sie erfasst nur einen Teil der Geschichte. Denn der Tumult in Paris weist in seiner Bedeutung weit über die Landesgrenzen hinaus. Frankreich wird von etwas erschüttert, das in weniger harter Form auch in anderen Teilen Europas auftritt: die Rückkehr der Sparpolitik. Nach 20 Mrd. Euro im vergangenen Haushalt wollte Bayrou im künftigen Budget 43,8 Mrd. Euro einsparen. Alle sollten ihren „bescheidenen“ Beitrag leisten, so der gestürzte Premier in seiner Rede am 8. September[2] – außer jenen, die am meisten beizutragen hätten. Renten und Sozialleistungen sollten eingefroren, die Feiertage am Ostermontag und am 8. Mai gestrichen werden, doch neue Abgaben für die Reichen bot Bayrou erst an, als sich alle Oppositionsparteien schon auf seine Abwahl festgelegt hatten. Frankreichs Regierung hat den Preis der Austerität gezahlt.
Debatten um Haushaltskürzungen gibt es auch in anderen europäischen Ländern, etwa in Großbritannien, Rumänien oder der Bundesrepublik. Aber Frankreich steht stärker im Fokus: Unter den Eurostaaten sind nur Griechenland und Italien stärker verschuldet. 5,8 Prozent beträgt das Defizit, gemessen am Bruttoinlandsprodukt, fast doppelt so viel, wie es die EU-Regeln vorsehen. Zudem sind die Schulden unter Präsident Emmanuel Macron – auch aufgrund externer Schocks wie der Coronapandemie und dem Ukrainekrieg – massiv angewachsen. Die Ratingagenturen bewerten das Land zunehmend kritischer.
Griechenland als Schreckgespenst
„Wir dürfen nie das Beispiel Griechenland vergessen“, hatte Bayrou angesichts dessen gemahnt. Wenn Frankreich jetzt nicht spare, werde es später zu viel härteren Kürzungen gezwungen sein – auch gegen seinen Willen. Er erinnerte an das Referendum gegen die Sparpolitik, das der linke Premier Alexis Tsipras im Juli 2015 einberufen hatte: „Sonntag hat er es mit großem Vorsprung gewonnen, und Donnerstag war er gezwungen, alles zu unterschreiben, was man von ihm verlangte, und was er niemals zu akzeptieren geschworen hatte.“ Bayrou verwies auf die harschen Vorgaben, die Griechenland von EU-Kommission, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds (IWF) gemacht wurden und die nicht zuletzt um ein knappes Drittel gekürzte Renten vorsahen: „Genau das wollen wir nicht.“[3]
Wiederholt sich also die Geschichte? Gut zehn Jahre, nachdem der Konflikt um die Athen aufgezwungenen Sparprogramme die Eurozone in eine ernste Krise gestürzt hatte[4], wird jetzt Frankreich zum wirtschaftlichen Sorgenkind Europas stilisiert. Doch anders als seinerzeit Griechenland steht Frankreich, den dramatischen Worten Bayrous zum Trotz, nicht am Rande einer Finanzkrise oder gar eines Staatsbankrotts, dafür ist es wirtschaftlich deutlich zu stark. Lecornu betont daher zwar die Notwendigkeit, die Schulden zu reduzieren, hat sich aber implizit vom Alarmismus seines Vorgängers abgesetzt und erklärt, er sehe den IWF noch nicht „vor den Toren von Bercy“, dem Sitz des französischen Wirtschafts- und Finanzministeriums.[5]
Naheliegender ist der Vergleich mit der Eurokrise aber in politischer Hinsicht: Austeritätspolitik, das haben die 2010er Jahre gezeigt, produziert ein explosives Maß an Ungleichheit, das weite Teile der Gesellschaft nicht hinzunehmen bereit sind, und hat damit die politische Landschaft in zahlreichen europäischen Ländern gehörig durcheinandergewirbelt. Jedoch sind die Bedingungen heute deutlich andere als noch vor zehn Jahren: Europas einstige linke Hoffnungsträger sind abgestürzt, die ehemaligen Regierungsparteien Syriza und Podemos liegen in Umfragen derzeit um die fünf Prozent und kämpfen gegen die politische Bedeutungslosigkeit an. Jeremy Corbyn wiederum, einst der Protagonist der antineoliberalen Sozialdemokratie in Europa, gründet momentan eine Splitterpartei, deren Vertreter vor allem durch wüsten Antizionismus auffallen. Auch in Frankreich ist es fraglich, ob die Linke von der jetzigen Debatte profitieren kann – oder nicht doch eher wie vielerorts in Europa die extreme Rechte.
Schon jetzt ist die stärkste Oppositionspartei – im Parlament wie in den Umfragen – der Rassemblement National. Von den drei politischen Blöcken in Frankreich ist die extreme Rechte deutlich geeinter als das liberal-konservative und das linke Lager, die beide in ihrem Inneren von persönlichen Rivalitäten und fundamentalen strategischen Differenzen zerrissen sind. Die Gefahr, dass Präsidentschaft und Regierung an die extreme Rechte fallen, ist so groß wie nie in der Fünften Republik.
Der schwere Abschied von den alten Gewissheiten
Dennoch agierten Frankreichs Demokraten in den vergangenen Wochen, als würden die alten Gewissheiten noch gelten. Lange war die Rollenverteilung zwischen ihnen klar: Die bürgerliche Rechte verkündete Einschnitte im Sozialstaat, die Linke mobilisierte die Straße, und die Regierung saß das entweder aus oder zog bei zu großem Druck ihr Vorhaben zurück. In Zeiten der Bipolarität aus Konservativen und Sozialisten hatten solche politischen Krisen überschaubare Folgen: Sie gefährdeten allenfalls die politische Karriere eines Premierministers, nicht aber die Demokratie selbst. Doch nun, da die einstigen großen Volksparteien vielleicht dauerhaft geschwächt sind, spielen solche politischen Turbulenzen der extremen Rechten in die Hände: Den einen präsentiert sie sich als Stabilitätsanker angesichts der angeblichen Unregierbarkeit des Landes, den anderen als Anwalt der Schwachen gegenüber einer scheinbar entrückten Elite. Wenn die demokratischen Parteien eine Regierung unter Führung des Rassemblement National verhindern wollen, bleibt ihnen nur ein in Reden oft geforderter, aber von ihnen ungeliebter Schritt: die Suche nach einer lagerübergreifenden Verständigung.
Umso unverständlicher war es, dass Bayrou nicht den Schulterschluss mit einem Teil der Linken suchte. Seine Minderheitsregierung konnte schon den bisherigen Haushalt nur mit Hilfe der Sozialisten verabschieden. Diese mussten aber feststellen, dass ihre grundsätzliche Bereitschaft, eine Mitte-rechts-Regierung zu stützen – ein Novum in der Geschichte der Fünften Republik – nicht auf eine ähnliche Dialogbereitschaft seitens der bürgerlichen Rechten traf. Denn Bayrou konsultierte die Sozialisten nicht, sondern stellte sie mit Budgetentwurf und Vertrauensfrage vor vollendete Tatsachen. So handeln Frankreichs Politiker zwar oft, es passt aber nicht mehr in die Zeit. Im Endeffekt läutete der Premier damit sein eigenes Ende ein und wählte nicht die mühsame Verständigung, sondern den Abgang mit großer Geste.[6]
Macron machte es aber kaum besser: Einerseits forderte er sein Lager zur Zusammenarbeit mit den Sozialisten auf und setzte sich damit von Teilen der mitregierenden Konservativen ab, die eine Koalition mit den Sozialisten kategorisch ausgeschlossen hatten. Andererseits präsentierte er mit Lecornu einen ihm treu ergebenen Gefolgsmann als neuen Premier, ohne vorher mit der Linken gesprochen zu haben. Eine „Provokation“ nannte das Marine Tondelier, die Generalsekretärin der Grünen. Und die Sozialisten erklärten umgehend, unter diesen Bedingungen nicht in die Regierung eintreten zu können – schlugen aber die Tür für Gespräche nicht zu.[7]
Die undankbare Aufgabe, diesen Flurschaden wieder zu bereinigen und zu tragfähigen Absprachen mit der Linken zu kommen, überließ Macron dem neuen Regierungschef. Das wäre immer eine schwere Aufgabe gewesen, durch die Haushaltsverhandlungen wird sie aber enorm verkompliziert. Bis Ende des Jahres muss das Budget in Kraft treten, und die Vorstellungen von Regierung und linker Opposition liegen sehr weit auseinander. Immerhin will es Lecornu mit Rückendeckung Macrons mit einer neuen Methode versuchen – und erst eine inhaltliche Einigung mit den Parteien erzielen, bevor er eine Regierung ernennt. Viel wird davon abhängen, ob Lecornu seine Ankündigung einhält, auch inhaltlich etwas zu ändern. In seinem ersten großen Interview demonstrierte er jedenfalls Dialogbereitschaft: Feiertage werde er nicht streichen, aber gerne mit der „republikanischen Linken“ aus Sozialisten, Grünen und Kommunisten verhandeln – auch über Steuergerechtigkeit und Verteilungsfragen.[8]
Die Linke in der Zwickmühle
Damit griff er eine Kernforderung des dialogbereiten Teils der Linken auf. Auch die Sozialisten wollen das Defizit reduzieren, setzen dabei aber neben Subventionskürzungen und Verschlankungen in der Ministerialbürokratie vor allem auf ein ganzes Paket an Steuern für Wohlhabende und große Unternehmen. Allein die nach dem Ökonomen Gabriel Zucman benannte „Zucman-Steuer“ von zwei Prozent auf Vermögen oberhalb von 100 Mio. Euro soll 15 Mrd. Euro in die Staatskasse spülen.[9] Selbst Vertreter des rechten Flügels wie Ex-Präsident François Hollande machen solche Steuern zur Bedingung, um zu einer Einigung mit dem Regierungslager zu kommen.
Das ist für die gemäßigte Linke eine Frage der Glaubwürdigkeit. Denn die Wut auf Macron ist nicht nur, aber gerade im linken Milieu so groß, dass jeder Kompromiss mit seinem Lager äußerst kritisch beäugt wird. Exemplarisch für diese Ablehnung steht ein aktuelles Editorial der kommunistischen Tageszeitung „L’Humanité“: „Macron ist das Gesicht einer kapitalistischen Oligarchie, die noch nie gezögert hat, die Demokratie zu verleugnen, wenn ihre Privilegien bedroht sind.“[10] Die Linkspopulisten um Jean-Luc Mélenchon reiten auf dieser Anti-Macron-Stimmung und fordern bei jeder sich bietenden Gelegenheit vorgezogene Präsidentschaftswahlen.
Aber Sozialisten, Grünen und Kommunisten geht es noch um etwas viel Grundsätzlicheres: die Bewahrung des sozialen Friedens. Der gesellschaftliche Unmut über die Haushaltspolitik der Regierung ist Ausdruck eines tief verletzten Gerechtigkeitsempfindens in der Bevölkerung. Das geht weit über die linke Wählerschaft hinaus und ist derzeit eher ein weiterer Treiber für die Radikalisierung nach rechts.
Lecornu und die republikanischen Kräfte stehen nun vor einer gigantischen Aufgabe: Sie müssen ein Budget präsentieren, das für politisch sehr unterschiedliche Parteien zumindest akzeptabel ist – und vor allem die aufgeheizte Stimmung im Land beruhigt. Ein Mindestmaß an politischer Stabilität und sozialem Ausgleich wird Linken, Liberalen und Konservativen schmerzhafte Kompromisse abverlangen, auch weil sie ihre Differenzen angesichts des Defizits kaum mit Geld übertünchen können.
Doch diese Kompromisssuche ist jede Mühe wert: Denn der Preis der Austerität könnte die französische Demokratie sein. Das wäre eine bittere Volte: Derselbe Macron, der mit strategischem Weitblick Europa gegen die Bedrohung durch Putins Russland stärken will, hätte dann mit seiner Politik im Inneren den weiteren Aufstieg der Putin-treuen extremen Rechten beschleunigt. Eine Präsidentin oder ein Präsident aus den Reihen des Rassemblement National ausgerechnet in einem Land, das mit seiner Tradition von Aufklärung und Menschenrechten als ein Geburtsort des Westens gilt: Für den Kreml und andere autoritäre Kräfte weltweit wäre das symbolisch wie machtpolitisch ein enormer Triumph.
[1] Vgl. „L’aile gauche de ‚Bloquons tout‘ semble s’être davantage mobilisée que son aile droite“, nouvelobs.com, 10.9.2025.
[2] Zit. nach: Manon Bernard, Margaux Otter und Thibault Caïe, Gouvernement renversé: revivez les événements de ce lundi 8 septembre, nouvelobs.com, 8.9.2025.
[3] Zit. nach: Hassina Dris, „Exactement ce que nous ne voulons pas“: Bayrou prend l’exemple de la Grèce en 2015, est-ce que la situation est si grave?, lavoixdunord.fr, 15.7.2025.
[4] Steffen Vogel, Grexit verhindert, Europa verspielt?, in: „Blätter“, 8/2015, S. 5-8.
[5] Zit. nach: Sébastien Lecornu, le „bon soldat“ de la macronie promu à Matignon, france24.com, 9.9.2025.
[6] Vgl. Après la chute du gouvernement Bayrou, le président de la République dans un champ de ruines, lemonde.fr, 9.9.2025.
[7] Zit. nach: Lecornu nommé Premier ministre: „dernière cartouche du macronisme“, „triste comédie“… Les réactions politiques, nouvelobs.com, 9.9.2025.
[8] Vgl. Entretien. „Je retire la suppression de deux jours fériés“, annonce Sébastien Lecornu à Ouest-France, ouest-france.fr, 13.9.2025.
[9] Matthieu Aron, 26 milliards de recettes supplémentaires… Les socialistes dégainent leur budget face à Bayrou, nouvelobs.com, 30.8.2025.
[10] Rosa Moussaoui, Sébastien Lecornu nommé Premier ministre: Macron persiste et signe, humanite.fr, 10.9.2025.