Zur Kritik eines neuen Grundwerts
I
Die Grünen, geschockt von miserablen Wahlergebnissen, der Zerrüttung der Koalition und sichtlicher Orientierungslosigkeit, werden über kurz oder lang ihr programmatisches Selbstverständnis überarbeiten. Angesichts des Veraltens aller ökosozialistischen Träume, der Konturenlosigkeit der Regierungsrealpolitik und der Anonymität der noch geltenden Parteiprogramme scheint - sofern es für all dies nicht ohnehin zu spät ist - eine Art grünes Bad Godesberg ins Haus zu stehen. Wie bei anderen Parteien gilt auch hier, dass die Wirkung von Programmen weder unter- noch überschätzt werden sollte. Tatsächlich orientiert sich die Wählerschaft nur begrenzt an programmatischen Details, entscheidend scheint immer - siehe Godesberg oder das Freiburger Programm der FDP - ihr Gesamtzuschnitt zu sein. Um so bedeutsamer werden programmatische Debatten jedoch für die innere Geschlossenheit von Parteien und damit für ihre Kampfbereitschaft nach außen: Der über ihre oft widersprüchlichen Formelkompromisse entbrannte Streit wirkt als Integrationsfaktor. Insoweit stellen Programme nicht mehr, aber auch nicht weniger als gleichsam notarielle Beglaubigungen argumentativer Spielräume dar. Immerhin lassen sich mit auffälligen Programmen Distinktionsgewinne auf dem Wählermarkt erzielen.