Ausgabe Dezember 2002

Das wunderbare Überleben

1939: Die deutschen Truppen erreichen die polnische Hauptstadt Warschau. Der Pianist Wladyslaw Szpilman spielt gerade im Rundfunkstudio, als eine Bombe das Haus trifft. Am Beispiel dessen gut situierter Familie entfaltet Roman Polanski die unmenschliche Logik des Holocaust. Juden dürfen ihre Berufe nicht mehr ausüben, ihr Besitz wird beschlagnahmt, sie werden gedemütigt und schließlich ins Ghetto verschleppt. Von dort fahren täglich die Züge ins Vernichtungslager. Polanski inszeniert die Szenen des Terrors so klar, schonungslos und überzeugend, dass sie für den Zuschauer den Rang von eigenen Erlebnissen annehmen können. Ihre Glaubwürdigkeit ist an die Lebendigkeit der Bilder nationalsozialistischer Unterdrückung gebunden, die das kollektive Bewusstsein (immer noch) bereithält. Dass Der Pianist sie nachhaltig reaktiviert, ist ein nicht zu unterschätzendes Verdienst.

Polanski erzählt die Geschichte des wirklichen Szpilman. Der gehörte, wie Polanski selbst, zu den 20 – von 360000 Bewohnern –, die das Ghetto und den Krieg überlebt haben. Es fällt auf, dass im Mittelpunkt neuerer Filme zum Thema, so etwa Das Leben ist schön oder Steven Spielbergs Schindlers Liste, stets gerettete Opfer stehen – und „anständige“ Deutsche. Beide waren historische Ausnahmen, die fiktive Welt des kommerziellen Spielfilms scheint jedoch auf sie angewiesen zu sein.

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Aktuelle Ausgabe September 2025

In der September-Ausgabe plädiert Lea Ypi für eine Migrationsdebatte im Sinne der Aufklärungsphilosophie. Cinzia Sciuto fordert, der zunehmenden Aushöhlung des Völkerrechts mit einer entschiedenen Verteidigung desselben zu begegnen – und nicht mit Resignation und falschem Realismus. Für Georg Diez markieren die Kriegsverbrechen in Gaza und die fehlenden Reaktionen darauf einen Epochenbruch; sie stünden für nicht weniger als den Verrat des Westens an der Humanität. Herfried Münkler analysiert, wie Kriege historisch endeten und Friedenszeiten begannen und was das mit Blick auf den Ukrainekrieg bedeutet. Simone Schlindwein deckt auf, wie Russland junge Afrikanerinnen mit falschen Versprechen für die Kriegswirtschaft rekrutiert. Warum die grüne Digitalisierung ein Mythos ist und was der KI-Boom den Globalen Süden kostet, erläutern Ingo Dachwitz und Sven Hilbig. Und Eva-Maria Klinkisch sowie Markus Rieger-Ladich zeigen auf, wie Long Covid-Betroffene von der Gesellschaft und dem Gesundheitssystem systematisch ignoriert werden – und was dagegen zu tun ist. 

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