Ausgabe Januar 1991

Furcht vor Preußen?

1960 erklärte Karl Jaspers, daß die Geschichte des deutschen Nationalstaates beendet sei. Ein Irrtum, wie sich heute erweist; denn die Deutschen haben wieder einen Nationalstaat. Dabei waren Intellektuelle in der Bundesrepublik schon davon ausgegangen, in einem "postnationalen" Gebilde (so der Soziologe M. Rainer Lepsius) zu leben, wähnten sich auf dem Wege nach "Klein-Europa" und fanden die Identität der Deutschen nicht mehr in gemeinsamer Kultur und Geschichte, sondern im Stolz auf das von ihnen vollbrachte Wirtschaftswunder, auf die wirtschaftlichen Aufbauleistungen also, sowie in der Orientierung auf die "Schutzmacht" Amerika und der Abgrenzung gegenüber Osteuropa mit seinen "realsozialistischen" Systemen. Hat der Anschluß der DDR daran etwas geändert?

Trotz aller Bekundungen, daß der deutsche Einigungsprozeß das Zusammenwachsen Europas beschleunige, fragt man sich in Paris besorgt, ob Bonn von seinen Zusagen für die zweite Phase der europäischen wirtschaftlichen und Währungsunion ab 1. Januar 1993 abrücken wird. Und im vereinigten deutschen Staat mehren sich die nationalistischen Töne. Die kurze letzte Etappe der DDR-Geschichte war u.a. geprägt von Ausländerfeindlichkeit vor allem jugendlicher Gruppen.

Sie haben etwa 8% des Textes gelesen. Um die verbleibenden 92% zu lesen, haben Sie die folgenden Möglichkeiten:

Artikel kaufen (1€)
Digitalausgabe kaufen (10€)
Anmelden

Aktuelle Ausgabe Januar 2026

In der Januar-Ausgabe skizziert der Journalist David Brooks, wie die so dringend nötige Massenbewegung gegen den Trumpismus entstehen könnte. Der Politikwissenschaftler Philipp Lepenies erörtert, ob die Demokratie in den USA in ihrem 250. Jubiläumsjahr noch gesichert ist – und wie sie in Deutschland geschützt werden kann. Der Politikwissenschaftler Sven Altenburger beleuchtet die aktuelle Debatte um die Wehrpflicht – und deren bürgerlich-demokratische Grundlagen. Der Sinologe Lucas Brang analysiert Pekings neue Friedensdiplomatie und erörtert, welche Antwort Europa darauf finden sollte. Die Journalistinnen Susanne Götze und Annika Joeres erläutern, warum die Abhängigkeit von Öl und Gas Europas Sicherheit gefährdet und wie wir ihr entkommen. Der Medienwissenschaftler Roberto Simanowski erklärt, wie wir im Umgang mit Künstlicher Intelligenz unsere Fähigkeit zum kritischen Denken bewahren können. Und die Soziologin Judith Kohlenberger plädiert für eine »Politik der Empathie« – als ein Schlüssel zur Bekämpfung autoritärer, illiberaler Tendenzen in unserer Gesellschaft.

Zur Ausgabe Probeabo

Weitere Artikel zum Thema

Micha Brumlik: Ein furchtloser Streiter für die Aufklärung

von Meron Mendel

Als die Hamas am 7. Oktober 2023 Israel überfiel und anschließend der Krieg der Netanjahu-Regierung in Gaza begann, fragten mich viele nach der Position eines Mannes – nach der Micha Brumliks. Doch zu diesem Zeitpunkt war Micha bereits schwer krank. Am 10. November ist er in Berlin gestorben.