Ausgabe Oktober 1993

Werte-Ausgrabungen

Es ist zum Fürchten, daß in der Bundesrepublik zunehmend wieder von "Werten" die Rede ist. Hat das Land damit in der Vergangenheit nicht genügend schlechte, ja katastrophale Erfahrungen gemacht? Die mit den Werten der Nazis aufgewachsenen Deutschen wurden nach dem Krieg geteilt und ließen - in Ost und West - Blut und Boden, Mutterschaft, Tapferkeit, Treue und das Vaterland, die Nation hinter sich. Auch das früher gepriesene Kriegserlebnis, Frankreich als Erbfeind, England als das perfide Albion und andere pervertierte Minderwertigkeitskomplexe gerieten in wohltuende Vergessenheit. Die Ostzone und spätere DDR wollte dafür sorgen, daß es nie wieder ein Deutschland wie das gerade versunkene geben könne - aber über dem Stalinismus und dem real existierenden Sozialismus verlor auch der "Wert" des Antifaschismus bald seinen Glanz. In Westdeutschland war es einfach, den immer wachen Antikommunismus im Kalten Krieg zum Wert an sich, zur Orientierung schlechthin zu befördern und ihn mit wachsendem Wohlstand eine scheinbar beglückende Symbiose eingehen zu lassen. Das hielt in der Westrepublik bis zur Mitte der 60er Jahre.

Dann ging die Nachkriegsgeneration auf die Straße; sie war über ihre Eltern wütend und verzweifelt, die die Nazizeit zwei Jahrzehnte lang unter den Teppich zu kehren versucht hatten, über den Wohlstand, den Konsumterror und die allgemeine Verlogenheit.

Oktober 1993

Sie haben etwa 6% des Textes gelesen. Um die verbleibenden 94% zu lesen, haben Sie die folgenden Möglichkeiten:

Artikel kaufen (1€)
Digitalausgabe kaufen (10€)
Anmelden

Aktuelle Ausgabe Januar 2026

In der Januar-Ausgabe skizziert der Journalist David Brooks, wie die so dringend nötige Massenbewegung gegen den Trumpismus entstehen könnte. Der Politikwissenschaftler Philipp Lepenies erörtert, ob die Demokratie in den USA in ihrem 250. Jubiläumsjahr noch gesichert ist – und wie sie in Deutschland geschützt werden kann. Der Politikwissenschaftler Sven Altenburger beleuchtet die aktuelle Debatte um die Wehrpflicht – und deren bürgerlich-demokratische Grundlagen. Der Sinologe Lucas Brang analysiert Pekings neue Friedensdiplomatie und erörtert, welche Antwort Europa darauf finden sollte. Die Journalistinnen Susanne Götze und Annika Joeres erläutern, warum die Abhängigkeit von Öl und Gas Europas Sicherheit gefährdet und wie wir ihr entkommen. Der Medienwissenschaftler Roberto Simanowski erklärt, wie wir im Umgang mit Künstlicher Intelligenz unsere Fähigkeit zum kritischen Denken bewahren können. Und die Soziologin Judith Kohlenberger plädiert für eine »Politik der Empathie« – als ein Schlüssel zur Bekämpfung autoritärer, illiberaler Tendenzen in unserer Gesellschaft.

Zur Ausgabe Probeabo

Weitere Artikel zum Thema

Micha Brumlik: Ein furchtloser Streiter für die Aufklärung

von Meron Mendel

Als die Hamas am 7. Oktober 2023 Israel überfiel und anschließend der Krieg der Netanjahu-Regierung in Gaza begann, fragten mich viele nach der Position eines Mannes – nach der Micha Brumliks. Doch zu diesem Zeitpunkt war Micha bereits schwer krank. Am 10. November ist er in Berlin gestorben.