Geradezu enthusiastisch feiert die französische Presse – von „La Croix“ bis „L ́Humanité“ – seit seinem Erscheinen im vergangenen Herbst ein Buch, das in der Bundesrepublik bislang kaum zur Kenntnis genommen wurde und dessen Entstehung hierzulande auch schwer vorstellbar erscheint. Schon der Titel „Le nouvel esprit du capitalisme“ dürfte eher befremden, obgleich die Autoren – Luc Boltanski und Ève Chiapello – mit ihm einem deutschen Klassiker ihre Reverenz erweisen: Max Webers „Die protestantische Ethik und der ‚Geist‘ des Kapitalismus“. Bei dem 800-Seiten-Wälzer aus den Editions Gallimard handelt es sich um das Ergebnis eines 1995, im Jahr der französischen Herbststreiks, begonnenen Forschungsprojekts, das die Förderung der Handelsakademie HEC (École des hautes études commerciales) und der École de hautes études en sciences sociales (EHESS) genoß, beides Pariser Eliteinstitutionen. Luc Boltanski gilt als „Dissident“ aus der Schule Pierre Bourdieus, Ève Chiapello reussierte mit einem Buch über Management und „künstlerische Kritik“, letztere eine für die hier vorzustellende Studie zentrale Kategorie („Artistes versus managers. Le management culturel face à la critique artiste“, Paris 1998).
In der September-Ausgabe plädiert Lea Ypi für eine Migrationsdebatte im Sinne der Aufklärungsphilosophie. Cinzia Sciuto fordert, der zunehmenden Aushöhlung des Völkerrechts mit einer entschiedenen Verteidigung desselben zu begegnen – und nicht mit Resignation und falschem Realismus. Für Georg Diez markieren die Kriegsverbrechen in Gaza und die fehlenden Reaktionen darauf einen Epochenbruch; sie stünden für nicht weniger als den Verrat des Westens an der Humanität. Herfried Münkler analysiert, wie Kriege historisch endeten und Friedenszeiten begannen und was das mit Blick auf den Ukrainekrieg bedeutet. Simone Schlindwein deckt auf, wie Russland junge Afrikanerinnen mit falschen Versprechen für die Kriegswirtschaft rekrutiert. Warum die grüne Digitalisierung ein Mythos ist und was der KI-Boom den Globalen Süden kostet, erläutern Ingo Dachwitz und Sven Hilbig. Und Eva-Maria Klinkisch sowie Markus Rieger-Ladich zeigen auf, wie Long Covid-Betroffene von der Gesellschaft und dem Gesundheitssystem systematisch ignoriert werden – und was dagegen zu tun ist.