Ausgabe Oktober 2003

Ein 'Zentrum gegen Vertreibungen' würde der kritischen Aufarbeitung der Vergangenheit nicht nutzen

Erklärung internationaler Wissenschaftler/innen vom 10. August 2003 (Wortlaut)

Kaum eines Themas wurde in der Geschichte der Bundesrepublik so umfassend erinnert und gedacht wie der Flucht und Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg. In fast jeder deutschen Stadt steht ein Gedenkstein, fast überall erinnern lokale Mahnmale an diesen Teil der deutschen Geschichte. Die wissenschaftliche Forschung zum Thema war von Beginn an umfangreich, wie auch die literarische Verarbeitung und die öffentliche Auseinandersetzung.

Ungeachtet dessen steht das Thema Flucht und Vertreibung heute wieder auf der politischen Agenda. Ein "Zentrum gegen Vertreibungen" soll entstehen, in dem Erinnern und Gedenken ihren Platz bekommen sollen.

Die Erinnerung der Vertreibung hat ihren legitimen Ort im individuellen Gedenken der Menschen, fest verwurzelt in einer pluralen und kontroversen Erinnerungslandschaft der Bundesrepublik. Bei der aktuellen Forderung geht es aber um etwas anderes: Hier soll ein zentrales Mahnmal entstehen, mitgetragen aus öffentlichen Mitteln und abgesichert durch staatliche Weihen. Ein Zentrum, das ein einheitliches Geschichtsbild etablieren und durchsetzen soll.

Die große Gefahr, die dieses Ansinnen in sich birgt, besteht in einer staatlich sanktionierten Umdeutung der Vergangenheit, ja einer Revision der Geschichte und der Torpedierung eines auf europäischen Dialog angelegten gesellschaftlichen und politischen Diskurses.

Sie haben etwa 47% des Textes gelesen. Um die verbleibenden 53% zu lesen, haben Sie die folgenden Möglichkeiten:

Artikel kaufen (1€)
Digitalausgabe kaufen (10€)
Anmelden

Aktuelle Ausgabe November 2025

In der November-Ausgabe ergründen Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey die Anziehungskraft des demokratischen Faschismus. Frank Biess legt die historischen Vorläufer von Trumps autoritärer Wende offen – ebenso wie die Lebenslügen der Bundesrepublik. Daniel Ziblatt zieht Lehren aus der Weimarer Republik für den Umgang mit den Autokraten von heute. Annette Dittert zeigt, wie Elon Musk und Nigel Farage die britische Demokratie aus den Angeln zu heben versuchen. Olga Bubich analysiert, wie Putin mit einer manipulierten Version der russischen Geschichte seinen Krieg in der Ukraine legitimiert. Ute Scheub plädiert für die Umverteilung von Wohlstand – gegen die Diktatur der Superreichen. Sonja Peteranderl erörtert, inwiefern sich Femizide und Gewalt gegen Frauen mit KI bekämpfen lassen. Und Benjamin von Brackel und Toralf Staud fragen, ob sich der Klimakollaps durch das Erreichen positiver Kipppunkte verhindern lässt.

Zur Ausgabe Probeabo

Weitere Artikel zum Thema Migration

Klasse statt Identität

von Lea Ypi

Die Aufklärung wird heutzutage oft geschmäht, sowohl von rechts als auch von links. Von der Rechten, weil kritisches Reflektieren, der Mut, sich seines Verstandes zu bedienen (Kant), schon immer eine Bedrohung für die passive Unterwerfung gegenüber Autorität bedeutet hat, die für die Normalisierung von Ausgrenzungen erforderlich ist.

Wir brauchen Fachkräfte – und schieben sie ab

von Lena Marbacher

Vor zehn Jahren, im Sommer 2015, sprach die damalige Bundeskanzlerin, Angela Merkel den berühmt gewordenen Satz: „Wir schaffen das!“. Trotz der damit suggerierten Offenheit gegenüber den vielen damals in Deutschland ankommenden Geflüchteten schob ihr Kabinett im darauffolgenden Jahr 25 375 Menschen ab.