Ausgabe Oktober 2021

Eine Weltordnung ohne Hüter: Afghanistan als globale Zäsur

US-Präsident Joe Biden äußert sich im East Room des Weißen Hauses in Washington D.C. zu dem Terroranschlag am 26. August 2021, bei dem auf dem Hamid Karzai International Airport in Kabul US-Soldaten getötet und verwundet wurden. (IMAGO / UPI Photo)

Bild: US-Präsident Joe Biden äußert sich im East Room des Weißen Hauses in Washington D.C. zu dem Terroranschlag am 26. August 2021, bei dem auf dem Hamid Karzai International Airport in Kabul US-Soldaten getötet und verwundet wurden. (IMAGO / UPI Photo)

Militärische Rückschläge, gar Rückzüge können sich in der historischen Retrospektive durchaus als Startpunkte politischer Erfolgsgeschichten erweisen. Der Abzug der US-Truppen aus Südvietnam, abgeschlossen im Frühjahr 1973, ist – entgegen der landläufigen Annahme – ein Beispiel dafür. Seit den frühen 1960er Jahren hatten die USA immer mehr Soldaten ins Land geschickt, aber eine verlässliche Stabilisierung der von ihnen unterstützten Regime in Saigon hatten sie dabei ebenso wenig erreicht wie eine dauerhafte Zurückdrängung des Vietcong – und das, obwohl die USA vor einer permanenten Eskalation der Kriegführung nicht zurückgeschreckt waren, als sie, um die Unterstützung des Vietcong aus dem Norden zu unterbinden, sich zur massiven Bombardierung Nordvietnams und schließlich zur Ausweitung des Krieges auf Laos und Kambodscha entschlossen hatten. Partiellen Erfolgen des Militärs stand zuletzt ein verheerender Glaubwürdigkeitsverlust der Politik gegenüber. Die Massaker von My Lai wurden zum Symbol dafür, dass die USA die Werte, für die sie zu kämpfen beanspruchten, im Verlauf des Krieges immer mehr desavouiert hatten. Schließlich übertraf die fortgesetzte politische Selbstdemontage bei weitem die Furcht vor einem militärischen Reputationsverlust, der mit dem Abzug aus Vietnam verbunden war.

Oktober 2021

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In der Oktober-Ausgabe wertet Seyla Benhabib das ungehemmte Agieren der israelischen Regierung in Gaza als Ausdruck einer neuen Ära der Straflosigkeit. Eva Illouz ergründet, warum ein Teil der progressiven Linken auf das Hamas-Massaker mit Gleichgültigkeit reagiert hat. Wolfgang Kraushaar analysiert, wie sich Gaza in eine derart mörderische Sackgasse verwandeln konnte und die Israelsolidarität hierzulande vielerorts ihren Kompass verloren hat. Anna Jikhareva erklärt, warum die Mehrheit der Ukrainer trotz dreieinhalb Jahren Vollinvasion nicht zur Kapitulation bereit ist. Jan Eijking fordert im 80. Jubiläumsjahr der Vereinten Nationen mutige Reformen zu deren Stärkung – gegen den drohenden Bedeutungsverlust. Bernd Greiner spürt den Ursprüngen des Trumpismus nach und warnt vor dessen Fortbestehen, auch ohne Trump. Andreas Fisahn sieht in den USA einen „Vampirkapitalismus“ heraufziehen. Und Johannes Geck zeigt, wie rechte und islamistische Rapper Menschenverachtung konsumierbar machen.

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