Wie wir mit dem Heute das Morgen verspielen

Bild: Ein Demonstrant mit Macron-Maske am 1. Mai in Paris, 1.5.2023 (IMAGO / ZUMA Wire / Andy Barton)
Am 17. April dieses Jahres wurde das Publikum im Studio der vom Sender TF1 ausgestrahlten Sendung „Quotidien“ plötzlich sehr still. Pierre Rosanvallon, Soziologe und Historiker am Collège de France, einer der weltweit angesehensten politischen Denker Frankreichs, diagnostizierte in ruhigem und sehr sachlichem Ton die „schwerste Krise der Demokratie, die wir seit dem Ende des Algerienkrieges hatten“. Zu jenem Zeitpunkt, Ende der 1950er Jahre, war Frankreich nahezu unregierbar geworden, ein Militärputsch drohte. Erst die Machtübernahme durch Charles de Gaulle und die Ausarbeitung einer neuen Verfassung konnte die Lage beruhigen. Aber sei nicht der Mai 1968 viel heftiger als der heutige Streit um die Rente gewesen, fragte der erkennbar erschrockene Moderator zurück. Damals, so Rosanvallons Antwort, seien institutionelle Reformen gefolgt, jetzt aber sei nicht erkennbar, dass die heutigen Proteste gegen die Rentenreform und ihre umstrittene Verabschiedung Konsequenzen haben würden. De Gaulle sei am Ende zurückgetreten, nun aber gebe es keinerlei Bewegung. Eine solche Diagnose mag aus deutscher Sicht überraschen. Nicht selten schwingt in der hiesigen Berichterstattung nämlich ein leichter Spott über die widerspenstigen Nachbarn mit, die – so wird suggeriert – die Anpassung an die demographischen Gegebenheiten nicht vollziehen wollen, ja sich nicht nur der Rentenreform, sondern eigentlich der ihr zugrundeliegenden Realität verweigern.