Ausgabe Februar 2017

Atomausstieg: Der mediale GAU

Atommüllfasser verteilt in der Landschaft

Bild: CC0 Public Domain

Vor wenigen Wochen wurde atompolitisch Geschichte geschrieben. Nur leider hat die Öffentlichkeit davon kaum etwas mitbekommen – oder das Falsche. Die Ereignisse rund um das jüngste Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Atomausstieg und der gesetzlichen Regelungen der Folgekosten der Atomkraft sind ein politisch-mediales Lehrstück aus dem Zeitalter der Echtzeit-Berichterstattung.

In den letzten Jahren haben die großen Stromkonzerne Dutzende Klagen gegen die Atompolitik der Bundesregierung angestrengt. Dabei ging es ihnen in der Regel nicht darum, die Grundausrichtung zu ändern, vielmehr wollten sie hohe Geldbeträge erstreiten. Der finanziell schwergewichtigste Prozess war die Verfassungsbeschwerde von Eon, RWE und Vattenfall gegen die Atomgesetznovelle vom Sommer 2011. Nach dem Super-GAU in Fukushima hatte der Bundestag kürzere AKW-Laufzeiten beschlossen. Die drei Stromkonzerne sahen darin eine entschädigungslose Enteignung. Sie forderten deshalb 19 Mrd. Euro Schadenersatz. EnBW hätte auch gerne geklagt, durfte dies als Staatskonzern aber nicht.

Das Karlsruher Urteil vom 6. Dezember 2016 ist spektakulär in seiner Eindeutigkeit: Das Gericht wies die Beschwerden weitgehend zurück. Der Staat darf Atomkraftwerke abschalten. Das Ende für acht AKW, die Laufzeitbegrenzung für die anderen neun Reaktoren sowie die Rücknahme der Ende 2010 von Union und FDP beschlossenen Laufzeitverlängerung sind mit dem Grundgesetz vereinbar. Es handelt sich um keine Enteignung, weshalb den Atomkonzernen auch keine Entschädigung zusteht. Die Richterinnen und Richter bekräftigten vielmehr das Recht der Politik, das Atomrisiko jederzeit neu zu bewerten und daraus Konsequenzen zu ziehen. Im Urteil ist von „Eigentum mit einem besonders ausgeprägten sozialen Bezug“ die Rede; entsprechend weit sei der Spielraum des Gesetzgebers, dieses Eigentum auch zu beschränken.

Die Argumente des Verfassungsgerichts lesen sich teilweise wie aus einer Resolution von Atomkraftgegnerinnen und Atomkraftgegnern: Da ist die Rede von Hochrisikotechnologie, extremen Schadensfallrisiken und noch nicht geklärten Endlagerproblemen.[1] Der Gesetzgeber leiste mit der Abschaltung der AKW „eine Risikominderung von ganz erheblichem Ausmaß“. Das diene „dem Schutz von Leben und Gesundheit der Bevölkerung.“

Nur in „Randbereichen“, so das Gericht, bekamen die Kläger Recht. So muss bei zwei AKW ein geringer Ausgleich dafür gezahlt werden, dass die den Betreibern 2002 von der rot-grünen Bundesregierung zugestandenen Produktionsrechte für Atomstrom nicht voll ausgeschöpft werden können. Der den Konzernen dadurch eventuell entstehende Nachteil, darauf wies Karlsruhe explizit hin, muss allerdings nicht vollständig kompensiert werden. Bei 16 Reaktoren war die Laufzeitverkürzung vollständig rechtens.

Darüber hinaus steht den AKW-Betreibern ein Ausgleich für jene Investitionen zu, die sie in den 98 Tagen zwischen dem Laufzeitverlängerungsbeschluss des Bundestags am 8. Dezember 2010 und dem Beginn des Atom-Moratoriums nach Fukushima am 16. März 2011 tätigten. Dies allerdings auch nur dann, wenn sie diese nicht auch ohne den Verlängerungsbeschluss vorgesehen hatten.

Unterm Strich muss der Staat deshalb keine 19 Mrd. zahlen, sondern allenfalls einen dreistelligen Millionenbetrag. Entscheidend für dessen Höhe wird sein, welche Strompreise für den Schadensausgleich angesetzt werden: jene von 2011, von 2016 oder jene, die für das Jahr 2023 geschätzt werden. Denn erst dann wird der nun vom Gericht zugestandene Schaden wirksam, weil die gekappten Stromproduktionsrechte nach dem Aus der letzten Reaktoren nicht mehr auf andere AKW übertragen werden können. Da die Preise an der Strombörse seit Jahren fast nur noch eine Richtung kennen, nämlich nach unten, bliebe dann allerdings kaum noch etwas übrig, was ausgeglichen werden muss.

Nachhaltiges Missverständnis

Die Verlesung der Urteilsbegründung in Karlsruhe dauerte etwa zwei Stunden. Doch schon nach wenigen Minuten gingen erste Meldungen über die Ticker der Nachrichten-Agenturen – und waren geprägt von einem gründlichen Missverständnis. So verbreiteten sich quasi Fake-News, etwa bei dpa: „Konzernen steht angemessene Entschädigung für Atomausstieg zu. Das Bundesverfassungsgericht hat Klagen von Eon, RWE und Vattenfall stattgegeben. Die Bundesregierung muss sie entschädigen.“ Irgendwo im Text stand dann noch die Zahl von 19 Mrd., die sich zwar nicht direkt auf das Urteil bezog, aber von vielen so gelesen wurde. AFP schrieb etwas später: „Die Entschädigungsklagen wegen des Atomausstiegs sind im Wesentlichen erfolgreich. […] Berichten zufolge könnte die Entschädigungssumme bis zu 20 Mrd. Euro betragen.“ Zu diesem Zeitpunkt hatte eine RWE-Sprecherin in Karlsruhe zwar längst vor Journalistinnen und Journalisten eingestanden: „Dass es dabei nicht um die Milliardenentschädigungen geht, die in den Medien so häufig kolportiert worden sind, das ist mit Sicherheit richtig.“ Doch es nützte nichts: Fast sämtliche Nachrichtenwebsites nahmen die Agentur-Meldungen auf. Infolge dieser Berichterstattung schossen die Börsenkurse von Eon und RWE in die Höhe. In den sozialen Netzwerken verbreitete sich die falsche Neuigkeit rasend schnell.

Eine erste Relativierung gab es erstaunlicherweise in der Onlineausgabe der „Bild“: Zwar lautet die Schlagzeile auf der Startseite weiterhin „Staat muss Stromriesen entschädigen“, aber wer den eigentlichen Artikel aufrief, erfuhr den Zusatz: „allerdings nur zu einem kleinen Teil“. Der „Deutschlandfunk“ berichtete ab mittags den korrekten Sachverhalt, ließ aber immer wieder Politikerinnen und Politiker zu Wort kommen, die das Urteil nicht verstanden hatten, weil sie nur die Agenturmeldungen kannten. Bei „Spiegel-Online“, „taz“ und vielen anderen Medien blieb die erste Meldung den Tag über unwidersprochen stehen. Irgendwann differenzierten manche, dass das Abschalten zwar rechtens sei, aber Entschädigungen nötig. Über die „Randbereiche“ und die geringe Höhe der Kompensation gab es weiter keine Informationen. Erst gegen Abend wurden nach und nach Artikel von Fachjournalisten veröffentlicht, die das Urteil richtig einordneten.

Manche merkten es aber auch dann noch nicht: So schrieb die „Frankfurter Rundschau“ in einem Kommentar am Abend von „gewaltigen finanziellen Risiken“ für den Bundeshaushalt, die aus dem Urteil folgen würden. Auch etliche andere Tageszeitungen nutzten für ihre kommentierende Bewertung am Folgetag nur die Agenturmeldungen vom Morgen der Urteilsverkündung.

Bei einem Großteil der Bevölkerung blieb nach diesem Tag wahrscheinlich hängen: Das Abschalten von AKW ist rechtswidrig und kostet die Allgemeinheit viele Milliarden. Dieser Effekt resultierte sicherlich nicht aus politischer Absicht, sondern folgte schlicht aus der Inkompetenz bei den Agenturen und der fehlenden Zeit bei Online-Medien und Kommentatoren. Es musste halt schnell gehen. Die Realität aber blieb dabei auf der Strecke.

Die getriebene Politik

Dieser Zwang zur Echtzeit springt zunehmend von den Medien auf die Politik über, in diesem Fall besonders exemplarisch: Auf Twitter, Facebook und bei den Nachrichtenagenturen tauchten noch während der Urteilsverkündung in Karlsruhe die ersten Kommentare von Politikerinnen und Politikern auf, die sich auf den falschen Sachstand bezogen, der zu diesem Zeitpunkt überall zu lesen war. Aus den Reihen von SPD und Grünen wurde dabei besonders scharf gegen Bundeskanzlerin Angela Merkel geschossen, was wohl weniger mit der Entscheidung des Gerichts als mit dem zeitgleichen Bundesparteitag der CDU zu tun hatte.

So meldete dpa: „Die vom Bundesverfassungsgericht verfügten Entschädigungen an die Stromkonzerne infolge des beschleunigten Atomausstiegs nach der Katastrophe von Fukushima 2011 muss aus Sicht von SPD-Bundesvize Ralf Stegner Kanzlerin Angela Merkel (CDU) verantworten. ‚Ihr Zickzackkurs wird die Steuerzahler Milliarden kosten.‘“

Die Grünen wiederum verbreiteten über Facebook einen Kommentar von Robert Habeck, Spitzenkandidaten-Kandidat aus Schleswig-Holstein, und forderten: „Teilt das Zitat und macht euren Protest deutlich!“ Habeck schrieb: „Jetzt rächt sich, dass Union und FDP den Atomausstieg zurückgedreht haben. Sie haben das verbockt und wir alle dürfen zahlen.“ Das ist insofern geradezu kurios, als dass das Gericht nur jenen kleinen Teil des Gesetzes für problematisch hält, den Merkel 2011 – mit den Stimmen von SPD und Grünen – gegenüber dem rot-grünen „Ausstieg“ von 2002 verschärft (!) hatte. Genau dies hatte Sigmar Gabriel im Bundestagswahlkampf 2009 gefordert. So wurde der „Pannenmeiler“ Krümmel bei Hamburg deutlich früher abgeschaltet, als im damaligen „Atomkonsens“ vereinbart war. Das monierten die Richterinnen und Richter. Die Rücknahme der Merkelschen Laufzeitverlängerungen von 2010 erklärte Karlsruhe hingegen für verfassungskonform.

Richtig ist allerdings: Wäre alles wie 2002 vereinbart geblieben, hätte es keine Klagen gegeben. So gesehen zahlt die Allgemeinheit jetzt möglicherweise einen geringen Betrag – allerdings für noch einmal verkürzte Betriebszeiten der AKW. Das ist wohl kaum ein Fehler. Die Kritik von Stegner und Habeck an der Kanzlerin trifft also lediglich für die Kompensations-Beträge zu, die den Konzernen für jene Investitionen zustehen, die sie zwischen Dezember 2010 und März 2011 aufgrund der 2010 beschlossenen Laufzeitverlängerung in ihren Atomkraftwerken getätigt haben. Das dürfte, im Vergleich zu den ursprünglich genannten Zahlen, nur ein winziger Betrag sein.

Die Unternehmen frohlocken

Für die klagenden AKW-Betreiber ist das Urteil eigentlich eine krachende Niederlage. Doch die schräge mediale Darstellung verwandelte sie in einen Punktsieg im Kampf um die öffentliche Meinung. Das war im Dezember 2016 besonders wichtig, weil der Bundestag nur neun Tage nach dem Urteil über die gesetzliche Regelung für die Folgekosten der Atomkraft entscheiden musste. Die große Frage lautete: Wer zahlt für den Abriss der AKW und die Lagerung des Atommülls? Hinter den Kulissen wurde zwischen Stromkonzernen und Politik noch um gewichtige Details gerungen. Und mit der Geschichte vom rechtswidrig handelnden Staat und den armen Opfern in der Energiewirtschaft ließ sich öffentlich ordentlich punkten.

Eon, RWE und Co. setzen sogar noch einen drauf: Wenige Tage nach dem Urteil verkündeten sie mit großer Geste, 20 Klagen in Sachen Atomkraft zurückzuziehen. Darunter sind auch einige, bei denen es um Schadenersatz für das dreimonatige Moratorium direkt nach Fukushima geht. Die Atomaufsichten der Länder hatten im März 2011 wenige Tage nach dem dreifachen Super-GAU verfügt, dass die ältesten acht Meiler sofort heruntergefahren werden müssen. Die gesetzliche Neuregelung mit Laufzeitverkürzung, die in Karlsruhe verhandelt wurde, erfolgte erst im Juni 2011.

Jedoch hatten die Konzerne ihre Moratoriums-Klagen, bis auf eine Ausnahme, erstinstanzlich bereits verloren und ihre Chancen standen denkbar schlecht. Dies aber ging in den Medien unter, die sich erneut überfordert zeigten. So blieb als Nachricht hängen: Die Konzerne verzichten auf Schadenersatz. Wie generös: Erst spricht ihnen Karlsruhe angeblich Milliarden Euro an Steuergeldern zu, jetzt nehmen sie sie gar nicht an.

Doch nichts davon entspricht der Wahrheit. Die dreistelligen Millionenbeträge, die nach dem Urteilsspruch möglich werden, wollen die Unternehmen sehr wohl weiter einstreichen. Sie ziehen hingegen beinahe ausschließlich solche Klagen zurück, die aussichtslos sind oder sich um die Neuregelung der Atommülllagersuche drehen. Da aber in Zukunft die Kosten der Lagerung radioaktiver Abfälle nicht mehr von den Stromkonzernen bezahlt werden müssen, sind diese ohnehin gegenstandslos.

Insgesamt verzichten die Unternehmen damit auf Klagen im Streitwert von schätzungsweise 600 000 Euro. Zwei Klagen aber halten die Atomkonzerne aufrecht: Eine Verfassungsbeschwerde gegen die Brennelementesteuer und das von Vattenfall in Washington angestrengte Schiedsgerichtsverfahren gegen das Aus für das AKW Krümmel. Der gesamte Streitwert hier: etwa 11 Mrd. Euro. Das geht jedoch in der öffentlichen Wahrnehmung unter.

Gutes Geschäft für die Konzerne

Schließlich verbuchten die AKW-Betreiber einen Erfolg bei den Verhandlungen um die Folgekosten der Atomkraft: Der Bundestag beschloss im Dezember, dass sie sich mit einer Einmalzahlung von 23 Mrd. Euro für alle Zeiten von der Verantwortung für die Atommülllagerung freikaufen können. Sollte dieses Geld nicht ausreichen, und davon ist auszugehen, dann zahlt die Allgemeinheit. Die Bundestagsfraktionen konnten zudem ihre ursprüngliche Forderung nicht durchsetzen, dass die Stromkonzerne im Gegenzug alle Klagen zurückziehen.

Am gleichen Tag lehnte der Bundestag einen Antrag von Bündnis 90/Die Grünen ab, die zum Jahresende auslaufende Brennelementesteuer zu verlängern. Das führt – bis 2022 das letzte AKW vom Netz gehen soll – zu einem Steuergeschenk für die Branche von etwa 6 Mrd. Euro.

Wenn es vor Gericht und Schiedsgericht für die Atomkonzerne gut läuft, erhalten die Energieriesen somit 11 Mrd. Euro vom Staat; zusammen mit der Steuererleichterung macht das im schlimmsten Fall sogar 17 Mrd. Dem gegenüber stehen 23 Mrd., die für den Atommüllfonds vorgesehen sind. Es ist also nicht ausgeschlossen, dass fast drei Viertel der Summe wieder zu den Atomriesen zurückwandern. Kein schlechtes Geschäft für die Konzerne – aber ein hochriskantes für die Gesellschaft. Denn sie allein trägt nun das Kostenrisiko für die Ewigkeitslagerung der strahlenden Abfälle.

 

[1] Vgl. dazu auch Wolfgang Ehmke, Atomkonzerne: Strahlung ohne Haftung, in: „Blätter“, 5/2015, S. 17-20 und Jochen Stay, Castorfahrt nach Nirgendwo, in: „Blätter“, 7/2013, S. 27-30.

Aktuelle Ausgabe Oktober 2025

In der Oktober-Ausgabe wertet Seyla Benhabib das ungehemmte Agieren der israelischen Regierung in Gaza als Ausdruck einer neuen Ära der Straflosigkeit. Eva Illouz ergründet, warum ein Teil der progressiven Linken auf das Hamas-Massaker mit Gleichgültigkeit reagiert hat. Wolfgang Kraushaar analysiert, wie sich Gaza in eine derart mörderische Sackgasse verwandeln konnte und die Israelsolidarität hierzulande vielerorts ihren Kompass verloren hat. Anna Jikhareva erklärt, warum die Mehrheit der Ukrainer trotz dreieinhalb Jahren Vollinvasion nicht zur Kapitulation bereit ist. Jan Eijking fordert im 80. Jubiläumsjahr der Vereinten Nationen mutige Reformen zu deren Stärkung – gegen den drohenden Bedeutungsverlust. Bernd Greiner spürt den Ursprüngen des Trumpismus nach und warnt vor dessen Fortbestehen, auch ohne Trump. Andreas Fisahn sieht in den USA einen „Vampirkapitalismus“ heraufziehen. Und Johannes Geck zeigt, wie rechte und islamistische Rapper Menschenverachtung konsumierbar machen.

Zur Ausgabe Probeabo

Weitere Artikel zum Thema