Ausgabe Juli 2018

»Die soll an Schwänzen ersticken«

Hass und Frauenverachtung im Internet

Ein weit geöffneter Mund, der mit einer Folie bedeckt ist

Bild: pischare / photocase.de

Was glaubt ihr wohl, was die mit ihren roten Haaren
und dem Makeup bezweckt? Die will Beachtung. Und mit den Texten? Dasselbe. Dieses Miststück ist eine Hure, die soll an Schwänzen ersticken.
– 4chan, 2016

 

Diese nette Laurie Penny beim New Statesman ist doch in Wahrheit ein konservativer Maulwurf, der die Linke von Innen zersetzen will.

– Alex Massie, »TheSpectator«, 2013

 

Hängt diesen Clown. Hängt Laurie Penny.
– Urban75 (linkes Forum in Großbritannien), 2011

 

Eine feuchtkühle Sommernacht. Du bist 24 und rufst bei der Selbstmord-Hotline an.

Die freundliche Dame am anderen Ende ist wohl um die siebzig. Sie hört verständnisvoll zu, während du ihr erzählst, dass Hunderte, Tausende von Fremden schreckliche Dinge über dich sagen und manche dir ernsthaft wehtun wollen. Du weißt nicht, warum. Du bist doch nur Autorin, und so etwas hast du nicht erwartet. Manche schildern dir detailliert ihre Vergewaltigungs- und Mordfantasien.

Die Dame ist reizend, fragt, ob diese Stimmen dir auch manchmal Befehle erteilen. Ja, sie sagen, du sollst aufhören zu schreiben. Du sprichst im Flüsterton mit der freundlichen Dame, weil du deine schlafende Familie nicht aufwecken und beunruhigen willst. Du verdienst es nicht zu leben, sagen diese Fremden, geschweige denn, eine Zeitungskolumne zu füllen. Ob sie dir befehlen, dich selbst zu verletzen? Ja, jeden Tag. Die freundliche Dame bittet dich, in der Leitung zu bleiben, sie möchte dich mit einer speziell geschulten Kollegin verbinden.

Nein, warten Sie, sagst du. Du hörst keine Stimmen. Du hast keine Wahnvorstellungen. Die freundliche Dame kann dich googeln. Das ist alles Realität.

 

* * *

 

Das Internet hasst Frauen. Alle wissen das, und auch wenn es niemand gut findet, nehmen wir es mittlerweile doch kollektiv hin. So ist die Welt eben, und wenn du damit nicht klarkommst, Süße, dann lösch doch deinen Account. Stell deine Online-Aktivitäten ein. Kapp die Verbindung zu Freunden, Angehörigen, beruflichen Kontakten, mach deinen Laden zu, tritt dein soziales Kapital in den Eimer, hör auf zu lernen, hör auf zu reden, hör einfach nur auf. Sonst…

Der Breitbandkommission der Vereinten Nationen[1] zufolge wurde jede fünfte junge Frau online schon sexuell belästigt. Und in einem neuen Bericht von Amnesty International[2] steht, dass mehr als drei Viertel aller Frauen und Mädchen mit Gewalt und Pöbeleien rechnen, wenn sie online ihre Meinung kundtun. Oft werde ich gefragt, ob „das Internet schlecht für Frauen ist“. Und ja, es gibt genügend Gründe, der Tochter, der Partnerin, der Freundin zu raten, im Internet vorsichtig zu sein, es sich gründlich zu überlegen, ehe sie „sich dem aussetzt“. Wir warnen sie, wie wir sie davor warnen, nachts allein durch die Stadt zu gehen, einen kurzen Rock zu tragen, allzu leichtsinnig zu sein. Die Botschaft ist immer dieselbe: Die Zukunft, genau wie die Vergangenheit, gehört dir nicht. Du darfst zu Besuch kommen, aber benimm dich.

Du bist 23. Als Autorin hast du erste Erfolge, und dein Blog über Gender, Geschlechter und Soziales ist für eine wichtige Auszeichnung nominiert. Du gehst zu einer schicken Preisverleihung. Deine Eltern sind stolz auf dich. Du ziehst dein bestes Hemd an und gibst dich ungezwungen. Alle anderen Nominierten sind älter, die meisten Männer, und während du für die Lieben zu Hause Leckereien vom Buffet in deinen Rucksack stopfst, flüstert dir einer süffisant ins Ohr: Wie ist es denn so als Hassfigur?

Das hätte dir eine Warnung sein sollen. Etwa um diese Zeit treffen die ersten Morddrohungen ein.

 

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Laut einem Bericht der Manchester Metropolitan University[3] gewann der neue Feminismus 2010 dermaßen an Schwung, dass er als Gefahr für die bestehende Kultur wahrgenommen wurde. Der Schwung kam aus dem Internet. „Dass man Sexismus und Frauenhass in sozialen Medien endlich anprangern konnte, revolutionierte die feministische Bewegung“, so die Autorin Dr. Emma Turley.

Feminismus kann schon radikal wirken, wenn wir die Welt einfach nur beschreiben, wie wir sie tatsächlich erleben, und genau damit begannen 2010 Frauen in einer Zahl, die nicht mehr zu übersehen war. In besagtem Bericht heißt es allerdings weiter, dass die sozialen Medien es auch erleichtern, „frauenfeindliche und sexistische Narrative zu verbreiten, Frauen öffentlich zu blamieren und die Machtungleichheit in der Offline-Welt zu zementieren“. Im Jahr 2010 setzte daher auch die organisierte Internetschikane gegen Frauen ein. Das ist kein Zufall. Kaum organisierten sich die Frauen online und raubten dem Patriarchat den Schlaf, verbreitete sich der Gemeinplatz, dass es im Internet gefährlich für sie sei. Diese Entwicklung wird oft im Passiv geschildert, dabei wirken jede Menge Leute darauf hin, dass es genau so bleibt.

Es ist leicht, der Technik die Schuld zu geben, und viele tun das. Ich tue es. Wenn besorgten Menschen im Freundeskreis und in der Familie auffällt, dass ich mich plötzlich vor meinem Smartphone fürchte, sage ich oft, „das Internet ist heute mal wieder ein Drecksack“, nicht weil ich es wirklich für eine gefühlsbegabte Maschine halte, die gezielt und bösartig beleidigen kann, sondern weil es mich manchmal einfach zu sehr deprimiert, von moralischer Zersetzung geradezu umzingelt zu sein.

Wagen wir doch mal kühn eine andere Theorie: Das Internet hasst Frauen gar nicht. Das Internet hasst niemanden, weil es als unbeseeltes Netzwerk gar nicht in der Lage ist, sich eine Meinung zu bilden. Es sind Menschen, die Frauen hassen und über sie herziehen, und dank des Internets können sie das schneller, brutaler und ungestraft tun. Das ist mittlerweile ein Hobby, dem man nach einem harten Tag im Hamsterrad des Spätkapitalismus nachgeht. Melvin Kranzbergs Diktum „Technologie ist weder gut noch schlecht noch neutral“ trifft es genau: Mit dem Internet kann man sein, wer man schon immer war, nur effizienter und ohne dass es Folgen hätte.

Frauenhass hat nicht die Millenniumsgeneration erfunden. Lange bevor Jack Dorsey Twitter ausbrütete, wurden Frauen, die aus der Reihe tanzten, egal, auf welcher Feminismuswelle sie gerade ritten, von links und rechts gleichermaßen öffentlich blamiert.

Die schlimmsten Attacken kamen oft aus der Feminismusbewegung selbst. Jo Freeman schrieb 1975, Jahre, nachdem sie Ende der 1960er miterlebt hatte, wie Frauen systematisch demontiert wurden, einen verzweifelten Artikel für das „Ms. Magazine“, „Trashing: The Dark Side of Sisterhood“.[4] Ihre Schilderung kommt jeder progressiven Frau, die es wagt, öffentlich selbstbewusst aufzutreten, schrecklich vertraut vor: „Es geht nicht um Meinungsverschiedenheiten, es geht nicht um Konflikte, es geht nicht um Opposition. Das sind völlig normale Phänomene, die, wechselseitig, ehrlich und moderat praktiziert, notwendig sind, damit ein Organismus oder eine Organisation intakt und aktiv bleibt. Trashing ist eine besonders bösartige Form des Charaktermordes […]. Es ist manipulativ, unehrlich und exzessiv. Häufig wird es sprachlich als ernstzunehmender Konflikt verbrämt, oder die ablehnende Haltung wird von vornherein abgestritten. Doch mit Trashing soll Uneinigkeit weder aufgezeigt noch beigelegt werden. Es soll verunglimpfen und vernichten.“

Vierzig Jahre später ist Trashing noch immer die Lieblingstaktik der Progressiven im Kampf gegen vorlaute Frauen. Auf dem Spielplatz würde man es als Rüpelei bezeichnen. Am Arbeitsplatz spricht man von Mobbing. Auch hier ist bei vielen Betroffenen die hohe Rate posttraumatischer Belastungsstörungen wissenschaftlich nachgewiesen. Und auch hier sind die Mobbing-Opfer oft leistungsstarke Menschen, die für Führungsaufgaben geeignet und mit besonders großer Wahrscheinlichkeit Frauen sind.

Freeman fährt fort: „Trashing ist nicht nur vernichtend für die Betroffenen, sondern dient auch als ein wirkungsvolles Werkzeug sozialer Kontrolle. Die Eigenschaften und das Auftreten, die attackiert werden, sollen anderen Frauen als Negativbeispiel dienen, dem sie nicht folgen sollten, weil ihnen sonst dasselbe Schicksal widerfährt. [...] Diese Art Frau wurde von unserer Gesellschaft schon immer mit Attributen verunglimpft, die von „undamenhaft“ bis zu „kastrierende Schlampe“ reichen. Dass es so wenige „großartige weibliche _____“ gibt, liegt nicht nur daran, dass Größe nicht entwickelt oder erkannt wurde, sondern dass Frauen, die das Potential für großartige Leistungen haben, von anderen Frauen und Männern bestraft werden. Die „Angst vor Erfolg“ ist recht vernünftig, wenn man weiß, dass Leistung nicht Lob, sondern Anfeindungen nach sich zieht.

Trashing ist heimtückisch. Das Opfer wird oft für sein Leben geschädigt, persönlich wie beruflich. Egal, ob andere Mitleid haben, der Schaden bleibt. Egal auch, ob es für die Attacken eine reale Grundlage gibt: Es zählt nur, dass die Frau schwierig ist. Diese Frau, die nicht klug genug ist, sich vor der öffentlichen Bloßstellung zu schützen, indem sie die Klappe hält und den Blick senkt. Diffamiert wird sie oft von Menschen, die sie gar nicht kennen, die sich bestenfalls auf eine verschwommene Überzeichnung ihrer negativsten Eigenschaften einschießen, und vielleicht begreift sie, dass diese Leute eigentlich gar nicht sie hassen, sie aber diejenige ist, die täglich solche Nachrichten erhält.

In den 1970er Jahren musste das Trashing analog bewerkstelligt werden. Heute geht es schneller, härter, brutaler und intimer. Die Attacken verfolgen uns bis zum Arbeitsplatz. Sie verfolgen uns bis ins Bett. Freeman sprach von der feministischen Linken, aber es geschieht überall. Der erbitterte Hass auf erfolgreiche Frauen und die zerstörerische Fixierung auf Frauen, die aus der Reihe tanzen, sind vielleicht sogar die einzigen Punkte, in denen sich das gesamte politische Spektrum absolut einig ist.

 

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Du bist 25, und in einem einflussreichen linken Internetforum deines Landes läuft ein gigantischer Thread, in dem du als die reinste Sauerstoffvergeudung dargestellt wirst. Jahrelang packen Leute noch eins drauf in diesem Forums-Thread, der mittlerweile 821 Seiten füllt.[5] Nicht Posts, Seiten. Alles was du in der Öffentlichkeit sagst oder tust, wird seziert. Es gibt ein paar offene Gewaltfantasien, aber das meiste sind Gerüchte, Klatsch und Beleidigungen. Manchmal schreiben die Leute hier und anderswo, dass sie dich gesehen haben und was du gemacht hast, als Beweis dafür, wie grauenhaft du bist. Du seist viel zu privilegiert, heißt es, ein Vorwurf, den sich weiße Hetero-Kollegen, die weit mehr soziale Vorteile genießen als du, nicht anhören müssen.

Man bestraft dich, weil du nicht weißt, wo du hingehörst. Und das Schlimmste ist, dass du das Stigma nicht mehr los wirst. Auch bei denen, die es ablehnen. Du bist die, die belästigt wird. Die zu viel Beachtung bekommt. Dafür musst du etwas getan haben.

Wider besseres Wissen schaust du immer wieder in den Thread. Du wirst nervös und paranoid. Eine gute Freundin bricht den Kontakt ab und erwidert im Pub deinen Gruß nicht mehr. Später erfährst du, dass sie in dem Forum Dauergast ist.

Irgendwann antwortest du auf den Thread, denkst, wenn du ihnen erklärst, warum sie auf dem Holzweg sind, dass du eine anständige Person bist, die ihr Bestes gibt und noch ziemlich jung ist, dann geben sie Ruhe.

So funktioniert das aber nicht.

 

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Wer keine Mainstream-Kritik einstecken muss, mag es vielleicht seltsam, ja beleidigend finden, wenn man diese mit der offenen Gewalt anonymer ultrarechter und frauenfeindlicher Extremisten vergleicht. Aber für uns, die wir das jeden Tag erleben, setzen sich diese Bereiche zu einem flachen Feld zusammen, auf dem Leute von allen Seiten auf uns schießen und jede Deckung fehlt, jedenfalls für uns.

Egal, wen man fragt: Die Pöbelei kommt immer von jemand anderem: Das sind die Männer da, die brutalen und sexistischen, wir gehen doch vernünftig und fair mit schwierigen Frauen um. Unsere Kritik ist legitim. Die Frauen haben doch den Bogen überspannt, jetzt sollen sie sich mal entschuldigen. Wir greifen die doch nicht an – oder die oder die –, weil sie Macht hat und wir uns verunsichert fühlen. Nicht doch. Das tun die Typen da.

Ja, wir sind uns einig, Morddrohungen sind etwas Schlimmes. Aber wer sich auf Morddrohungen konzentriert, auf einzelne, besonders ungeheuerliche Gewaltakte, negiert die kollektive Verantwortung für die Vernichtung von Menschen, besonders Frauen, von denen man einfach die Nase voll hat.

Im Februar dieses Jahres berichtete Mhairi Black – jüngste britische Unterhausabgeordnete und bekannte Sozialaktivistin – vom Ausmaß der sexistischen und homophoben Beleidigungen, die sie täglich erreichen. Black dürfte die erste Person sein, die im Unterhaus das Wort cunt (Fotze) zu Protokoll gab. Wenn sie es dabei belassen hätte, wäre vielleicht nichts weiter passiert. Aber sie warf auch männlichen Parlamentskollegen vor, Politikerinnen beruflich und sexuell zu schikanieren und auf den Fluren der Macht eine Kultur der Verachtung gegenüber Frauen zu schaffen. 

Da hat sie durchaus recht. Nicht nur in Großbritannien werden Pöbeleien gegen Frauen als fester Bestandteil ihrer politischen Arbeit akzeptiert, sei es vonseiten anonymer Extremisten oder ihrer eigenen Kollegen. Und da haben wir uns noch nicht mit dem Schicksal beschäftigt, das Jo Cox ereilte oder Gabrielle Giffords oder Marielle Franco.

Eine internationale Umfrage unter Parlamentarierinnen im Jahr 2016 zeigte, dass Frauen durch Einschüchterung und Gewalt daran gehindert werden, in den Regierungen der Welt Gleichheit herzustellen. Mehr als 40 Prozent der Befragten waren in ihrer Amtszeit Mord, Vergewaltigung, Schläge oder Entführung angedroht worden, inklusive der Entführung und Ermordung ihrer Kinder.

 

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Du bist 26 und bekommst deine erste glaubhafte Bombendrohung. Die Polizei rät dir, die Wohnung zu verlassen, und dasselbe rätst du, erfolglos, dem netten schwulen Paar mittleren Alters, das über dir wohnt. Du versteckst dich im Wohnzimmer eines Ex. Du hast Angst, was die anderen verstehen, bist wütend, was sie nicht verstehen, aber seltsamerweise bist du auch ein bisschen erleichtert. Jetzt begreifen die Leute vielleicht, dass du tatsächlich Schreckliches durchmachst. Jetzt glauben sie dir vielleicht.

 

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Ich unterhalte mich oft mit Frauen, die beschimpft, gemobbt und gedemütigt werden, weil sie ihren Job machen und ihr Leben leben, und ihnen allen ist offene Gewaltandrohung immer noch am liebsten. Die Perversen, die falsche Benutzerkonten anlegen, um detailliert zu schildern, wie sie dir mit der Kettensäge in die Nase ficken. So etwas macht nicht gerade Laune, aber du kannst dir auch nicht vorstellen, dass deine Nase wirklich dazu einlädt. Viel heimtückischer, viel traumatischer ist es, wenn das Trashing von den eigenen Kollegen kommt, den Leuten, von denen man dachte, man könne ihnen vertrauen. Brutale Trolle können uns erschüttern und vorübergehend auch körperlich verunsichern, aber gezieltes Trashing zerstört die Arbeit, raubt die finanzielle Sicherheit, vernichtet Beziehungen, beschädigt das berufliche Ansehen und lässt uns pleite, einsam und isoliert zurück; hinterher können wir uns und unserer Familie nicht einmal erklären, was eigentlich passiert ist. Mir sind die Perversen jederzeit lieber.

Aber das können wir uns natürlich nicht aussuchen. Und das macht die Sache besonders schlimm. Wer geiferndes mösenmordendes Wichser-Mobbing in den Kommentarspalten auf sich zieht, ist meist auch in der oberen Hälfte des Internets arroganten Trollattacken ausgesetzt. „Mainstream“-Trasher, vor allem solche, die sich als progressiv betrachten, finden nichts dabei, erfolgreichen, also wohl größenwahnsinnigen Frauen einen Dämpfer zu verpassen. Im Gegenteil: Sie halten es für ihre moralische Pflicht.

Aber das gilt auch für Trolle.

Über und unter der Trennlinie zu den Kommentaren: dasselbe Bild. Habt ihr schon gehört, dass sie ihre Kinder in die Privatschule schickt? Mit wem sie sich herumtreibt? Was ist mit ihrem Ehemann? Mit ihren E-Mails? Immer, wenn eine Frau zu viel Raum beansprucht, findet sich ein Anlass, sie zurechtzustutzen. Und es finden sich Gründe, die Verantwortung abzuschieben. Man hat ja nur einen Stein geworfen, keinen Felsblock. Man hat ja nur einen Felsblock geworfen, keine Handgranate. Man hat ja nur eine Handgranate geworfen, wie viele andere auch. Bailey Poland schreibt in seinem Buch „Haters“: „Alle Beteiligten, vom Rädelsführer bis hin zu den einzelnen Mobbern, können die Verantwortung für die Pöbeleien auf die Gruppe abwälzen und behaupten, ‚jemand anders‘ habe sie begangen, und daher beträfen sie das einzelne Mitglied gar nicht, ungeachtet dessen, was sie selbst getan haben.“

Alle sind schuld, soll das heißen, also ist niemand schuld. Wir können den einen oder anderen Irren bestrafen, der zu weit geht und seine Spuren nicht verwischt, aber in einer Gesellschaft, die sich auf Schikane gründet, haben wir keine rechtliche Handhabe dagegen. Das Internet ist eine Hydra, allerdings eine mit 100 Arschlöchern: Wenn man eins loswird, tauchen zwei neue auf und behaupten, dein toter Vater würde sich wegen dir im Grab umdrehen.

Dieses Trashing und Trolling diente Frauenhassern und Rassisten im Internet jahrelang als Skript, und niemand nahm es ernst, weil es wichtigen Leuten ja nicht passierte. Gamergate. Bitte, googelt das, weil ich nicht mehr als nötig darüber sagen will; wenn man das Wort mehr als dreimal in den Laptopmonitor spricht, bricht eine Horde hohläugiger Trolle hervor und drückt einem eine Debatte über Ethik im Videospiel-Journalismus auf.

Als die autoritären Rechte rund um den Erdball – von Stephen Bannons Breitbart News bis hin zu Putins Troll-Armee –, genau diese Taktik perfektionierte, war es jedenfalls zu spät.

 

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Du bist 28, Harvard-Stipendiatin, hast sechs Bücher geschrieben und zahllose Vorträge gehalten, aber auf YouTube kommt als erster Treffer immer noch ein Video von einem Auftritt, bei dem du dich, müde und eingeschüchtert, von einem betrunkenen alten Rassisten auf offener Bühne hast zusammenstauchen lassen. Der Clip wird dir täglich zugeschickt. Mittlerweile haben sie dich auf 4chan, 8chan und Reddit demoliert und blamiert: europäische Faschisten und britische Torys, deutsche Liberale und kalifornische Marxisten, die Daily Mail, der Daily Express, der Daily Stormer und Wikileaks. Es hört nicht auf.

Alle wissen, dass du viel „Kummer“ hast, und viele wollen mehr darüber erfahren. Sie wollen wissen, wie und wann und mit welchen Mitteln man dich vergewaltigen und umbringen wollte. Sie wollen, dass du im Fernsehen weinst. Was du erzählst, scheint ihnen wirklich zu gefallen, aber natürlich würde niemand, den sie kennen, solche Beleidigungen posten. Das rein männliche Team für eine Doku ist eingeschnappt, als du dich weigerst, einige der „anstößigsten“ sexistischen und antisemitischen Pöbeleien aus der jüngsten Zeit vorzulesen. Es müsse doch dramatisch sein, damit eine „Bewusstseinsänderung“ einsetze. Du wirst für deine Zeit nicht bezahlt. Du setzt dich durch. Je mehr die Drohungen andere begeistern, desto weniger willst du deine Opferrolle ins Rampenlicht rücken. Sie finden es gut, wenn du in ihrem Beitrag eingeschüchtert wirkst. Wut können sie nicht gebrauchen. Du mögest dich bitte beruhigen. Sie wechseln vielsagende Blicke. Jetzt bist du ein Problem. Du warst immer ein Problem. Vielleicht haben die Internet-Spinner ja recht.

 

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„Frauen, die sich zu erfolgreich Sichtbarkeit verschaffen“, schreibt Sady Doyle in ihrem mitreißenden Buch „Trainwreck“, „wurden schon immer beobachtet, bestraft und zum Affen gemacht.“ Obwohl die Nutzer*innen seit fast zehn Jahren für Misogynie im Internet „sensibilisiert“ werden, ist es nicht besser geworden. Es ist schlimmer geworden. Und am häufigsten wird dafür nach wie vor den Opfern die Schuld in die Schuhe geschoben. Klar, niemand hat Morddrohungen verdient. Aber komm schon, Prinzessin. Hast du es nicht darauf angelegt, zumindest ein kleines bisschen? Du solltest nicht so ehrgeizig sein. So geradeheraus. So begabt. So frech. Pass auf, oder sie statuieren ein Exempel an dir.

Nicht alle werden gleichermaßen belästigt. Wenn es so wäre, fiele uns Solidarität leichter. Einzelne erhalten eine besonders fiese Spezialbehandlung, werden als Warnung an andere in allen Schattierungen der Selbstgerechtigkeit auf Schritt und Tritt beobachtet: Anita Sarkeesian, Diane Abbott, Zoë Quinn, Lena Dunham, Lindy West, Leslie Jones, Chelsea Manning und Laura Kuenssberg, leitende Politredakteurin bei der BBC, die wegen der brutalen Drohungen gegen sie Bodyguards braucht. Aber hat sie es nicht herausgefordert, als es wagte, eine kompetente Journalistin zu werden?

Nach dem Amnesty-Bericht hieß es in einem weinerlichen Twitter-Statement, man sei für Pöbeleien nicht verantwortlich, könne „Vorurteile und Hass“ nicht aus der Gesellschaft „löschen“. Kann sein, aber es kostet nicht viel Mühe, Räume zu schaffen, in denen so ein Verhalten nicht akzeptiert wird. Wir entscheiden, was für eine Öffentlichkeit wir wollen, und Twitter, ein brodelnder Kessel voller Verleumdungen, in dem mal dumpfige Meme, mal kühne Ideen hochblubbern, ist de facto das Forum der Öffentlichkeit. Was auf Twitter toleriert wird, wird auch offline toleriert und umgekehrt. Deshalb wurde eine Handvoll hemmungsloser weißer Rassisten verbannt, nicht aber Donald J. Trump.

Und deshalb erhalten rabiate Rassisten und fanatische Frauenhasser im Internet Raum: Weil sie offline immer noch als akzeptabel gelten.

Seit Nathaniel Hawthornes „Der scharlachrote Buchstabe“ist viel geschehen: Werden heute Frauen mit Schimpf und Schande aus dem öffentlichen Leben gejagt, so geschieht das eher nicht mehr mit floskelhaften Hinweisen auf die Sexualmoral, zumindest auf Seiten der Progressiven. Der meisten Progressiven. Meistens. Zugegeben, auch im letzten Winkel des öffentlichen Lebens darf sich eine Frau, die ein Minimum an Respekt erwartet, weder zu konservativ noch zu offenherzig, weder zu altmodisch noch zu frivol kleiden, darf beim Sprechen weder „aggressiv“ noch albern klingen, darf mit ihrem Verhalten keinen Mann in ihrer Nähe verunsichern. Fast könnte man meinen, das Problem wäre nicht Verhalten, Stimme oder Kleidung, sondern die Frau.

So sittenstreng wie unsere Großeltern sind wir heute aber nicht mehr. Nicht immer geht es auf, ehrgeizige oder außergewöhnliche Frauen einfach öffentlich als Schlampen zu diffamieren, und doch: Die moralische Empörung hält sich, diffus und deprimierend. Eine Studie der Harvard Kennedy School[6] von 2010 belegt, dass genau diese „moralische Empörung“ die Bürgerschaft erfasst, wenn Frauen in Politik und öffentlichem Leben an die Macht streben.

Machthunger bei Männern löst keine Empörung aus. Wenn aber Frauen als ehrgeizig, eigennützig oder einfach nur erfolgreich wahrgenommen werden, so gelten sie, unabhängig von ihrem Arbeitsgebiet oder Anliegen, von vornherein als Übel.

 

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Du bist 29 und hast es geschafft, ein paar Bücher zu schreiben. Immer wieder wird deine Arbeit als „provokativ“ bezeichnet. Du weißt nicht genau, was das heißen soll. Dein Kleidungsstil bewegt sich im Spektrum von Sackmode und Knobelstiefeln, und du hast es nie darauf angelegt, Männer zu ärgern, zur Weißglut zu bringen oder aufzugeilen – genau gesagt interessiert dich beim Schreiben nicht sonderlich, was Männer denken. Vielleicht liegt da das Problem. Wenn Menschen dich kennenlernen und merken, dass du leise sprichst, im Umgang eher ungelenk und vor allem körperlich so klein bist, dass du niemandem gefährlich werden kannst, reagieren sie oft mit hämischer Entrüstung. „Ich dachte, ich mag dich nicht“, sagen sie lächelnd, „aber du bist so nett.“ Dafür erwarten sie ein Dankeschön. Du erwiderst gezwungen ihr Lächeln, aber das tut weh.

 

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Manchmal frage ich mich spaßeshalber: „Was müsste ein Mann tun, um dermaßen zur Zielscheibe zu werden“? Die Antwort lautet, „Vergewaltigung oder Mord begehen und dafür verurteilt werden“. Nicht, dass Frauen in der Öffentlichkeit keine Fehler machten, doch die Bestrafung ist völlig unverhältnismäßig. Winona Ryders Karriere erholte sich, nachdem man sie beim Klauen erwischt hatte, erst nach zwanzig Jahren. Woody Allen, der des sexuellen Missbrauchs seiner Tochter beschuldigt wurde, erhielt unterdessen einen Preis nach dem anderen.

Wie überlebt man als Künstlerin, Autorin, Politikerin, Wissenschaftlerin die anhaltenden Pöbeleien, das unbarmherzige Eindringen in die Privatsphäre, das intime Sezieren jeder öffentlichen und halböffentlichen Äußerung? Früher schlugen sich damit nur echte Promis herum, und häufig hatte die Lösung mit Geld zu tun. Was aber ist mit Leuten, die im Bus erkannt und angeschrien werden, aber trotzdem weiter den verdammten Bus nehmen müssen?

Das macht ganz schön müde. Man stellt sich infrage. Trashing und Trolling erschweren die Arbeit wie der dicke Sirupsee im Traum, in dem man nicht vom Fleck kommt. Man hat Angst vor jedem Fehltritt. Man hat Angst, Risiken einzugehen. Angst ist der Tod der Kreativität, der Tod anständiger Politik, der Tod der Kunst.

Warum das so ist? Weil man, wenn man eine anständige Künstlerin, Unternehmerin oder Aktivistin – ein anständiger Mensch – sein will, offen bleiben muss. Unter dem Dauerbeschuss von Pöbeleien würde man sich am liebsten völlig in sich zurückziehen, sehnt man sich nach einer dicken Haut, und die ist das Letzte, was man als Autorin, Aktivistin oder politisch aktiver Mensch brauchen kann. Wir müssen durchlässig sein, verletzlich, veränderungsfähig, wenn wir in diesen schnelllebigen und schrecklichen Zeiten gemeinsam überleben wollen.

Es fällt schwer, sich berechtigte Kritik in Ruhe anzuhören, wenn man von allen Seiten mit Schwachsinn zugeknallt wird. Ich solle die Kritik abschütteln, höre ich oft, aber ich will eine gute Aktivistin und Mitstreiterin sein, und deshalb muss ich für Kritik offen bleiben. Wenn viele halbwegs vernünftige Leute einem sagen, dass man etwas verbockt hat, dann erwägt man, sofern man nicht gerade ein Monster ist, zumindest die Möglichkeit, dass man wirklich Mist gebaut hat, für den man sich vielleicht entschuldigen, aus dem man lernen sollte.

Ich plädiere seit jeher für eine Diskussionskultur, in der man sich gegenseitig zur Rede stellt, und ich tue es wieder. Trotz aller Probleme ist es ein Schritt hin zu einer echten Kultur der Verantwortlichkeit, wenn wir in diesem abartigen neuen öffentlichen Krypto-Raum Leute für ihr Tun zur Rechenschaft ziehen. Weil die Ungerechtigkeit strukturell so unangreifbar und die Feinde so gestaltlos sind, ist der eine oder die andere versucht, einen leichten Sieg einzufahren, indem sie kleinere Schweinereien im näheren Umfeld aufdecken. Auch das ist verständlich, wenn auch nicht sonderlich ehrenhaft. Entscheidend ist, ob man als wichtigste Waffe die Demontage des Gegenübers einsetzt.

Noch etwas haben die Linke, die Rechte und alle anderen Markierungen auf dem kaputten Kompass der richtungslosen Politik gemeinsam. Neben ihrer Abneigung gegen Frauen, die zu erfolgreich, zu glücklich, zu viel sind, teilen sie auch die Begeisterung, mit der sie ihnen eins aufs Dach geben.

Ich brauchte viele Jahre, bis ich unterscheiden konnte, welche Kritik man annehmen soll, wenn man die Bots und Faschisten erst herausgefiltert und blockiert hat. Das Entscheidungskriterium ist nicht der Ton, und es geht verdammt noch mal auch nicht um Twitter. Es geht um Lust. Genießt es jemand, wenn du dich scheiße fühlst? Macht es ihm Spaß, gewissenhafte Menschen in den Nervenzusammenbruch zu treiben? Gibt ihm dein Schmerz einen Kick? Das Wort für solche Leute ist nicht „Mitstreiter“. Mir leuchtet schon ein, dass Mobbing toll sein kann, vor allem, wenn man es nicht so nennt. Dass man sich beim Trashing wohlfühlen, sich dabei sogar im Recht fühlen kann. Aber ich habe die Theorie vollständig gelesen, mich durch sämtliche Flame Wars geschleppt und bin zu dem Schluss gelangt, dass Leute, die andere gern verletzen, meine und eure Zeit vergeuden. Die sollen mit ihren Neigungen in die entsprechenden Clubs gehen.

 

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Du bist 30. Ständig fragen dich die Leute, wie du mit dem „Kummer“ umgehst. Du weißt nicht, ob du ihnen die beruhigende oder die richtige Antwort geben sollst, nämlich, dass du dich gerade so über Wasser hältst und dass es auch keinen Trick dafür gibt, wie man sich die Zeit zurückholt, die man mit den emotionalen und praktischen Folgen der dauernden Pöbeleien vergeudet hat. Du hast Mühe, Beziehungen aufrecht zu erhalten. Bekannte flüstern hinter deinem Rücken über dich, und gute Freunde machen sich Sorgen. Du gehst wochenlang nicht aus dem Haus. Du fragst dich, ob du es vielleicht nicht anders verdient hast. Du überlegst, ob du aufgeben sollst. Du machst weiter. Du wirst wieder bestraft. Du gibst, verflucht nochmal, nicht auf. 

 

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Ich schreibe jetzt nicht über dieses Thema, weil ich die Hoffnung hätte, dass es sich erledigt. Viele von uns waren mal so naiv. Wir glaubten, wenn die Leute nur wüssten, wie sehr sie uns verletzen, wenn sie begriffen, dass wir menschliche Wesen sind, dann würden sie damit aufhören. Dieser kindliche Glaube an eine natürliche Grenze der menschlichen Bosheit ist vielleicht ein Merkmal unserer Privilegiertheit, denn natürlich fällt mir auf, dass viele, die jahrelang Missbrauch erlebt haben und sich diesen Glauben trotzdem bewahren, bürgerliche weiße Frauen wie ich sind.

Das heißt nicht, dass Arbeiterinnen oder Women of Color egal welcher Herkunft nicht gedemütigt und beleidigt würden – im Gegenteil. Sie haben nur eher nicht die Erwartung, dass sich die Welt darum schert. Besonders schwarze Frauen müssen Stärke beweisen angesichts einer völlig unzumutbaren Behandlung. Als die Schauspielerin Leslie Jones von Horden beleidigter rassistischer Trolle, die ihren Auftritt im weiblichen Remake von Ghostbustersals Kapitalverbrechen werteten, ungeheuerliche Beschimpfungen erhielt, setzte sie sich zur Wehr. Bevor die sozialen Medien überhaupt einschritten, wurde Jones für ihre „Stärke“ gelobt – dabei hatte sie nicht um Lob gebeten, sondern darum, die rassistischen Morddrohungen abzustellen. Jede Frau, die sich in der Öffentlichkeit hervortut, muss mit Belästigungen rechnen, Women of Color mit der doppelten Ration, doch die Forderung, angesichts feiger Hobby-Hassmobs Stärke zu beweisen, ist die finale Beleidigung. Das ist wohl der Obolus an den männlichen Stolz, den jede Frau, die etwas Beachtenswertes leistet, zu entrichten hat. Sie muss nicht nur leiden, sie muss dabei auch noch lächeln.

Doch nicht jede kann einfach weitermachen, wo die Welt doch anscheinend nur will, dass sie verschwindet. Viele bleiben auf der Strecke oder ziehen sich still und leise zurück oder wagen den Schritt in die Öffentlichkeit schon gar nicht. Eine solche Entscheidung würde ich niemandem vorwerfen. Ich selbst habe sie wohl unter anderem deshalb nicht getroffen, weil ich schon viel zu lange dabei und für jede andere Arbeit ungeeignet bin. Dazu kommt eine Prise Starrsinn, den Drecksäcken nicht den Sieg zu überlassen.

Trotz kann uns über Wasser halten, wenn Kraft und Selbstvertrauen nachlassen. Doch auf jede Frau, die jahrelang gegen Trashing und Trolling ankämpft, kommen viele, die aufgegeben haben, und das war ja auch Sinn der Sache. Frauen und Mädchen sollen aus den sozialen und kulturellen Räumen vertrieben werden, denn wenn sie diese Orte besiedeln, dann – tja, bekommen es einige Leute mit der Angst zu tun.

Und das durchaus berechtigt.

Ohne übertreiben zu wollen: Ist euch schon aufgefallen, dass Frauen und Mädchen heutzutage einfach der Hammer sind? Dass sie trotz aller Drohungen, aller Warnungen, aller Hürden, die ihnen in den Weg gelegt werden, die besten Texte verfassen, die aufregendsten Fernsehsendungen drehen, die frechste und originellste Musik und Kunst schaffen und die durchschlagendsten politischen Kampagnen organisieren? Besonders queere Frauen. Besonders Women of Color. Oh, und sie kandidieren auch, obwohl man ihnen doch klargemacht – und demonstriert – hat, was passieren kann.

Lugt mal durch eure schweißnassen Hände, und seht euch an, was Frauen tun und schaffen, obwohl sie sich unablässig gegen Trash-Mobs und offene Schikane zur Wehr setzen müssen und obwohl sie für die doppelte Arbeit immer noch weniger Geld bekommen, als ihnen zusteht. Seht, wenn ihr euch traut, wie viele von uns überleben und etwas erreichen, obwohl wir für unseren Ehrgeiz bestraft werden. Und überlegt euch mal, was wir noch alles schaffen könnten, wenn wir unsere Zeit nicht mit diesem Mist vergeuden müssten. Fragt euch, wie sich die Kultur verändern würde, wenn die Frauen nicht unter kritischer Dauerbeobachtung stünden, wenn wir verletzlich, schwierig, sonderbar sein, Risiken eingehen und Fehler machen dürften.

 

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Du bist 31, und es ist nicht besser geworden. Aber du bist besser geworden. Du arbeitest mehr denn je. Du kannst dir die seltenen Juwelen vernünftiger Kritik aus dem dampfenden Misthaufen bösartiger Pöbeleien herauspicken. Du weißt jetzt, das Problem warst du, die ganze Zeit, und das Problem war, dass du halbwegs begabt und einigermaßen erfolgreich warst. Das war alles.

Du hast dir keine dicke Haut zugelegt, sondern du hast gelernt, dich selbst zu achten, sorgsam mit dir umzugehen, denn anders hättest du gar nicht weitermachen können. Es fällt dir immer noch schwer, anderen zu vertrauen, echte Beziehungen aufzubauen. Du arbeitest daran. Jemand deutet freundlich an, dass du vielleicht eine posttraumatische Belastungsstörung hast, und du denkst, naja, vielleicht, aber das Trauma hält wahrscheinlich an, bis du mit dem Schreiben aufhörst, und dass du das nicht tust, hast du dir geschworen. Du hast Methoden zum Weitermachen entwickelt. Viele der Gifte, die du noch vor einem Jahrzehnt geschluckt hast, tolerierst du nicht mehr, unter anderem anmaßenden männlichen Schwachsinn. Du bist müde, aber du hast keine Angst mehr. Dafür bist du wütender, als du es je für möglich gehalten hättest. Und nicht nur wegen dir selbst.

 

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Wenn die Gesellschaft Frauen und Queere in ihre Schranken verweisen will, dann soll sie einfach so weitermachen. Falls die diversen linken Gruppen bis hin zur Welt der Kunst, des Films, der Musik, des Journalismus, der Politik und der Wissenschaft tatsächlich kollektiv entschieden haben, dass Frauen nicht zu viel anstreben, sich nicht exponieren, es sich nicht zu gut gehen lassen dürfen, dann sollen sie den giftigen Sumpf aus offenem Missbrauch nur weiter mit Trashing, Demütigung und sozialer Isolation auffüllen und so tun, als würden wir schon damit fertig werden, wenn wir nur richtig stark sind.

So kann sie uns aber niemals alle klein halten.

Ich kenne genügend Künstlerinnen, Autorinnen, Aktivistinnen und Musikerinnen, die so eingeschüchtert wurden, dass sie ihre Arbeit nicht publik machten, und andere, denen es nicht gut geht, weil sie sich in dem jahrelangen Kampf gegen Backlash und Bullshit behaupteten, aber zerschrammt und krank daraus hervorgingen, ohne geschafft zu haben, was sie hätten erreichen können. Dabei packt mich die Wut. Nicht Angst. Wut.

Manchmal ist Überleben ein politisches Statement. Wenn man die Wahl hat, aufzugeben oder auszuweichen, dann tut man vielleicht weder das eine noch das andere, weil man weiß, dass manche das als Sieg verbuchen würden – und ja, das sieht dann aus wie Stärke. Meine größte Hoffnung ist, dass künftige Generationen nicht wie wir ihre Zeit, Energie und Jugend darauf verschwenden müssen, diese Stärke aufzubringen.

Der Beitrag ist die deutsche Erstveröffentlichung des Textes „Who Does She Think She Is?“ der Autorin, der auf Longreads.com erschienen ist. Die Übersetzung aus dem Englischen stammt von Anne Emmert.

[1] Vgl. Urgent action needed to combat online violence against women and girls, www.unwomen.org, 24.9.2015.

[2] Vgl. Online abuse of women thrives as Twitter fails to respect women’s rights, www.amnesty.org, 21.3.2018.

[3]  Vgl. Calling out sexism on social media has revolutionised the feminist movement, www.mmu.ac.uk, 5.3.2018.

[4] Jo Freeman, Trashing: The Dark Side of Sisterhood, www.jofreeman.com, 4/1976.

[5] Alex Callinicos/SWP vs Laurie Penny/New Statesman Facebook handbags, www.urban75.net.

[6] Vgl. Tyler G. Okimoto und Victoria L Brescoll, The Price of Power: Power Seeking and Backlash Against Female Politicians, gap.hks.harvard.edu, 7/2010.

Aktuelle Ausgabe September 2025

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