Ausgabe Mai 1990

Das Bewusstsein, in einem kleinen Land gelebt zu haben

I

Zunächst mal finde ich die Frage in dieser spekulativen Form nicht gut. Weil ich denke, man sollte den Leuten jetzt Zeit geben, in einer offenen Situation - historisch offen, gesellschaftspolitisch, kulturell und überhaupt nach allen Himmelsrichtungen offen - auszuprobieren, wer sie wirklich sind.

Nachdem man so umschlossen war, muß man jetzt erst in der Reflexion sehen, was einen wirklich unterscheidet. Wenn ich trotzdem spekulieren soll, dann möchte ich sagen, es wird etwas bleiben von dem erreichten Stand im Verhältnis der Geschlechter in der DDR. Das ist gewachsen, und es gibt zumindest in meiner Generation, die in die DDR hineingeboren wurde, ziemlich deutliche Resultate. Weniger in dem, was man statistisch auflistet - z.B.: wieviele Führungspositionen Frauen innehaben -, sondern viel mehr im Alltag, im Umgang der Geschlechter miteinander. Das geht mit Sicherheit in die Breite der Alltagsbeziehungen. Auch im sexuellen Bereich vermute ich das, obwohl ich da überhaupt keine Statistiken kenne. Weiter wird das Gefühl bleiben, in einem kleinen Land gelebt zu haben. Und das dadurch geprägte Verhalten.

Die Vorstellung, daß man der Beste ist oder Bürger einer Großmacht, existiert hier nicht.

Mai 1990

Sie haben etwa 9% des Textes gelesen. Um die verbleibenden 91% zu lesen, haben Sie die folgenden Möglichkeiten:

Artikel kaufen (1€)
Digitalausgabe kaufen (10€)
Anmelden

Aktuelle Ausgabe November 2025

In der November-Ausgabe ergründen Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey die Anziehungskraft des demokratischen Faschismus. Frank Biess legt die historischen Vorläufer von Trumps autoritärer Wende offen – ebenso wie die Lebenslügen der Bundesrepublik. Daniel Ziblatt zieht Lehren aus der Weimarer Republik für den Umgang mit den Autokraten von heute. Annette Dittert zeigt, wie Elon Musk und Nigel Farage die britische Demokratie aus den Angeln zu heben versuchen. Olga Bubich analysiert, wie Putin mit einer manipulierten Version der russischen Geschichte seinen Krieg in der Ukraine legitimiert. Ute Scheub plädiert für die Umverteilung von Wohlstand – gegen die Diktatur der Superreichen. Sonja Peteranderl erörtert, inwiefern sich Femizide und Gewalt gegen Frauen mit KI bekämpfen lassen. Und Benjamin von Brackel und Toralf Staud fragen, ob sich der Klimakollaps durch das Erreichen positiver Kipppunkte verhindern lässt.

Zur Ausgabe Probeabo

Weitere Artikel zum Thema

Warnungen aus Weimar

von Daniel Ziblatt

Autokraten sind vielerorts auf dem Vormarsch. Ihre Machtübernahme ist aber keineswegs zwangsläufig. Gerade der Blick auf die Weimarer Republik zeigt: Oft ist es das taktische Kalkül der alten Eliten, das die Antidemokraten an die Macht bringt.