1960 erklärte Karl Jaspers, daß die Geschichte des deutschen Nationalstaates beendet sei. Ein Irrtum, wie sich heute erweist; denn die Deutschen haben wieder einen Nationalstaat. Dabei waren Intellektuelle in der Bundesrepublik schon davon ausgegangen, in einem "postnationalen" Gebilde (so der Soziologe M. Rainer Lepsius) zu leben, wähnten sich auf dem Wege nach "Klein-Europa" und fanden die Identität der Deutschen nicht mehr in gemeinsamer Kultur und Geschichte, sondern im Stolz auf das von ihnen vollbrachte Wirtschaftswunder, auf die wirtschaftlichen Aufbauleistungen also, sowie in der Orientierung auf die "Schutzmacht" Amerika und der Abgrenzung gegenüber Osteuropa mit seinen "realsozialistischen" Systemen. Hat der Anschluß der DDR daran etwas geändert?
Trotz aller Bekundungen, daß der deutsche Einigungsprozeß das Zusammenwachsen Europas beschleunige, fragt man sich in Paris besorgt, ob Bonn von seinen Zusagen für die zweite Phase der europäischen wirtschaftlichen und Währungsunion ab 1. Januar 1993 abrücken wird. Und im vereinigten deutschen Staat mehren sich die nationalistischen Töne. Die kurze letzte Etappe der DDR-Geschichte war u.a. geprägt von Ausländerfeindlichkeit vor allem jugendlicher Gruppen.