Ein Blick auf Kant
I
Sind die Deutschen eine Nation? Den Franzosen, die offenbar eine sind (sie hatten genügend Zeit, es zu werden), mag die Frage befremdlich vorkommen. Schiller äußerte 1796 - Bonaparte nahm gerade Italien ein - in einem Distichon seine Skepsis: "Zur N a t i o n euch zu bilden, ihr hoffet es, Deutsche, vergebens; / Bildet, ihr könnt es, dafür freier zu Menschen euch aus." Vier Jahre später traf ihn in Weimar die Nachricht von Napoleons Sieg bei Marengo, der den Untergang des alten römischen Reiches, des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, besiegelte. Er setzte sich sofort hin und entwarf ein Drama über den Sieg des Volksgeists über die Fremdherrschaft; es hieß "Die Jungfrau von Orleans". Die Nation war eine französische Erfindung, nun galt es, sie nachzumachen; um sich der Franzosen erwehren zu können, mußte man werden wie die Franzosen. Die klassische deutsche Literatur war eine nationale Literatur geworden, indem sie das französische Vorbild abgeworfen und sich auf Shakespeare orientiert hatte. Auf politischem Gebiet mißlang der entsprechende Vorgang; hier blieben die Deutschen die verspäteten Nachtreter französischer Konzepte.