Ausgabe August 1993

Einstweilige Anordnung des Bundesverfassungsgerichts vom 23.Juni 1993 zum Bundeswehr-Einsatz in Somalia (Auszüge)

Auf den Antrag der SPD-Bundestagsfraktion hin, den Bundeswehreinsatz in Somalia durch Einstweilige Anordnung zu unterbinden, traf der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts am 23. Juni 1993 die nachstehend dokumentierte Entscheidung. D. Red.

Der angekündigte Hauptsacheantrag ist weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet. Er wirft die gewichtige und schwierige Frage auf, ob und unter welchen Voraussetzungen die Bundesregierung Rechte des Bundestages verletzt, wenn sie entscheidet, sich mit deutschen Soldaten an einer vom Sicherheitsrat beschlossenen Aktion der Vereinten Nationen zu beteiligen. In dem Organstreitverfahren wird es um die von der Antragstellerin für den Bundestag geltend gemachten Entscheidungskompetenzen bei der Beteiligung der Bundeswehr an Aktionen aufgrund der Charta der Vereinten Nationen gehen. Eine Einstweilige Anordnung im Rahmen eines solchen Streits kann allein der vorläufigen Sicherung des strittigen organschaftlichen Rechts des Bundestages dienen, damit es nicht im Zeitraum bis zur Entscheidung in der Hauptsache durch Schaffung vollendeter Tatsachen überspielt wird.

Diese Sicherung hat hier davon auszugehen, daß ungeklärt ist, ob die Verwendung deutscher Soldaten im Rahmen der UN-Maßnahme aufgrund eines Gesetzes, gegebenenfalls eines verfassungsändernden Gesetzes zulässig ist oder ob der Bundesregierung insoweit - nach dem geltenden Verfassungsrecht die beanspruchte ausschließliche Entscheidungskompetenz in außen- und verteidigungspolitischen Angelegenheiten zusteht. Um in diesem Kompetenzkonflikt zwischen Parlament und Regierung mögliche Ansprüche des Bundestages zu sichern, ohne die Rechtsposition der Bundesregierung preiszugeben, kann das Bundesverfassungsgericht eine vorläufige Regelung lediglich darüber treffen welches Organ bis zur Entscheidung über die Hauptsache befugt sein soll, über die Verwendung der Bundeswehr zu bestimmen; diese Regelung hat - soweit dies die einstweilige Sicherung des geltend gemachten Rechts nicht hindert - im Zwischenbereich der einander widerstreitenden Kompetenzansprüche zu verbleiben. Im Vorfeld eines solchen Organstreits zwischen Parlament und Regierung über bestehende Entscheidungskompetenzen ist es grundsätzlich nicht Aufgabe des zu aktivem politisch gestaltendem Handeln nicht berufenen Gerichts, anstelle dieser Organe eine Einstweilige Sachentscheidung aufgrund einer Folgenabwägung zu treffen, für die es hinreichender rechtlicher Anhaltspunkte ermangelt.

Die Einstweilige Anordnung mußte in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang ergehen, weil die Antragstellerin anderenfalls bei einem Obsiegen im Hauptsacheverfahren schwerwiegende Nachteile hinzunehmen hätte, die größer wären, als diejenigen Nachteile, die die Antragsgegner träfen, wenn die Einstweilige Anordnung erlassen wird und sie im Hauptsacheverfahren obsiegten. Erginge eine Einstweilige Anordnung nicht, erwiese sich später aber die Mitwirkung deutscher Soldaten am UN-Einsatz in Somalia ohne die beanspruchte Beteiligung des Bundestages als verfassungswidrig, so hätte der Bundestag sein Recht auf Mitwirkung bei der Entscheidung über die Entsendung deutscher Soldaten nach Somalia größtenteils oder - je nach Dauer des Somalia-Auftrags schlechthin nicht wahrnehmen können. Eine solche Kompetenzverletzung wöge besonders schwer, weil die beanspruchte Entscheidung die Stellung Deutschlands in der UN und in der Völkerrechtsgemeinschaft bestimmt und sich der Bundeswehr... im Rahmen ihres Auftrages neuartige Aufgaben stellen.

Hinzu kommt, daß hier - insoweit abweichend von dem der Entscheidung des Senats vom 8. April 1993 (AWACS) zugrunde liegenden Sachverhalt - nicht unerhebliche Gefahren einzuschätzen und zu bewerten sind, die den Soldaten bei der Erfüllung des UNO-Mandats in Somalia an Leib und Leben drohen. Auch stünde eine später sich als notwendig erweisende parlamentarische Beschlußfassung unvermeidlich unter dem Druck inzwischen geschaffener tatsächlicher Verhältnisse und etwa eingetretener Entwicklungen. Demgegenüber wögen die Nachteile der hier getroffenen Einstweiligen Anordnung weniger schwer, wenn es sich später im Hauptsacheverfahren erwiese, daß die Mitwirkung deutscher Soldaten bei der Erfüllung des UNO-Mandats in Somalia von der Bundesregierung beschlossen wurde, ohne Rechte des Bundestages zu verletzen.

Dann hätte zwar der Bundestag an einer Entscheidung mitgewirkt, die in die Kompetenz der Bundesregierung fällt - dies allerdings in der Eigenschaft eines Verfassungsorgans, dem die Bundesregierung für ihre Entscheidungen auch im außen- und sicherheitspolitischen Bereich parlamentarisch verantwortlich ist. Verweigert der Bundestag die Zustimmung, so wird deutlich, daß der Bundesregierung für ein Engagement in Somalia die Unterstützung des Parlaments fehlt. Stimmt der Bundestag... zu, wird dem gemeinsamen Interesse sowohl der Bundesregierung als auch des Parlaments Rechnung getragen, der Entscheidung für die Dauer der verbleibenden Unsicherheit der verfassungsrechtlichen Lage eine den Kompetenzstreit überbrückende Grundlage zu geben.

Das Zusammenwirken von Bundesregierung und Bundestag ist mithin bis zur Entscheidung in der Hauptsache dahin zu bestimmen, daß die Initiative der Bundesregierung und die Zustimmung des Bundestages als konstitutiver Akt die UNMission des deutschen Kontingents nur gemeinsam tragen. Die Überbrückung des Kompetenzstreits für die Zeit bis zur Entscheidung der Hauptsache hat zur Folge, daß eine Beschlußfassung des Bundestages über die Zustimmung zu der Entsendung deutscher Soldaten zu UNOSOM 11 nicht dem Einwand ausgesetzt ist den die Antragstellerin aus Art. 87a GG herleitet; die umfassende Abwägung aller für und gegen diese Entsendung sprechenden Gründe bleibt dabei gewährleistet. Die Einstweilige Anordnung sichert somit nicht das von der Antragstellerin geltend gemachte Recht vor der Entsendung deutscher Soldaten nach Somalia ein Verfassungsänderungsverfahren durchzuführen; sie sichert jedoch insoweit etwaige Mitwirkungsrechte des Parlaments indem sie die Bundesregierung an die Konstitutive Zustimmung des Bundestages bindet. ...

Während der Bundestag in seinen früheren Entschließungen die Bundesregierung in ihrer bereits betroffenen Entscheidung bestärkte und diese politisch bekräftigte ohne selbst eine Entscheidungskompetenz zu beanspruchen, ist dem Bundestag nunmehr aufgegeben, in eigener Verantwortlichkeit zu bestimmen, ob und in welchem Umfang der Beschluß der Bundesregierung vom 21. April 1993 unter Nr. 1 bis zur Entscheidung der Hauptsache verwirklicht werden darf. Auch weitere Beschlüsse der Bundesregierung, die von diesem Beschuß abweichen oder ihn erneuern, bedürfen vor ihrer Ausführung parlamentarischer Zustimmung... Um dem Bundestag die Wahrnehmung der ihm in der Zeit bis zur Entscheidung in der Hauptsache zufallenden Befugnisse und die parlamentarische Kontrolle der von ihm mitzuverantwortenden Vorgänge zu ermöglichen, ist die Bundesregierung gehalten, das Parlament laufend über den Fortgang der Maßnahme der Vereinten Nationen in Somalia sowie über die Einsatzbedingungen des Deutschen UNOSOM II-Kontingents und die Erfüllung seines Auftrages zu unterrichten.

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