Natürlich gibt es ein Begründungsdefizit der deutschen Einheit. Nicht der Einheit als solcher; deren Herstellung verstand sich ja noch mehr oder weniger von selbst.
Aber die Frage, wer wir künftig zusammen sein wollen, als (wieder)vereinte Nation, ist zweifellos offen. Es will auch keiner so recht anfangen, darüber nachzudenken. Mit unangenehmen Realitäten haben wir in Deutschland ja unsere Schwierigkeiten, berufen uns lieber auf das "Recht auf Sonne" (ius solis). Was würde sich auch ergeben, wenn man über die Weltlage, die Probleme und Aufgaben des Landes in ihr nachdenken wollte? Die Politikverdrossenheit hängt sicher auch damit zusammen, daß unser gesamtes politisches Personal - wie ja, nebenbei gesagt, auch das politische Vokabular und unsere politisch-gesellschaftliche Vorstellungswelt von Wirklichkeit und Möglichkeiten - angesichts der neuen Lage seit 1989 (nicht nur der deutschen Einheit) hoffnungslos überfordert ist.
Aber sie hat nach meinem Urteil zugleich länger zurückliegende Ursachen, die schon in der alten BRD angelegt sind; angesichts etwa der Veränderungen, die zumal die SPD in unserer Zweidrittel- (oder Dreiviertel-)Gesellschaft erlitten hat, um die Nachwirkungen von '68 beiseite zu lassen.