Ausgabe Juli 1994

Allerlei Revisionsbedarf

I. Vorläufige Nachbehandlung

In seinem berühmten Vortrag "Politik als Beruf" aus dem Winter 1918/19 wandte sich Max Weber gegen die Psycho-Technik, Niederlagen als Ergebnisse sittlicher Überlegenheit darzustellen. Als Abschreckungsbeispiel nannte er unter anderem den abgewiesenen Liebhaber, der plötzlich entdeckt, die Angebetete sei seiner nicht wert gewesen. Nicht besser fährt der Soldat, der den Belastungen des Krieges nicht gewachsen ist, kollabiert, den individuellen Zusammenbruch aber als Folge einer ethischen Maxime darstellt, indem er sagt: "Ich konnte das deshalb nicht ertragen, weil ich für eine sittlich schlechte Sache fechten mußte". In seinem dritten Beispiel wird Weber unmittelbar tagespolitisch. Er warnt davor, Kriegsursache und -niederlege (er meint implizit die deutsche Situation 1918) ethisch zu interpretieren.

Dieselbe schiefe Optik wie beim Abgeblitzten und beim Deserteur finde sich "bei dem im Kriege Besiegten. Statt nach alter Weiber Art nach einem Kriege nach dem 'Schuldigen' zu suchen - wo doch die Struktur der Gesellschaft den Krieg erzeugte -, wird jede männliche und herbe Haltung dem Feinde sagen: Wir verloren den Krieg, ihr habt ihn gewonnen.

Juli 1994

Sie haben etwa 7% des Textes gelesen. Um die verbleibenden 93% zu lesen, haben Sie die folgenden Möglichkeiten:

Artikel kaufen (1€)
Digitalausgabe kaufen (10€)
Anmelden

Aktuelle Ausgabe September 2025

In der September-Ausgabe plädiert Lea Ypi für eine Migrationsdebatte im Sinne der Aufklärungsphilosophie. Cinzia Sciuto fordert, der zunehmenden Aushöhlung des Völkerrechts mit einer entschiedenen Verteidigung desselben zu begegnen – und nicht mit Resignation und falschem Realismus. Für Georg Diez markieren die Kriegsverbrechen in Gaza und die fehlenden Reaktionen darauf einen Epochenbruch; sie stünden für nicht weniger als den Verrat des Westens an der Humanität. Herfried Münkler analysiert, wie Kriege historisch endeten und Friedenszeiten begannen und was das mit Blick auf den Ukrainekrieg bedeutet. Simone Schlindwein deckt auf, wie Russland junge Afrikanerinnen mit falschen Versprechen für die Kriegswirtschaft rekrutiert. Warum die grüne Digitalisierung ein Mythos ist und was der KI-Boom den Globalen Süden kostet, erläutern Ingo Dachwitz und Sven Hilbig. Und Eva-Maria Klinkisch sowie Markus Rieger-Ladich zeigen auf, wie Long Covid-Betroffene von der Gesellschaft und dem Gesundheitssystem systematisch ignoriert werden – und was dagegen zu tun ist. 

Zur Ausgabe Probeabo

Weitere Artikel zum Thema Ostdeutschland

Rechte Gewalt, leere Kassen: Ostdeutsche Zivilgesellschaft unter Druck

von Elisa Pfleger

In der Bundespolitik ist das Entsetzen über den Erfolg der AfD bei der Bundestagswahl noch immer groß. In allen ostdeutschen Flächenländern und in 43 von 48 Wahlkreisen wurde die in weiten Teilen rechtsextreme Partei stärkste Kraft, in Görlitz und im Kreis Sächsische-Schweiz-Osterzgebirge erhielt sie beinahe 50 Prozent der Stimmen.