Ausgabe Oktober 1994

Überlegungen zur europäischen Politik

Positionspapier der CDU/CSU-Fraktion vom 1.September 1994 (Wortlaut)

Am 1. September 1994 stellten u. a. der CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende Wolfgang Schäuble, Karl Lamers als außenpolitischer Sprecher der christdemokratischen Bundestagsfraktion und der außen- und verteidigungspolitische Sprecher der CSU-Landesgruppe Michael Glos ein europapolitisches Positionspapier der Fraktion vor. Die zentrale These: Um dem ins Stocken geratenen Prozeß der europäischen Integration „neuen Schwung" zu geben, sei die Bildung eines aus der Bundesrepublik, Frankreich und den Benelux-Staaten zu bildenden, für weitere Teilnehmer allerdings offenen „Kerneuropa " vonnöten. Erforderlich sei, daß „die Länder des festen Kerns sich nicht nur selbstverständlich an allen Politikbereichen beteiligen, sondern darüber hinaus gemeinsam erkennbar gemeinschaftsorientierter handeln als andere". Den „Kern des festen Kerns " müssten Deutschland und Frankreich bilden.

Die christdemokratischen Überlegungen lösten sowohl in der Bundesrepublik wie im europäischen Ausland ein großes, überwiegend skeptisches bis ablehnendes Echo aus, bei dem allerdings diverse Aspekte des vielschichtigen Papiers unberücksichtigt blieben.

Dazu zählt auch, daß die Europa-Thesen zum Auftakt der sogenannten „heißen Phase" des Bundestagswahlkampfs veröffentlicht wurden und durchaus unterschiedliche Botschaften für verschiedene Wählergruppen bereithalten. Der gemeinhin als Kohl-Nachfolger gehandelte Wolfgang Schäuble, der sich in seinem wenige Monate alten Buch „ Und der Zukunft zugewandt" einmal mehr deutschnational präsentierte, sucht jetzt das Profil eines „Kerneuropäers", der (wie Kohl) das Konzept des westlich eingebundenen „ europäischen Deutschland " forciert: „Nach der Wiedervereinigung und - was in diesem Zusammenhang noch wichtiger ist - nachdem der Osten als Aktionsraum für die deutsche Außenpolitik zurückgekehrt ist und der Bewegungsspielraum für Deutschland derselbe ist wie für alle seine westlichen Partner, stellt sich die alte Frage nach der Eingliederung der Stärkung Deutschlands in die europäische Struktur, die schon am Beginn des zunächst auf Westeuropa beschränkten europäischen Einigungsprozesses gestanden hatte, in neuer, ja in ihrer eigentlichen Bedeutung. "

Die europapolitischen Überlegungen erschöpfen sich allerdings nicht in den kalkulierten Auswirkungen auf den Bundestagswahlkampf. Sie können darüber hinaus für sich verbuchen, entgegen der verbreiteten harmonisierenden Europa-Rhetorik („Erweitern plus vertiefen") die Krise des Maastricht-Prozesses und deren Ursachen deutlich zu benennen: die Überdehnung der Gemeinschaft mit (ab Januar 1995) sechzehn Mitgliedern, die auseinanderlaufenden Interessen der einzelnen Staaten, Konfliktpunkte wie die Einbeziehung der mittelosteuropäischen Staaten. Die Turiner Tageszeitung „La Stampa" kommentierte denn auch: „Die Deutschen haben laut und mit brutaler Offenheit ausgesprochen, was in Brüssel viele hinter vorgehaltener Hand seit mindestens zwei Jahren gesagt haben. Die Union ist zu groß und zu heterogen, als daß alle ihre Mitglieder gemeinsam dieselben Ziele erreichen könnten. . . ". [...]

 

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