Die Überlegung scheint nicht unberechtigt, daß 1995 das Jahr der großen Gedenktag-Verabschiedungen in Deutschland wird. Aus vielerlei Gründen: nicht nur, weil die Zeit der Weltkriege und der NS-Diktatur zunehmend in den Sog einer wie auch immer gearteten Historisierung gerät, und auch nicht nur deshalb, weil die Biologie des Menschen dazu führt, daß sich unmittelbare Erinnerung auf einen immer kleiner werdenden Kreis von Überlebenden beschränkt, während die meisten Nachgeborenen diese Gedenktage nur noch durch die Überlieferung des Hörensagens, des Schrifttums und der gesteuerten Bildflut wahrnehmen. Genauso wichtig erscheint der Umstand, daß sich nach den Ereignissen von 1989 in Deutschland und in der Welt die Perspektive auf das verändert hat, was über fünfzig Jahre lang Politiker, Militärs und Geisteswissenschaftler u.a. in erbitterten Kontroversen verstrickte, wenn es darum ging, Ursachen, Folgen und Konsequenzen der NS-Herrschaft und des von Deutschland entfesselten Krieges zu erörtern. Heute muten diese über Jahrzehnte so leidenschaftlich ausgetragenen Auseinandersetzungen vielfach schon merkwürdig verstaubt an, obgleich nach wie vor eine Bilanz des Jahrhunderts aussteht.
In der September-Ausgabe plädiert Lea Ypi für eine Migrationsdebatte im Sinne der Aufklärungsphilosophie. Cinzia Sciuto fordert, der zunehmenden Aushöhlung des Völkerrechts mit einer entschiedenen Verteidigung desselben zu begegnen – und nicht mit Resignation und falschem Realismus. Für Georg Diez markieren die Kriegsverbrechen in Gaza und die fehlenden Reaktionen darauf einen Epochenbruch; sie stünden für nicht weniger als den Verrat des Westens an der Humanität. Herfried Münkler analysiert, wie Kriege historisch endeten und Friedenszeiten begannen und was das mit Blick auf den Ukrainekrieg bedeutet. Simone Schlindwein deckt auf, wie Russland junge Afrikanerinnen mit falschen Versprechen für die Kriegswirtschaft rekrutiert. Warum die grüne Digitalisierung ein Mythos ist und was der KI-Boom den Globalen Süden kostet, erläutern Ingo Dachwitz und Sven Hilbig. Und Eva-Maria Klinkisch sowie Markus Rieger-Ladich zeigen auf, wie Long Covid-Betroffene von der Gesellschaft und dem Gesundheitssystem systematisch ignoriert werden – und was dagegen zu tun ist.