Ausgabe Januar 1995

Dokumente zum Verhältnis SPD/PDS.

Offener Brief von Michael Müller & Positionspapier der SPD Mecklenburg-Vorpommern zu den Sondierungen mit der PDS vom 25. Oktober 1994 (Wortlaut)

Die "Rote Socken"-Kampagne der CDU hatte den Bundestagswahlkampf wesentlich strukturiert. Auch nach den Wahlen ist die Frage nach dem Umgang mit der PDS beherrschendes Thema, ihre Beantwortung modelliert die Optionen der Opposition und die Möglichkeiten einer alternativen Regierungsbildung. Für die SPD wird sie zur nicht zuletzt selbstgestellten - Gretchenfrage. Wir haben zentrale Dokumente der Abgrenzung und Annäherung von SPD und PDS zusammengestellt: beginnend mit dem offenen Brief des damaligen Vorsitzenden des SPD-Ortsverbandes Leipzig-Mitte Michael Müller, der die Relikte sozialdemokratischer Selbstfindungsbernühungen aufgreift und als Leitlinie gegenwärtiger Politik - vor allem in Ostdeutschland - empfiehlt. Dieser Brief gehört nicht nur zu den Auslösern der Debatte, sondern führte auch zum Ende der Bundestagskandidatur des Verfassers und der Aberkennung seiner Parteifunktionen. D. Red.

 

Liebe Genossinnen und Genossen der SPD und PDS,

die Form dieses Briefes habe ich gewählt, weil wir die offene und öffentliche Diskussion brauchen, unser Verhältnis zueinander und miteinander grundlegend auf neue Füße zu stellen. Dazu braucht es mutige Genossinnen und Genossen in beiden Parteien, die einen langen Atem haben und sich mit diesem Anliegen gegebenenfalls auch gegen ihre eigenen Gremien durchzusetzen verstehen. Neun Gründe für das Zusammengehen von SPD und PDS:

1. Das politische linke Spektrum in Deutschland ist seit Ende des 1. Weltkrieges heillos zerstritten. Die Klärung und Befriedung dieses Konfliktes wurde, wie jeder weiß, während der Weimarer Republik nicht herbeigeführt, während der Nazi-Diktatur gewaltsam verhindert und mit der Gründung der SED im April 1946 trotz der ideologischen Propaganda der Kommunisten unter Ulbricht eher verschleiert und gegen alle Beteuerungen bis in die Zeit der Wende hinein sachlich nie geklärt.

2. Die Menschen - besonders im Osten des vereinten Deutschlands erwarten angesichts ihrer Probleme und Sorgen, die der bisherige Vereinigungsprozeß mit sich gebracht hat, eine vereinte, linke, politische Kraft, die der Politik der Konservativen in unserem Lande Entscheidendes entgegenzusetzen hat. "Links" hat sich für ganz Deutschland als verläßlich, alternativ und mehrheitlich wählbar zu erweisen.

3. Wir haben uns in der SPD endgültig von der Vorstellung zu distanzieren, als wären die ehemaligen Mitglieder der SED und der alten DDR-Parteien von vornherein von undemokratischer und verbrecherischer Gesinnung. Überlassen wir solches undifferenziertes Reden den Wahlkampfparolen der Konservativen. In ihren eigenen Reihen sind nicht nur die Mitglieder aller DDR-Parteien, sondern auch sehr viele ehemalige Genossinnen und Genossen der SED wiederzufinden. Die Konservativen strafen sich mit solchen Parolen selber Lügen.

4. Folgten und folgen nicht die Menschen im Osten wie auch im Westen Deutschlands schon immer den gleichen Opportunitäten im politisch-gesellschaftlichen Leben, um in der Gesellschaft dazuzugehören, nicht ausgeschlossen zu sein, um damit auch an ihren Vorteilen teilhaben zu können? Wenn dies für uns alle galt und gilt, so laßt uns in der SPD alle Vorurteile und mißbräuchlichen Verdächtigungen gegenüber den Genossinnen und Genossen der PDS und ehemaligen Mitgliedern der alten DDR-Parteien ablegen. Wir wollen nach der äußeren, formalen, politischen Einheit den Prozeß der inneren Einheit um der Menschen willen vorantreiben. Das Zusammengehen von SPD und PDS wäre das richtige Signal für die Menschen, vor allem im Osten Deutschlands, auf diese von allen erwartete innere Einheit zu!

5. Auch die Genossinnen und Genossen der PDS stehen auf dem Weg der inneren Einheit Deutschlands vor entscheidenden Herausforderungen. Die Gunst der Wähler aufgrund des sich angestauten Protestes über Jahre hinweg zu stabilisieren, wird sich auf Dauer als Trugschluß erweisen. Der Erfolg bei den letzten Wahlen im Juni wird weniger auf die programmatischen Aussagen der PDS zurückzuführen sein, als auf das Gefühl des Ausgeschlossenseins und Nichtmitbestimmendürfens des durch die Konservativen gestalteten Vereinigungsprozesses in Deutschland. Sollte z.B. der Koalition in Sachsen-Anhaltjetzt der Erfolg wohlmöglich und ausgerechnet durch machtpolitisches Verhalten der PDS versagt bleiben, werden die Wähler in Deutschland trotz aller zu erwartenden gegenteiligen Beteuerungen zu der Erkenntnis kommen: "Links ist vorerst nicht wählbar!" Die PDS wäre ihnen ein zu unsicherer Faktor.

6. Machtspiele von Parteien mögen zwar ihr Selbstwertgefühl steigern helfen; nützen tun sie niemandem! Einzig und allein befördern sie Ärger und Unglaubwürdigkeit über die Parteien in der Bevölkerung zum Schaden der den Politikern von den Wählern übertragenen Verantwortung, die sie am laufenden Band auch versprechen zu übernehmen. Das sage ich bewußt auch an die Adresse meiner eigenen Partei.

7. Der über 75 Jahre unbereinigte Konflikt der politischen Linken in Deutschland und die vor uns stehende Aufgabe der politischen Gestaltung des wieder vereinten Deutschlands gibt uns die Chance und legt uns zugleich um der Menschen willen die Verpflichtung auf, die Einheit der Linken in Deutschland mit Geschick, Mut und Kraft endlich wieder zu verwirklichen. Wir brauchen uns gegenseitig, sonst werden wir nicht mehr gebraucht! Laßt uns darum der "alten Dame" SPD das ihr würdige gesamtdeutsche Profil geben. Ideologische Unterschiede oder gar Streitereien haben noch keinen Menschen satt werden lassen, doch kluge und verantwortungsvolle Politik für mehr Gerechtigkeit in der Gesellschaft jedem einzelnen spürbar mehr Chancen eingeräumt.

8. Gewiß ist die anstehende Vereinigung bis zu den Bundestagswahlen im Oktober organisatorisch nicht zu erreichen. Fest stehen sollte allerdings, daß die Einheit der Linken nun auf der Tagesordnung steht. Bis zu ihrer Verwirklichung sollte ein breiter Meinungsprozeß in der Öffentlichkeit und besonders unter den Genossinnen und Genossen beider Parteien stattfinden. Beide Seiten sollten sich gegenseitig die Gelegenheiten zu Begegnungen, Gesprächen und zur Überwindung unserer Berührungsängste geben. Wir sollten dabei alle Interessierten einladen und mit in diesen Prozeß einbeziehen... Der Prozeß muß "von unten" her stattfinden.

9. Die Initiative der SPD zur Einheit der Linken kann nur durch die Mitglieder ihrer östlichen Landesverbände ergriffen werden. Ihre volle Bereitschaft zur Einheit bedarf des Konsenses in der ganzen Partei, Mein eindeutiges Signal an die PDS kommt einerseits für viele verständlicherweise zu früh, aber andererseits für manche auch schon wieder fast zu spät. Darum haben wir jetzt in SPD und PDS unter unseren Mitgliedern im Westen wie im Osten Deutschlands eindringlichst für die Einheit der Linken zu werben. Der Zeitpunkt spricht für uns. Der Prozeß dahin wird sich u.U. sehr schwierig gestalten, aber lohnend, spannend und zugleich Kräfte freisetzend sein. Wenn wir uns aber - egal auf welcher Seite der Einheit der Linken verschließen, werden wir eine historische Chance ungenutzt lassen. Das würde in Zukunft an den Wahlergebnissen ablesbar sein.

Unsere Einheit befördert die Einheit Deutschlands!...

"Jetzt muß zusammenwachsen, was zusammengehört!" (Willy Brandt)

Positionspapier der SPD Mecklenburg-Vorpommern zu den Sondierungen mit der PDS vom 25. Oktober 1994 (Wortlaut)

1. Die Grundrechte und die in den Artikeln 20 und 22 des Grundgesetzes festgelegten Grundsätze werden als unabhänderlicher Rahmen für die Verfassung von Mecklenburg-Vorpommern und als Grundlagen aller Politik in Mecklenburg-Vorpommern anerkannt. Das bedeutet im einzelnen: - Ein klares Bekenntnis zu den Menschenrechten, - Bindung von Gesetzgebung, vollziehender Gewalt und Rechtsprechung an die Grundrechte als unmittelbar geltendes Recht, - die Ausübung der Staatsgewalt, die vom Volke ausgeht, in Wahlen und Abstimmungen, - die Ausübung der Staatsgewalt, die vom Volke ausgeht, durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung (Gewaltenteilung), - die Bindung der Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung an Gesetz und Recht. Die Nichtbeachtung der Grundrechte und der vorgenannten Grundsätze war eine wesentliche Ursache für die Fehlentwicklung der DDR. Die Opfer dieser Fehlentwicklung haben Anspruch auf Rehabilitierung und Wiedergutmachung.

2. Die SPD erwartet, daß sich die PDS ohne Wenn und Aber zu der durch Volksabstimmung legitimierten Verfassung des Landes Mecklenburg-Vorpommern bekennt und auf ihre Forderung verzichtet, neben den gesetzlichen Verfassungsorganen sogenannte Runde Tische einzurichten. Die Runden Tische haben in der Phase des Übergangs von der SED-Diktatur zur Demokratie eine wichtige Rolle gespielt. Ihre Aufgabe ist nun auf die demokratisch gewählten Volksvertretungen im Land und in den Kommunen übergegangen.

3. Die SPD erwartet von der PDS die öffentliche Erklärung, daß die Zwangsvereinigung von SPD und KPD zur WED im Jahre 1946 Unrecht war und nur unter Androhung von Gewalt zustande gekommen ist. Die Ausschaltung der SPD im Jahre 1946 wird von der PDS als ein historischer Fehler bewertet, durch den die Demokratie beseitigt und die Diktatur ermöglicht wurde. Die PDS wird sich für die Verfolgung der Sozialdemokraten in der DDR entschuldigen.

4. Die Kräfte, die die o.g. Grundrechte und Grundsätze nicht anerkennen, wie die Kommunistische Plattform, Anarchisten u.ä. Gruppen, dürfen keinen Einfluß auf die Politik des Landes Mecklenburg-Vorpommem bekommen. Parlamentarische Demokratie und Kommunismus sind unvereinbar.

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