Belgien durchlebt, so scheint es, die erste große europäische Massenbewegung nach '89. Vergleichbar wären allenfalls die Dezemberstreiks 1995 in Frankreich, doch deren Fortwirkung blieb letztlich trotz intensiver Anteilnahme halb Europas bisher minimal. In Belgien hingegen hält das Aufbegehren der Bürger seit Monaten an. 350 000 Menschen waren am 20. Oktober in Brüssel auf den Beinen, aus Protest gegen die Ablösung eines Staatsanwaltes in der Kinderschänderaffäre - auf Deutschland hochgerechnet entspräche das einer Demonstration mit drei Millionen Teilnehmern.
Die fast unglaubliche Zahl veranschaulicht das Ausmaß der Bewegung; wie tief das Phänomen reicht, zeigt sich an anderen Charakteristika: an der Dauer vor allem, an der Beharrlichkeit, am gelassenen Praktizieren von Bürgerverantwortung, am energischen und konstanten Druck auf politische Veränderungen. Wenn der belgische Volksaufstand den derzeitigen Transformationsprozeß zur Bürgerbewegung durchhält, wenn dies sogar auf andere europäische Staaten ausstrahlte, dann wäre es eine Neuerung: der Versuch der Bürger, auf die gesellschaftlichen und sozialen Herausforderungen der kriselnden Wirtschaftsgesellschaft nicht länger mit resigniertem Achselzucken und Flucht in die nächstbeste ökonomische Nische zu reagieren, sondern die Gestaltungsaufgaben einer Humanisierung der Gesellschaft anzupacken.