Die Türkei auf Identitätssuche
Einen wie tiefen Einschnitt die Amtsübernahme von Ministerpräsident Necmettin Erbakan in der Türkei Ende Juni 1996 bedeutet, wird erst die Zukunft zeigen. Der Westen aber wird sich in jedem Falle daran gewöhnen müssen, daß er es künftig mit einer anderen Türkei zu tun hat. Nicht zwangsläufig mit einer Türkei, die sich weitgehend von ihm abkoppelt; aber einer Türkei, in der breitere Teile der Elite Europa, Europäisierung und Verwestlichung als allein selig machende Wertvorstellungen für die Entwicklung des Landes in Frage stellen werden. Die Ereignisse haben in Europa - auch in Deutschland, das der Türkei am nächsten steht - Überraschung hervorgerufen. Nicht wenige Beobachter sehen das Land bereits in die islamische Welt abdriften. Dies freilich zeigt, wie wenig ernsthaft man sich hierzulande über Jahre mit der Türkei befaßt hat.
Denn Zeichen an der Wand deuteten seit langem darauf hin, daß sich dort ein tiefgreifender Wandel vollzog, der insbesondere auch der islamischen Religion und Tradition wieder ihren gesellschaftlichen und politischen Stellenwert geben würde. Die jüngsten Entwicklungen sind das Ergebnis eines doppelten Wandels: des angedeuteten inneren auf der einen und des Zusammenbruchs der bipolaren Ordnung, in der auch die Türkei ihren unverrückbaren Standort hatte, auf der anderen Seite.