Ausgabe April 1997

Türkei: Militärdemokratie und Islamismus

Immer dann, wenn das türkische Militär in Konflikt mit den Islamisten gerät, pflegt die westliche Rezeption dasselbe Schema aus der Schublade der Geschichte hervorzukramen. Die Armee sei den Prinzipien des Republikgründers Mustafa Kemal Atatürk ergeben, verteidige den westlichen, säkularen Staat und garantiere, daß nicht "Fundamentalisten" wie im Nachbarland Iran ein theokratisches Regime errichten. Die Militärs als kleineres Übel, denen man Beifall zollt. Mit Genugtuung nimmt man dann zur Kenntnis, wie im vergangenen Monat der islamistische Ministerpräsident Necmettin Erbakan von den Militärs zurechtgestutzt wurde. Der inneren Dynamik der türkischen Gesellschaft wird diese Sichtweise alerdings kaum gerecht. Erbakan gab den Forderungen des "Nationalen Sicherheitsrates" nach und unterzeichnete ein Memorandum, daß die Militärs den zivilen Mitgliedern des Sicherheitsrates oktroyierten. Scharfe Maßnahmen gegen theokratische Bestrebungen werden darin gefordert. Vergeblich hatte Erbakan in klammheimlicher Diplomatie mit den Militärs versucht, den Forderungskatalog des Sicherheitsrates zu entschärfen. Erbakan hat die öffentliche Konfrontation mit dem Sicherheitsrat, einer nach 1980 auf Druck der Putschisten in die Verfassung aufgenommenen Instiution, nicht gewagt.

April 1997

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