Immer dann, wenn das türkische Militär in Konflikt mit den Islamisten gerät, pflegt die westliche Rezeption dasselbe Schema aus der Schublade der Geschichte hervorzukramen. Die Armee sei den Prinzipien des Republikgründers Mustafa Kemal Atatürk ergeben, verteidige den westlichen, säkularen Staat und garantiere, daß nicht "Fundamentalisten" wie im Nachbarland Iran ein theokratisches Regime errichten. Die Militärs als kleineres Übel, denen man Beifall zollt. Mit Genugtuung nimmt man dann zur Kenntnis, wie im vergangenen Monat der islamistische Ministerpräsident Necmettin Erbakan von den Militärs zurechtgestutzt wurde. Der inneren Dynamik der türkischen Gesellschaft wird diese Sichtweise alerdings kaum gerecht. Erbakan gab den Forderungen des "Nationalen Sicherheitsrates" nach und unterzeichnete ein Memorandum, daß die Militärs den zivilen Mitgliedern des Sicherheitsrates oktroyierten. Scharfe Maßnahmen gegen theokratische Bestrebungen werden darin gefordert. Vergeblich hatte Erbakan in klammheimlicher Diplomatie mit den Militärs versucht, den Forderungskatalog des Sicherheitsrates zu entschärfen. Erbakan hat die öffentliche Konfrontation mit dem Sicherheitsrat, einer nach 1980 auf Druck der Putschisten in die Verfassung aufgenommenen Instiution, nicht gewagt.
In der September-Ausgabe plädiert Lea Ypi für eine Migrationsdebatte im Sinne der Aufklärungsphilosophie. Cinzia Sciuto fordert, der zunehmenden Aushöhlung des Völkerrechts mit einer entschiedenen Verteidigung desselben zu begegnen – und nicht mit Resignation und falschem Realismus. Für Georg Diez markieren die Kriegsverbrechen in Gaza und die fehlenden Reaktionen darauf einen Epochenbruch; sie stünden für nicht weniger als den Verrat des Westens an der Humanität. Herfried Münkler analysiert, wie Kriege historisch endeten und Friedenszeiten begannen und was das mit Blick auf den Ukrainekrieg bedeutet. Simone Schlindwein deckt auf, wie Russland junge Afrikanerinnen mit falschen Versprechen für die Kriegswirtschaft rekrutiert. Warum die grüne Digitalisierung ein Mythos ist und was der KI-Boom den Globalen Süden kostet, erläutern Ingo Dachwitz und Sven Hilbig. Und Eva-Maria Klinkisch sowie Markus Rieger-Ladich zeigen auf, wie Long Covid-Betroffene von der Gesellschaft und dem Gesundheitssystem systematisch ignoriert werden – und was dagegen zu tun ist.