Ausgabe April 1997

Türkei: Militärdemokratie und Islamismus

Immer dann, wenn das türkische Militär in Konflikt mit den Islamisten gerät, pflegt die westliche Rezeption dasselbe Schema aus der Schublade der Geschichte hervorzukramen. Die Armee sei den Prinzipien des Republikgründers Mustafa Kemal Atatürk ergeben, verteidige den westlichen, säkularen Staat und garantiere, daß nicht "Fundamentalisten" wie im Nachbarland Iran ein theokratisches Regime errichten. Die Militärs als kleineres Übel, denen man Beifall zollt. Mit Genugtuung nimmt man dann zur Kenntnis, wie im vergangenen Monat der islamistische Ministerpräsident Necmettin Erbakan von den Militärs zurechtgestutzt wurde. Der inneren Dynamik der türkischen Gesellschaft wird diese Sichtweise alerdings kaum gerecht. Erbakan gab den Forderungen des "Nationalen Sicherheitsrates" nach und unterzeichnete ein Memorandum, daß die Militärs den zivilen Mitgliedern des Sicherheitsrates oktroyierten. Scharfe Maßnahmen gegen theokratische Bestrebungen werden darin gefordert. Vergeblich hatte Erbakan in klammheimlicher Diplomatie mit den Militärs versucht, den Forderungskatalog des Sicherheitsrates zu entschärfen. Erbakan hat die öffentliche Konfrontation mit dem Sicherheitsrat, einer nach 1980 auf Druck der Putschisten in die Verfassung aufgenommenen Instiution, nicht gewagt.

April 1997

Sie haben etwa 9% des Textes gelesen. Um die verbleibenden 91% zu lesen, haben Sie die folgenden Möglichkeiten:

Artikel kaufen (1€)
Digitalausgabe kaufen (10€)
Anmelden

Aktuelle Ausgabe Dezember 2025

In der Dezember-Ausgabe ergründet Thomas Assheuer, was die völkische Rechte mit der Silicon-Valley-Elite verbindet, und erkennt in Ernst Jünger, einem Vordenker des historischen Faschismus, auch einen Stichwortgeber der Cyberlibertären. Ob in den USA, Russland, China oder Europa: Überall bilden Antifeminismus, Queerphobie und die selektive Geburtenförderung wichtige Bausteine faschistischer Biopolitik, argumentiert Christa Wichterich. Friederike Otto wiederum erläutert, warum wir trotz der schwachen Ergebnisse der UN-Klimakonferenz nicht in Ohnmacht verfallen dürfen und die Narrative des fossilistischen Kolonialismus herausfordern müssen. Hannes Einsporn warnt angesichts weltweit hoher Flüchtlingszahlen und immer restriktiverer Migrationspolitiken vor einem Kollaps des globalen Flüchtlingsschutzes. Und die Sozialwissenschaftler Tim Engartner und Daniel von Orloff zeigen mit Blick auf Großbritannien und die Schweiz, wie wir dem Bahndesaster entkommen könnten – nämlich mit einer gemeinwohlorientierten Bürgerbahn. 

Zur Ausgabe Probeabo

Weitere Artikel zum Thema

Vom Proletariat zum Pöbel: Das neue reaktionäre Subjekt

von Micha Brumlik

Gewiss, es waren keineswegs nur Mitglieder der US-amerikanischen weißen Arbeiterklasse, die Donald Trump an die Macht gebracht haben. Und doch waren es auch und nicht zuletzt eben jene Arbeiter und Arbeitslosen – und genau hier liegt das eigentliche Erschrecken für die Linke.