Aufruf für mehr Demokratie vom 15. Mai 1998 (Wortlaut)
Anläßlich des 150. Jahrestages der Frankfurter Paulskirchenversammlung fordert ein "Aufruf für mehr Demokratie", der am 15. Mai in Frankfurt am Main vorgestellt wurde, die Einführung des Volksentscheids auf Bundesebene und eine Verbesserung des Mitspracherechts der Bürger in den Ländern und Kommunen. Der Aufruf wurde von der Initiative "Mehr Demokratie" angeregt. Sie hatte 1995 in Bayern mit Erfolg eine Kampagne für kommunale Bürgerbegehren organisiert und seither in verschiedenen Bundesländern die Nachahmung dieses Modells in die Wege geleitet. Sie will nun ein Jahr lang Unterschriften für den Aufruf sammeln, Zu den 65 Erstunterzeichnerinnen und Erstunterzeichnern gehören unter anderem die Politiker Herta Däubler-Gmelin, Otto Schily (beide SPD), Bernhard Hirsch (FDP) und Wolfgang Ullmann (Bündnis 90/Die Grünen). - D. Red.
Demokratie ist nicht ein für allemal fertig; sie hat sich geschichtlich entwickelt und muß sich weiterentwickeln hin zu dem Ziel größtmöglicher Freiheit und Selbstbestimmung der Menschen im Rahmen der staatlichen Gemeinschaft. Jubiläen wie 150 Jahre Märzrevolution von 1848 und 50 Jahre Grundgesetz erinnern daran, welchen Weg wir zurückgelegt haben, und mahnen zum Weitergehen. Das bereits von der Frankfurter Paulskirchenversammlung 1849 beschlossene allgemeine und gleiche Wahlrecht wurde erst 1871 Wirklichkeit, das lange geforderte Wahlrecht der Frauen setzte erst die Novemberrevolution 1918 durch. Auch die schrittweise Senkung des Wahlalters auf 18 (bzw. 16) Jahre und die Ausdehnung des Kommunalwahlrechts auf EU-Angehörige sind noch keineswegs Endpunkte der Entwicklung.
Entsprechend den jahrzehntelangen Forderungen der Arbeiterbewegung und liberaler Kräfte nahm die Deutsche Nationalversammlung 1919 Volksbegehren und Volksentscheid in die Weimarer Verfassung auf, allerdings mit praktisch unüberwindlichen Hürden. Der Parlamentarische Rat legte 1949 in Art. 20 Abs. 2 Grundgesetz als unverrückbaren Grundsatz fest, daß das Volk die Staatsgewalt "in Wahlen und Abstimmungen" ausübt, gestaltete das Abstimmungsrecht allerdings, abgesehen vom Sonderfall der Länderneugliederung, aus situativen Gründen nicht weiter aus. In der "Übergangszeit", für die das Grundgesetz zunächst gelten sollte, mochte dieser Verzicht hinzunehmen sein. Seitdem aber die Einheit und Freiheit Deutschlands vollendet ist und das Grundgesetz als endgültige deutsche Verfassung gilt, ergibt sich aus Art. 20 Abs. 2 Grundgesetz der Auftrag, auf diesem Fundament weiterzubauen und Abstimmungen über Sachfragen praktisch möglich zu machen.
Angestoßen durch die 68er Bewegung und ein weiteres Mal befördert durch die friedliche Revolution im Jahr 1989 wurden in den letzten Jahrzehnten vielerlei Formen der Bürgerbeteiligung erprobt: Foren und Runde Tische, Arbeitskreise und Projektgruppen, Mediation und Planungszellen. Sie sollten noch weit häufiger als bisher und vor allem auch auf höheren Entscheidungsebenen im politischen System angewandt werden. Der Druck auf Politik und öffentliche Verwaltung, sich darauf einzulassen und entsprechend zu handeln, bleibt jedoch so lange gering, wie Bürgerinnen und Bürger nicht die Möglichkeit haben, Sachfragen auch selbst zu entscheiden. Andernfalls laufen alle Beteiligungsformen Gefahr, als eine Art Spielwiese zu fungieren. Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid auf allen politischen Ebenen sind deshalb ein "Türöffner" für die Entwicklung von Demokratie und Gesellschaft. Die Unterzeichnerinnen und Unterzeichner sind der Meinung, daß die Zeit hierfür reif ist. Der politische Reformstau ist dafür ein ebenso untrügliches Anzeichen wie Umfrageergebnisse, nach denen über 70% der Befragten das Abstimmungsrecht verlangen. Die demokratische Mitsprache der Bürgerinnen und Bürger weiter darauf zu beschränken, daß sie alle vier oder gar fünf Jahre ihre Stimme "abgeben" dürfen, heißt sie in Unmündigkeit zu halten.
Es geht auch anders: Die Erfahrungen in der Schweiz und in den amerikanischen Bundesstaaten sind insgesamt ermutigend. Zwar haben inzwischen alle Bundesländer entsprechende Regelungen für die kommunale und die Landesebene, während sie für die Stadtbezirke noch weitgehend fehlen. Die aufgerichteten Hürden sind jedoch meistens so hoch, daß davon nur wenig Gebrauch gemacht wird und viele Initiativen von vornherein entmutigt werden. Die von den politischen Repräsentanten gewährten Regelungen verhindern mehr, als sie ermöglichen. Gerade Regeln über direkte Demokratie müssen aber "anwendungsfreundlich" sein. Der Demokratie dient es am besten, wenn die Bevölkerung die Schritte ihres politischen Mündigwerdens selbst festlegt und im "Volksentscheid über den Volksentscheid" ihren Willen bekundet. Deswegen rufen wir dazu auf, die von Mehr Demokratie eingeleiteten Initiativen zur Verbesserung der vorhandenen Regelungen in den Bundesländern und zur Einführung des Volksentscheids auf Bundesebene zu unterstützen.