Ausgabe August 1998

Warnsignal aus Warschau

Ein naßkalter Tag Anfang November 1969 in Warschau: Helmut Kohl war Anfang der Woche zu einem zehntägigen Staatsbesuch auf dem Regierungsflughafen gelandet und mit allen Ehren empfangen worden. (Hans-Dietrich Genscher hatte sich geweigert, Kohl von Anfang bis Ende zu begleiten. Er, Genscher, wisse gar nicht, was er so lange in Polen tun solle, hieß es aus seiner Umgebung. Zehn Tage - das sei völlig unüblich) Kohl und seine Delegation wohnten in einem kurz zuvor eröffneten Luxushotel neben dem Hauptbahnhof. Dort hatte auch Regierungssprecher Hans Klein sein Büro eingerichtet. Plötzlich lud man uns Korrespondenten zu einer Pressekonferenz ein. Wir erfuhren von der Öffnung der Mauer und Kohls Entschluß, sofort nach Berlin zu fliegen. Das bedeute, so Klein damals, aber keineswegs den vorzeitigen Abbruch des Staatsbesuches. Der Bundeskanzler werde nach eineinhalb Tagen zurückkommen, nach Wroclaw, dort Polens ersten demokratisch gewählten Ministerpräsidenten, Tadeusz Mazowiecki, treffen und mit ihm gemeinsam am Folgetag zum Gut Kreisau fahren. Das war für Kohl ein besonders wichtiger Programmpunkt. Denn die Ruine von Kreisau sollte zu einer polnisch-deutschen Jugendbegegnungsstätte ausgebaut werden.

Kohl hatte um diesen Ort gebeten, weil dort 1942 die Widerstandsgruppe um den Grafen James von Moltke entstanden war. Nachdem am folgenden Tag beide Regierungschefs in klirrender Kälte ihre Reden gehalten hatten, zwang Kohl den Gastgeber förmlich in seine Arme. Der schmale, schlanke, mittelgroße polnische Politiker hatte zu wenig körperliche Kraft, sich aus der deutschen Umklammerung zu befreien. Die Bilder von jenem erzwungenen Clinch gingen rund um die Welt. Kohls Geste war wohl kalkuliert. Vor den Fernsehkameras der Welt wollte er zeigen, daß bei einer Vereinigung der beiden deutschen Staaten Polens Westgrenze unberührt bleiben werde. Das größere Deutschland werde versuchen, so Kohl damals in Niederschlesien, sich mit Polen ähnlich wie zuvor mit Frankreich zu versöhnen und Freundschaft zu schließen. Kohl hat Wort gehalten, immer wieder nachdrücklich für die Unantastbarkeit der polnischen Grenzen plädiert, und im Zwei-plus-vier-Vertrag erkannten sowohl die großen Siegermächte des Zweiten Weltkrieges als auch die beiden deutschen Staaten die nach 1945 entstandenen Grenzen in Europa als endgültig an. Polen konnte in Ruhe damit beginnen, seinen nun demokratisch geführten Staat aufzubauen.

"Schrille Töne"

Alljährlich vor Pfingsten gab es zwar immer mal wieder Störaktionen, wenn sich der Bund der Vertriebenen oder die Sudetendeutsche Landsmannschaft in Bayern zu ihren Jahresversammlungen trafen. Aber die Töne wurden leiser und leiser. Die Vertriebenen schienen sich mehr als ein halbes Jahrhundert nach der Vertreibung in der neuen Heimat etabliert zu haben - endlich. Doch dann nahte Pfingsten 1998 - mit zwei Wahlen in Bayern, Ministerpräsident Edmund Stoiber will bei der Landtagswahl am 13. September seine absolute Mehrheit im Freistaat verteidigen und die Verluste zwei Wochen später bei der Bundestagswahl so niedrig wie möglich halten - auch oder gerade wegen der sich abzeichnenden Ablösung der Regierung Kohl. Also versprach er den Vertriebenen das Blaue vom Himmel, versicherte sie seiner vollen Unterstützung und stellte als dilettierender Außenpolitiker den zuständigen Minister Klaus Kinkel ins Abseits. Gleichzeitig verabschiedeten CDU-, CSU- und FDP-Fraktion im Deutschen Bundestag eine Resolution, die es aus polnischer Sicht in sich hatte: Heimatvertriebene, Aussiedler und deutsche Minderheiten in Mittel- und Osteuropa müßten beim Zusammenwirken Deutschlands mit seinen östlichen Nachbarn umfassend einbezogen werden. Beim Beitritt Polens und der Tschechischen Republik zur EU und zur NATO werde hoffentlich auch das Recht der Freizügigkeit und der Niederlassungsfreiheit eingehalten. Als sei alles gemeinsam terminiert gewesen, goß die neue Präsidentin des Bundes der Vertriebenen, Erika Steinbach, mit ihrer Pfingstrede kräftig Öl ins Feuer.

Zuerst bezweifelte sie Nazigreueltaten in der ehemaligen Tschechoslowakei, was sie später dementierte und zurechtzurücken suchte. Dann meinte sie überheblich, Polen sei "nicht reif" für die EU, weil es den deutschen Vertriebenen "nicht einmal die selbstverständlichen Rechte wie Freizügigkeit und Niederlassungsfreiheit einräumen" wolle. Außerdem müsse Polen vorher das "Unrecht der Vertreibung ausgeräumt" haben. Das seien keine "schrillen Töne", meinte Steinbach später und griff gleichzeitig den Außenminister an. Manche Vertriebene seien "nicht sehr erfreut" über Kinkels Haltung, völkerrechtlich offene Fragen auf die lange Bank zu schieben. Er spekuliere offenbar auf das Aussterben der ersten Vertriebenengeneration. "Die Vertriebenen haben kein Grenzproblem", sagte die Präsidentin und hat damit recht. Die polnische Westgrenze haben die früheren Ostdeutschen nach jahrzehntelangem Zögern endlich zur Kenntnis genommen. Nun aber fallen manchem Funktionär neue Fallstricke ein. Müsse nicht den Vertriebenen ihr ehemaliger Besitz zurückgegeben werden? Hätten sie keinen Anspruch auf Wiedergutmachung für die Vertreibung oder Entschädigung durch den polnischen Staat? Kein Wunder, daß Polens Parlament reagieren mußte. In einer mit großer Mehrheit verabschiedeten Erklärung des Sejm heißt es u.a.: "Die Entschließung des Bundestages vom 29. Mai 1998 weist gefährliche Tendenzen auf, die nicht nur Polen zur Beunruhigung berechtigen. Wir erwarten, daß die Deutschen alles tun, damit nicht durch ein Partikular- und Augenblicksinteresse vergeudet wird, was der größte Erfolg Europas in den letzten Jahren ist.

Gemeinsam tragen wir die Verantwortung für eine dauerhafte friedliche Zusammenarbeit zwischen den Völkern." Steinbach und ihr Verband bekamen in der Bundesrepublik deutlichen Widerspruch - und zwar auch aus der CDU. Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestages, Karl-Heinz Hornhues (CDU) distanzierte sich nachdrücklich von der Forderung, vor einem EU-Beitritt Polens müßten deutsch-polnische Vertriebenen und Vermögensfragen geklärt werden. Es sei richtig, Probleme offen anzusprechen, allerdings so, daß "Ängste und Empfindlichkeiten unserer polnischen Nachbarn ernstgenommen werden." Deutschland bleibe bei seiner Haltung Polens Eintritt in die EU zu unterstützen. Es habe keinerlei Interesse, Hürden für Polen zu errichten.

Themen bleiben "offen"

Kontra bekam die Vertriebenenfunktionärin auch von der Präsidentin des Deutschen Bundestages. Rita Süßmuth kritisierte Steinbach u.a., weil sie Polen die EU-Reife abgesprochen habe. Das seien "falsche Töne". Nun müßten in Gesprächen mit Polen Sorgen und Mißverständnisse ausgeräumt werden. "Es ist jetzt nicht die Stunde, neue Mauern in den Köpfen aufzubauen." Während in Prag der neue Katalog von Vertriebenenforderungen relativ gelassen zur Kenntnis genommen wurde, ist die Erklärung im Sejm unzweideutig und spiegelt die Stimmung im Land. Die große sozialdemokratische Tageszeitung in Warschau, die "Trybuna", kommentierte kürzlich auf der Titelseite, auch mehr als 50 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg seien einige Deutsche offenbar noch immer nicht in der Lage, Polens Empfindlichkeiten bei der Westgrenze zu verstehen. In Polen ist die Angst vor den Deutschen neu erwacht, hat das Zündeln von Vertriebenen ein Feuer entfacht. Es macht das Gerücht die Runde, nach dem Eintritt in die EU würden frühere Ostdeutsche ihre Höfe und ihren Besitz einfordern. Auch gibt es Ängste, reiche Deutsche würden dann nach Polen drängen und billige Grundstücke an der Westgrenze aufkaufen wollen. Obwohl es in der Resolution des Bundestages heißt, man hoffe auf die Lösung bilateraler Fragen mit Tschechien und Polen, leiten viele Polen daraus den Versuch ab, im Rahmen der Beitrittsverhandlungen Vertriebenen zu ihrem ehemaligen Besitz zu verhelfen.

Und das, obwohl Außenminister Kinkel mehrfach betont hat, diese Fragen gehörten nicht zum Verhandlungskatalog. Bonn hält die Enteignung und Vertreibung für völkerrechtswidrig. Polen sieht das verständlicherweise anders. Bonn kann nicht offiziell Verzicht leisten, weil die Vertriebenen dann einen Rechtstitel hätten, die Bundesrepublik zu verklagen. Deshalb muß Bonn diese Themen für "offen" erklären. Jetzt kommt es darauf an, das seit der Vereinigung gewachsene und nun gestörte Vertrauen wiederherzustellen. In Warschau werden Gesten gut verstanden - schäbige wie freundliche. Daß Polen sich auf Bundestag und Bundesregierung verlassen kann, weiß man östlich von Oder und Neiße. Weil die Ostgrenze aber unverändert und trotz aller Verträge ein höchst sensibles Thema ist, kann es nicht schaden, immer mal wieder zu unterstreichen, wie endgültig diese Grenze ist, die hoffentlich bald keine Rolle mehr spielen wird. Rita Süßmuth und Karl-Heinz Hornhues täten gut daran, nach der Sommerpause nach Warschau zu reisen. Gerade das aber steht kaum zu erwarten - eben wegen der Bundestagswahl! Aber Gerhard Schröder könnte reisen und zwar so schnell wie möglich (und Joschka Fischer auch). Er bräuchte nur seine Wahlkampftour für wenige Tage zu unterbrechen. Ernsthaft gefährdet dürften die polnischdeutschen Beziehungen nicht sein - trotz Erika Steinbach. Besonderer Pflege bedürfen sie dennoch. Es ist - leider - der Augenblick gekommen, unseren Nachbarn in Warschau und Prag erneut ein Zeichen zu geben, daß die Endgültigkeit der Grenzanerkennung bekräftigt.

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