Ausgabe Januar 1999

Über deutsche Normalität - Die Walser-Debatte

Ignatz Bubis' Rede bei der Berliner Gedenkfeier zum 9. November (Auszüge)

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Die Gesellschaft ist gefordert: Es kann nicht sein, daß die Bekämpfung des Rassismus und Antisemitismus sowie der Fremdenfeindlichkeit den Juden überlassen wird, während ein Teil der Gesellschaft sich dadurch eher belästigt fühlt. In der Nachkriegszeit gab es einige Versuche, die überwiegend, aber nicht nur, aus rechtsradikalen Kreisen kamen, die Geschichte zu verändern. Es gab Bestrebungen, "Auschwitz", das ich hier als Synonym für die Vernichtung von Juden, Sinti und Roma, Homosexuellen, politisch oder religiös Verfolgten benutze, zu verharmlosen oder gar zu leugnen. Wir haben einen Historikerstreit erlebt, der in die gleiche Richtung zielte, oder als Zeichen der "Normalität" den Versuch, ein antisemitisches Stück aufzuführen. [...]

Den neuesten Versuch, Geschichte zu verdrängen beziehungsweise die Erinnerung auszulöschen, hat Martin Walser in seiner Dankesrede anläßlich des ihm verliehenen Friedenspreises des Deutschen Buchhandels am 11. Oktober dieses Jahres unternommen.

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Nun meine Antwort an Walser: Sehr verehrter Herr Bundespräsident, Herr Bundestagspräsident, Herr Bundeskanzler, für das, was ich jetzt sagen werde, bin ich allein verantwortlich und nicht "alle Juden". Genauso, wie für die Rede von Herrn Walser nur dieser verantwortlich ist und nicht "alle Deutschen". Das geht schon deshalb nicht, weil ich dann auch für die Rede von Walser verantwortlich sein müßte. Vorab aber einen Satz des Historikers Johannes Fried, den dieser anläßlich des 42. Deutschen Historikertages in seiner Begrüßungsrede gesagt hat: "Wer versucht, der Geschichte zu entkommen, muß auf Dauer scheitern." Ich bin vielfach dafür kritisiert worden, daß ich mit meiner Kritik an Walser überzogen hätte und daß ich ihn mißverstanden hätte. Martin Walser gehört zu den führenden Schriftstellern der Nachkriegsrepublik und ist ein Mann des Wortes. Er muß es sich deshalb gefallen lassen, daß man seiner Sprache und seinem Duktus mehr Aufmerksamkeit schenkt als der Sprache und dem Duktus eines gewöhnlichen Sterblichen wie mir. Ich wüßte nicht, was es an dem Satz, daß er habe lernen müssen wegzuschauen, daß er im Wegdenken geübt sei und daß er sich an der Disqualifizierung des Verdrängens nicht beteiligen könne, zu deuteln gäbe. Hier spricht Walser eindeutig für eine Kultur des Wegschauens und des Wegdenkens, die im Nationalsozialismus mehr als üblich war und die wir uns heute nicht wieder angewöhnen dürfen.

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Wer nicht bereit ist, sich diesem Teil der Geschichte zuzuwenden, sondern es vorzieht, wegzudenken oder zu vergessen, muß darauf gefaßt sein, daß Geschichte sich wiederholen kann. Diese Schande war nun einmal da und wird durch das Vergessenwollen nicht verschwinden; es ist "geistige Brandstiftung", wenn jemand darin eine Instrumentalisierung von Auschwitz für gegenwärtige Zwecke sieht. Das sind Behauptungen, wie sie üblicherweise von rechtsextremen "Parteiführern" kommen. Die Gesellschaft hat sich daran gewöhnt, daß solche Sätze und Behauptungen von rechtsextremer Seite kommen. Wenn allerdings jemand, der sich zur geistigen Elite der Republik zählt, so etwas behauptet, hat das ein ganz anderes Gewicht. Ich kenne keinen, der sich auf Frey oder Deckert beruft, aber mit Sicherheit werden auch die Rechtsextremisten sich jetzt auf Walser berufen. Nur damit Herr Walser und andere in ihrem Selbstbefinden nicht gestört werden, ihren Seelenfrieden finden können und der Eindruck des Instrumentalisierens nicht entsteht, kann man nicht darauf verzichten, Filme über die Schande zu zeigen.

Da ich davon ausgehe, daß Walser, genau wie ich, nicht einer "Kollektivschuld" das Wort redet, verstehe ich nicht, warum sich Walser beim Anschauen dieser Filme als Beschuldigter fühlt. Der Begriff "Auschwitz" ist keine Drohroutine oder ein Einschüchterungsmittel oder auch nur Pflichtübung. Wenn Walser darin eine "Moralkeule" sieht, so hat er vielleicht sogar recht, denn man kann, soll und muß aus "Auschwitz" Moral lernen, sollte es allerdings nicht als Keule betrachten. Ich muß unterstellen, daß es laut Walser möglicherweise nötig ist, die Moral als Keule zu benutzen, weil manche sie sonst vielleicht nicht lernen wollen. Man kann zu dem Holocaust-Mahnmal in dieser oder jener Form unterschiedlicher Auffassumg sein, und man kann auch überhaupt gegen die Errichtung eines solchen Mahnmals sein. Auf keinen Fall, auch nicht dichterisch, darf man den Entwurf als Albtraum bezeichnen und schon gar nicht als Monumentalisierung der Schande. Die Schande war monumental und wird nicht erst durch ein Mahnmal monumentalisiert.

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