"Die Zeit ist reif für mehr Demokratie", stellte die Reformwerkstatt der "Zeit" bereits im April 1998 fest und überschrieb ein ganzes Dossier "Jetzt werden wir direkt". Seit dem Spendenskandal ist der Enthusiasmus fürs Plebiszit kaum noch zu bremsen. Plötzlich sehen alle in der unmittelbaren Demokratie die Rettung: die, die zuvor nie an sie glaubten (CDU); die, die schon immer mit ihr flirteten (Grüne); die, die stets für was Neues zu haben sind (Journalisten). Als journalistischer Universalist mag ich mich, in politischer Philosophie zwar einigermassen zu Hause, in den Spezialistenstreit der politischen Theoretiker und Pragmatiker nicht einmischen. Ich will ganz konkret reden: über Schweizer Verhältnisse. Genauer: über Risiken und Nebenwirkungen der helvetisch direkten Demokratie. Im Besonderen: über die allerneuesten Versuche, die Volksherrschaft zu radikalisieren. Ein aktuelles Beispiel zum Einstieg: Am 12. September 1999 gab es in der Schweiz eine Premiere. Die Stimmberechtigten der Gemeinde Emmen (ein Vorort von Luzern) waren zur Urne gerufen, um über Einbürgerungsgesuche abzustimmen. Zuvor hatten sie die Initiative "Einbürgerungen vors Volk!" gutgeheissen.
In der September-Ausgabe plädiert Lea Ypi für eine Migrationsdebatte im Sinne der Aufklärungsphilosophie. Cinzia Sciuto fordert, der zunehmenden Aushöhlung des Völkerrechts mit einer entschiedenen Verteidigung desselben zu begegnen – und nicht mit Resignation und falschem Realismus. Für Georg Diez markieren die Kriegsverbrechen in Gaza und die fehlenden Reaktionen darauf einen Epochenbruch; sie stünden für nicht weniger als den Verrat des Westens an der Humanität. Herfried Münkler analysiert, wie Kriege historisch endeten und Friedenszeiten begannen und was das mit Blick auf den Ukrainekrieg bedeutet. Simone Schlindwein deckt auf, wie Russland junge Afrikanerinnen mit falschen Versprechen für die Kriegswirtschaft rekrutiert. Warum die grüne Digitalisierung ein Mythos ist und was der KI-Boom den Globalen Süden kostet, erläutern Ingo Dachwitz und Sven Hilbig. Und Eva-Maria Klinkisch sowie Markus Rieger-Ladich zeigen auf, wie Long Covid-Betroffene von der Gesellschaft und dem Gesundheitssystem systematisch ignoriert werden – und was dagegen zu tun ist.