Auf kaum einem anderen Feld wirkt das "amerikanische Modell" so autoritativ, so zwingend wie auf dem der "freien Wirtschaft". Zum kleinen Einmaleins unseres Amerika-Lehrgangs gehört mittlerweile, die beste Wirtschaftspolitik sei gar keine, oder wie es Ronald Reagan ausgedrückt hat: Der Staat sei nicht die Lösung irgendeines Problems, er sei das Problem. In den Vereinigten Staaten hat diese rechtsanarchistische Tradition im konservativen Milieu Schule gemacht - ein großer Teil der ökonomischen Lehre und Praxis hat für Staat und Politik nur Verachtung übrig. Anders auf dem europäischen Kontinent, wo der Staat seine Aufgabe nicht nur dann sah, Brücken und Straßen zu bauen, sondern auch Kontrolle über den Wirtschaftsprozess auszuüben und sogar selbst als Unternehmer aufzutreten. So gesehen, war der "rheinische Kapitalismus" tatsächlich ein Dritter Weg zwischen wildem Kapitalismus und Staatssozialismus. Seit Beginn der 90er Jahre sieht man in den USA den Abschied vom Staat wieder nüchterner, aber ein Paradigmenwechsel hat eher in Europa stattgefunden. Auch "New Labour" will hauptsächlich die Verschuldung bekämpfen, die Staatsquote senken und den "Wirtschaftskräften" ansonsten weltweit freie Hand lassen.
In der September-Ausgabe plädiert Lea Ypi für eine Migrationsdebatte im Sinne der Aufklärungsphilosophie. Cinzia Sciuto fordert, der zunehmenden Aushöhlung des Völkerrechts mit einer entschiedenen Verteidigung desselben zu begegnen – und nicht mit Resignation und falschem Realismus. Für Georg Diez markieren die Kriegsverbrechen in Gaza und die fehlenden Reaktionen darauf einen Epochenbruch; sie stünden für nicht weniger als den Verrat des Westens an der Humanität. Herfried Münkler analysiert, wie Kriege historisch endeten und Friedenszeiten begannen und was das mit Blick auf den Ukrainekrieg bedeutet. Simone Schlindwein deckt auf, wie Russland junge Afrikanerinnen mit falschen Versprechen für die Kriegswirtschaft rekrutiert. Warum die grüne Digitalisierung ein Mythos ist und was der KI-Boom den Globalen Süden kostet, erläutern Ingo Dachwitz und Sven Hilbig. Und Eva-Maria Klinkisch sowie Markus Rieger-Ladich zeigen auf, wie Long Covid-Betroffene von der Gesellschaft und dem Gesundheitssystem systematisch ignoriert werden – und was dagegen zu tun ist.