Die liberale Intelligenzija Rußlands fürchtet sich. In einer Sondernummer der Zeitung "Obschtschaja Gazeta" sprachen Prominente der frühen 90er Jahre einhellig von "totalitärer Vergeltung". Solche Ängste zeigten sich auch auf einer Anti-Kriegskundgebung im Zentrum Moskaus. Die Bedrohung existiert ohne Zweifel. Trotzdem klingen diese Worte unecht und fehl am Platze. Was läuft da ab?
Das Feindbild
Seit zehn Jahren jagen liberale Intellektuelle einander und der Öffentlichkeit Angst ein, indem sie vor einer Rückkehr der Kommunisten warnen. Wie so üblich, lebten unsere Kulturprominenz und die Star-Journalisten unter der Herrschaft der Kommunisten zumeist ganz angenehm. Gut, sie hatten Eingriffe in ihre Arbeit hinzunehmen, aber Totalitarismus gab es in Wirklichkeit schon nicht mehr. Totalitäre Systeme erlauben keine Perestroika. Doch diejenigen, die die Perestroika vorantrieben und dann das Hohelied neoliberaler Reformen anstimmten, brauchten schlichtweg ein Feindbild. Die Kommunisten kamen da gerade recht, denn noch hat niemand die Unterdrückung unter dem Stalinismus vergessen. Das Feindbild erwies sich als so furchterregend, daß die Intellektuellen selbst daran glaubten und vor Angst schlotterten.