Ausgabe Dezember 2001

Mitregieren oder Politik machen

Die Enttäuschung der Berliner PDS über ihre Ausbootung aus den Koalitionsverhandlungen im Hauptstadtstaat ist verständlich. Aber nicht alle Ausdrucksformen und Rationalisierungen dieser Enttäuschung halten genauerer Prüfung stand. Nachvollziehbar, aber nicht sehr politisch, ist das Gefühl des Undanks: Gewiss, ohne PDS-Stimmen wäre Wowereit nicht Bürgermeister geworden - und jetzt darf der Mohr gehen, den Zuschlag erhält eine teilweise rechtspopulistische und durchgehend dreist marktradikale FDP. Indessen: Auch die PDS hat einen dauerhaften Gewinn aus dem Berliner Regierungswechsel vom Juni 2001 gezogen. Sie gilt nun in der Bundeshauptstadt als anerkannter potentieller Regierungspartner und kann nicht mehr nach taktischem Beheben der anderen Parteien aus dem "Verfassungsbogen" ausgegrenzt werden. Selbst die CDU, die von dieser Ausgrenzung im Osten am meisten profitierte, weil man ohne sie schon rein rechnerisch fast nirgends Mehrheiten bilden konnte, wenn man die PDS nicht mitzählte, hat ihre letzten "Rote-Socken"-Plakate inzwischen entsorgt.

Die Befreiung aus der über zehnjährigen "babylonischen Gefangenschaft" der CDU Diepgens im Juni 2001 verdanken sich Wowereit und die PDS gegenseitig. Weitergehende Ansprüche aus diesem erfolgreichen kurzzeitigen Zweckbündnis sollten jedenfalls die politischen Profis nicht abzuleiten versuchen. Völlig berechtigt und zutreffend ist die Feststellung, dass mit dem Regierungsausschluss der PDS der "inneren Einheit" Berlins, der Integration von West- und Ost-Berlin, ein Bärendienst erwiesen wurde, der das Wappentier der Stadt sicherlich ganz traurig aussehen läßt. In Ost-Berlin hat die PDS immerhin 48% der Stimmen gewonnen - in welcher anderen Großkommune Deutschlands erreicht irgendeine der üblichen Volksparteien ein solches Traumergebnis? Und dennoch soll die PDS aus dem Senat ausgeschlossen bleiben? Wo bleibt da die Respektierung des Wählerwillens? - Kein Zweifel, dass viele Ost-Berliner, und nicht nur die PDS-Wähler, so denken. Der Ampel-Senat wird es schwer haben, im Ostteil der Stadt Kooperation und Anerkennung, etwa für seine Sparpolitik, zu finden. Wowereits SPD begeht einen schweren Fehler, wenn sie Selbstwertgefühle und Anerkennungsverlangen von Ost-Berlinern cool beiseite schiebt. Die politisch-kulturelle Spaltung der Haupt- und größten Stadt Deutschlands beruht nämlich keineswegs hauptsächlich auf einem sozioökonomischen Gefälle. Zum Beispiel ist die Arbeitslosigkeit im Westteil seit Jahren etwas höher als im Ostteil der Stadt. PDS-Wähler sind nicht ökonomisch deklassiert, erst recht sind sie keine Ulbricht- oder Honecker-Nostalgiker. Die PDSStärke gründet wesentlich auf einem Gefühl und einer Erfahrung der in Ost-Berlin besonders zahlreichen Intellektuellen und Führungskader der DDR: missachtet, nicht anerkannt, abgewertet zu werden - eine Lebensdeutung, die sich nach den Erfahrungen mit der "Wessi"-Arroganz nach 1989 auch auf jüngere "Ossis" übertragen hat. Wer diesem Gefühl immer wieder neue Nahrung gibt, wie jetzt die drei Ampel-Parteien genüsslich rechnete die PDS vor, dass sie im Westen genau so viele Wähler aufbrachte wie Grüne und FDP gemeinsam im Osten, nämlich jeweils 69 000 -, nimmt damit eine Vertiefung und Verlängerung der politisch-kulturellen Spaltung der Hauptstadt und damit auch der gesamten deutschen Gesellschaft in Kauf.

Undemokratisch?

Ganz unbegründet erscheint mir aber der im Umkreis der PDS und auch der parteiintern unterlegenen SPD-Linken immer wieder erhobene normative Vorwurf, der Ausschluss der PDS aus der Berliner Regierungskoalition sei "undemokratisch". 1) Dieser Vorwurf wird mit zwei sehr verschiedenen Argumenten untermauert. Zum einen wird ein Demokratieverstoß in der offenen Einflussnahme des Kanzlers und Parteivorsitzenden Schröder auf die Berliner SPD gesehen. - Gewiss ist nicht zu bestreiten, dass Schröders Stil einer Führung durch "Machtworte" der innerparteilichen Demokratie, und darüber hinaus der Demokratie im Lande überhaupt, abträglich ist. Aber "Machtworte" werden nur mächtig durch gefügige Empfänger. Die Berliner SPD hätte in der Koalitionsfrage, wenn sie anderes gewollt hätte als Schröder, auch stur bleiben können, wie einst Höppner in Sachsen-Anhalt oder Ringstorff in Mecklenburg.

Die Drohung, dass es dann weniger Bundeshilfe für den maroden Landeshaushalt gegeben hätte, schien gerade für die Bundeshauptstadt nicht sehr glaubwürdig. Nebenbei: Ich finde es bedenklich, wie die Machtwort-Adressaten sich in Subalternität gegenüber diesem Kanzler üben. Schröder hat etwa nach der Kritik der IG Metall am Afghanistan-Krieg gesagt, die Gewerkschaften sollten sich aus der Außenpolitik heraushalten und bei ihrem Leisten bleiben. Eine angemessene Reaktion der Gewerkschaften wäre gewesen, die inhaltliche Dümmlichkeit dieses Kanzlerspruchs zu kritisieren und im übrigen dem Bürger Schröder zu raten, bei seinem Leisten zu bleiben und keine Definitionsmacht für die Aufgaben von Gewerkschaften oder anderen gesellschaftlichen Gruppen zu beanspruchen. In diese Richtung gingen Stellungnahmen des IG-Metall-Vizes Jürgen Peters, auf Gewerkschaftskonferenzen waren aber auch Stimmen zu hören, in denen der Kanzler gebeten wurde, sein Wort zurückzunehmen oder zu überdenken. Selbst wenn es in der Sache - Gewerkschaften haben selbstverständlich ein politisches Recht auf Internationalismus, also auf Stellungnahmen zur "Außenpolitik" - um dasselbe ging, liegt im flehentlichen Gestus bereits ein Stück Demokratieverzicht: Dem Kanzler wurde durch die Form der Bitte die von ihm angemaßte Definitionsmacht auch noch zuerkannt.

Als "undemokratisch" gilt vielen zum zweiten die Missachtung des Ost-Berliner Wählervotums für die PDS bei der Koalitionsbildung. Dass diese Missachtung unvernünftig und integrationsschädlich ist, wurde schon betont. Aber ist sie auch undemokratisch, also ein Verstoß gegen Grundlagen, Normen und Regeln der Demokratie? Hier tut genaues Unterscheiden not, und ich will hier Widerspruch zum Demokratieverständnis der empörten PDS-Wähler in Ost-Berlin anmelden. Wir haben auf der Ebene der Bundesländer und des Bundes eine parlamentarische Demokratie und keine Konkordanzdemokratie wie in der Schweiz oder in den Berliner Bezirken. Konkordanzdemokratie bedeutet, dass alle Parteien entsprechend ihren Stimmenanteilen bei der Parlamentswahl an der Regierung, an der Besetzung der Posten in der Exekutive, zu beteiligen sind. In den Berliner Bezirken stellen die Parteien entsprechend ihren Mandaten in den Bezirksparlamenten die Stadträte. Die PDS, die in allen Ost-Bezirken die stärkste Partei ist, erhält auf diese Weise, wie bisher, eine ihrer Stärke entsprechende Zahl von bezirklichen ExekutivPosten.

Auf der Ebene des Landesparlaments und des Bundestags gilt dieses Prinzip ausdrücklich und mit gutem Grund nicht: Hier dürfen die Parteien/Parlamentsfraktionen dauerhafte Koalitionen bilden, die aus der Mehrheit der Abgeordneten bestehen und dann logischerweise eine Minderheit übriglassen. Diese Minderheit ist dann aber nicht einfach der für minderwertig erachtete ausgeschlossene Rest, sondern übernimmt eine durchaus eigenständige, auch verfassungsmäßig anerkannte Rolle: die der Opposition. Das mag nach Lehrbuchtext aus der Sozialkunde klingen. Aber dieser Lehrbuchtext ist viel realistischer und moderner als das, was uns unsere regierenden Politiker/innen derzeit vormachen. Regierende behaupten, nur durch (Mit-) Regieren könne man, natürlich "für die Menschen", etwas "gestalten", wobei man dann irgendwelche engen und "harten" Grenzen des Handelns zu respektieren und durchzusetzen habe, die in der Opposition so noch gar nicht sichtbar gewesen seien. Nach diesem typischen Denkmuster von politischen Aufsteigern aus der Fundamentalopposition - hier gibt es eine Traditionslinie von Herbert Wehner über Joschka Fischer bis zu Gregor Gysi - bedeutet Opposition nur die Vorstufe zum Eigentlichen, zum (Mit-)Regieren.

Oppositionsmacht

Gerade die Grünen haben seit ihrem Einstieg in die Schröder-Regierung 1998 so offenkundig und brutal das Mitregieren auf Kosten einst identitätsstiftender Prinzipen zum Selbstzweck erklärt, dass ihnen derzeit wohl selbst eine Rückkehr in die Opposition wenig helfen würde, einmal verlorene Wähler wieder zu gewinnen. Wie sollten diese Wähler noch irgendwelche Forderungen, die von den Grünen in ihrer neuen Oppositionszeit aufgestellt werden, ernst nehmen, wenn beim nächsten Mitregieren alles wieder gar nicht gelten soll, weil die Zwänge des Regierens alles anders machen? Mitregieren, so zeigt das Beispiel der Grünen, erhöht mitnichten automatisch den politischen Einfluss.

Mitregieren bedeutet Einbindung in Regierungsentscheidungen, Unterwerfung unter Sparzwänge scheinbarer oder realer Art, unter Kabinettsbeschlüsse, bedeutet Denkverbote über Alternativen. Mitregieren kann oppositionelle Impulse innerhalb der eigenen Basis und auch bei den Bündnispartnern außerhalb des Parlaments abtöten. Opposition, parlamentarische Opposition verbunden mit außerparlamentarischem Druck, kann dagegen sehr viel bewirken, wie die sozialen Bewegungen in den 70er und 80er Jahren gezeigt haben. Unter den besonderen Bedingungen des Landes Berlin - nämlich: extreme politische Gestaltungsunfähigkeit der Landesregierung wegen hoher Schuldenbelastung des Haushalts - sollte die PDS sich glücklich schätzen, durch SPD, Grüne und FDP aus der Rolle eines (insbesondere für den Osten zuständigen) Ko-Sparkommissars befreit zu sein und nunmehr verantwortlich und in Verbindung mit gesellschaftlichen Gruppen, vor allem den Gewerkschaften, Opposition machen zu können.

Als Berliner Bürger hätte es mir vor einem Senat gegraut, zu dessen Spar- und Privatisierungs-Politiken es keine im Landesparlament vertretene linke oppositionelle Alternative mehr gegeben hätte. Die PDS hat im Wahlkampf Vorschläge für sozial gerechtes Sparen gemacht. Ich vermute, dass sie davon aus der Opposition mit ungehindertem Druckpotential viel mehr durchsetzen kann, als sie es mit einer Einbindung in die Senatsdisziplin könnte. Die PDS sollte sich schnell von dem Jammern über ihren Ausschluss aus dem Berliner Senat verabschieden und ihre Oppositionsrolle annehmen. Sie sollte auch ihre Wählerinnen und Wähler in Ost-Berlin darüber aufklären, dass Opposition eine Handlungschance bietet. Je länger die PDS sich im Hauptstadtstaat Berlin dem Mitregieren entzieht, um so mehr Zeit hat sie, eine wirkliche Oppositionskraft zum herrschenden antihumanen Neoliberalismus zu werden. Auf diesem Entwicklungsweg könnte ja auch das Zukunftsproblem der PDS, ostdeutsche Traditionspartei zu sein und zugleich gesamtdeutsche linke Partei werden zu wollen, etwas lösbarer werden.

1) In den im Internet zugänglichen Presseerklärungen der PDS-Führung habe ich diesen Vorwurf nicht explizit formuliert gefunden; was auf die Klugheit der Berliner PDS-Sprecher/innen schließen läßt; in Gesprächen mit Berliner Linken höre ich ihn aber ständig.

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