Wegen der tödlichen Schüsse an der Staatsgrenze zwischen der DDR und der BRD wurden bisher mehr als 150 ehemalige Bürger der DDR als Totschläger verurteilt. Gegen die Grenzsoldaten und ihre unmittelbaren Vorgesetzten ergingen zumeist Bewährungsstrafen. Etwa 40 Angeklagte erhielten hohe Haftstrafen, so der Verteidigungsminister Heinz Kessler siebeneinhalb, sein Stellvertreter und Generalstabschef der Nationalen Volksarmee Fritz Streletz fünfeinhalb und der letzte SED-Generalsekretär und DDR-Staatsratsvorsitzende Egon Krenz sechseinhalb Jahre. Letztere und ein Grenzsoldat wandten sich, nachdem die innerstaatlichen Rechtsmittelverfahren ausgeschöpft waren, mit Beschwerden an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.
Sie beantragten, der Gerichtshof möge feststellen, dass Deutschland durch die Verurteilung der Beschwerdeführer wegen Tötungsdelikten an der Grenze Artikel 7 Abs. 1 (Nulla poena sine lege) der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten von 1950 verletzt hat. Diese Bestimmung lautet: "Niemand kann wegen einer Handlung oder Unterlassung verurteilt werden, die zur Zeit ihrer Begehung nach inländischem oder internationalem Recht nicht strafbar war." Weil die Rechtssache schwerwiegende Fragen aufwirft, befasste sich die Große Strafkammer damit. Am 22.