
Bild: Sergej Tichanowski und seine Frau Swetlana nach seiner Freilassung in Warschau, 26.6.2025 (IMAGO / ZUMA Press Wire / Volha Shukaila)
Es war eine große Überraschung für weite Teile der internationalen Gemeinschaft: Am 21. Juni ließ das belarussische Regime 14 politische Gefangene frei. Unter ihnen befand sich Siarhei Tsikhanouski, ein populärer Videoblogger und prodemokratischer Aktivist, der 2020 verhaftet wurde, um seine Kandidatur bei den Präsidentschaftswahlen zu verhindern. In einem politischen Prozess erhielt er 19,5 Jahre Haft in einer Strafkolonie. Ebenfalls freigelassen wurden Natallia Dulina, eine bekannte Expertin für italienische Sprache und Kultur und ehemalige Professorin an der Staatlichen Linguistischen Universität Minsk (verurteilt zu drei Jahren und sechs Monaten); der Journalist Ihar Karnei von Radio Free Europe/Radio Liberty (drei Jahre und zehn Monate Haft) und der 25-jährige Anarchist Akikhiro Hayeuski-Hanada (15 Jahre und neun Monate Haft in einem Sicherheitsgefängnis). Unter den Freigelassenen befanden sich auch Bürger aus Polen, Estland, Schweden, Lettland, Japan und den Vereinigten Staaten.[1]
Belarus steht international wegen Menschenrechtsverletzungen beständig in der Kritik, insbesondere seit den Präsidentschaftswahlen von 2020, die weithin als gefälscht gelten. Seitdem wurden tausende Menschen verhaftet, Medien verboten und die Zivilgesellschaft zerschlagen, was Belarus zu einem der repressivsten Staaten Europas gemacht hat. Laut dem kürzlich veröffentlichten jährlichen Global Expression Report nimmt Belarus in Bezug auf die Meinungsfreiheit unter den Ländern Europas und Zentralasiens den hintersten Rang ein – Platz 49 von 49. Weltweit steht es auf Platz 159 von 161 und wird damit nur noch von Nicaragua und Nordkorea unterboten.[2]
Eine wichtige Rolle bei der Freilassung spielten die USA. Mit dem Ukraine-Sondergesandten Keith Kellogg hatte kurz zuvor erstmals seit Jahren ein Vertreter der US-Regierung Belarus besucht. Sein Stellvertreter John Coale bezeichnete die Freigelassenen bei einem Auftritt in der US-Botschaft in Vilnius, der Hauptstadt des belarussischen Nachbarlandes Litauen, als Menschen, die „jetzt aus der Gefangenschaft befreit sind“. Er fügte hinzu, das belarussische Regime sei zu diesem Schritt von US-Präsident Donald Trump, dem stellvertretenden Außenminister Christopher Landau und „vielen anderen in der Regierung“ „ermutigt“ worden.[3]
In jedem Fall markiert die unerwartete Freilassung der politischen Gefangenen einen der wichtigsten Schritte des Regimes von Alexander Lukaschenko auf internationaler Bühne seit dem brutalen Vorgehen nach den Präsidentschaftswahlen von 2020. Während das Regime öffentlich von einer humanitären Geste spricht, vermuten viele Beobachter tiefer liegende strategische Beweggründe.
Viele Medien und Kommentatoren konzentrierten sich zunächst natürlich auf den 46-jährigen Siarhei Tsikhanouski. Das lag nicht nur an seinem dramatisch veränderten Aussehen – laut eigenen Angaben hat er in Haft mindestens 59 Kilo verloren –, sondern auch an seiner schockierenden Schilderung der Haftbedingungen. Folter, Mobbing, der Entzug von Nahrung, Schlaf und grundlegender Hygiene sowie die vorsätzliche Vernachlässigung schwerer gesundheitlicher Probleme mit tödlichen Folgen sind leider vertraute Aspekte des belarussischen Strafvollzugs. Dieser scheint seine unmenschlichen Methoden von der sowjetischen KGB-Schule übernommen zu haben. Bereits 2011 berichtete der ehemalige oppositionelle Präsidentschaftskandidat Ales Mikhalevich nach seiner Haftentlassung, er sei gefoltert worden, und verglich die Bedingungen in der Untersuchungshaftanstalt des Belarussischen Komitees für Staatssicherheit ausdrücklich mit denen eines Konzentrationslagers.[4]
Und dennoch ist es das eine, solche entsetzlichen Zeugnisse zu hören – den Tribut zu sehen, den diese Haftbedingungen einem Menschen abverlangen, ist etwas ganz anderes. All das geschieht im 21. Jahrhundert im Herzen Europas. Und die Erkenntnis, dass immer noch mindestens 1172 Menschen[5] in diesem Moment unter ähnlichen Bedingungen leben müssen, verleiht dem Ganzen eine erschreckende Dimension.
Auf der Pressekonferenz am 22. Juni, zusammen mit seiner Frau Sviatlana Tsikhanouskaya, kamen Tsikhanouski die Tränen, als er sich an die sadistischen Folterungen erinnerte, denen er ausgesetzt gewesen war. Der schmerzhafteste Moment dieses Berichts war jedoch wohl erreicht, als Sviatlana dem Publikum erzählte, dass die gemeinsame Tochter ihren Vater nach fünf Jahren Trennung nicht mehr wiedererkannte. „Wir sehen, wie sich politische Gefangene in den Gefängnissen verändern, Siarhei ist da keine Ausnahme. Er musste sagen: ‚Ich bin dein Vater‘, damit sie verstand, dass es wirklich wahr ist. Und es gab natürlich ein Meer von Tränen und den Unglauben, dass dies tatsächlich geschehen ist. Die Kinder hatten ihm geschrieben und fünf Jahre lang auf ihn gewartet“, so Tsikhanouskaya, die ebenfalls Tränen in den Augen hatte.[6]
Nach der Verhaftung ihres Mannes im Mai 2020 stieg Sviatlana, die bis dahin über keinerlei politische Erfahrung verfügte, an seiner Stelle ins Präsidentschaftsrennen ein. Sie hatte das zunächst eher als symbolische Geste verstanden, wurde aber schließlich eine der wichtigsten Oppositionsführerinnen. Im August 2020 floh sie aus Angst vor Verfolgung von Belarus nach Litauen, wo sich die Familie heute aufhält.
Ein digitales Panoptikum
Fünf Jahre mögen nach einer langen Zeit klingen, aber nicht so in Belarus, wo die verschärfte politische Repression seit 2020 anhält. Gerichtsverfahren finden hinter verschlossenen Türen statt und basieren routinemäßig auf fadenscheinigen Gründen oder Indizienbeweisen, die sich oft auf eine angebliche Beteiligung an Protesten, Aktivitäten in den sozialen Medien oder selbst auf symbolische Gesten wie das Tragen von Oppositionsfarben stützen. Vielfach werden Menschen noch Jahre nach den Protesten verhaftet und verurteilt – ein Zeichen für die anhaltende Obsession des Regimes, Dissens noch nachträglich zu bestrafen und eine gesellschaftliche Atmosphäre von Angst und Misstrauen zu erzeugen.
Ein Schlüsselinstrument dieser Repressionskampagne ist die immer häufiger verwendete digitale Überwachung, insbesondere Gesichtserkennungstechnologien. Die Kipod-Überwachungsplattform des belarussischen Softwareunternehmens LLCC Synesis wird von den Sicherheitsbehörden auf breiter Ebene zur Analyse von Foto- und Videomaterial genutzt.[7] Durch Gesichtserkennungssoftware und den Abgleich mit staatlichen Fotodatenbanken kann dieses System auch nach Jahren noch Menschen identifizieren, die an Protesten teilgenommen haben. Dadurch ist Belarus zum digitalen Panoptikum geworden, in dem die bloße physische Präsenz an einem vom Regime als unerwünscht eingestuften Ort ausreicht, um verhaftet zu werden. Nach offiziellen Daten rücken inzwischen 60 000 Smart-Kameras den Bürgern zu Leibe, die einen Menschen anhand eines einzigen Videobildes mit einer Genauigkeit von über 94 Prozent identifizieren können.
Lukaschenkos Schachzug
In diesem Klima anhaltender Überwachung, Repression und innerer Emigration wirkt die plötzliche Entlassung von 14 politischen Gefangenen fast schon surreal und weckt beinahe zwangsläufig Hoffnung. Die Hoffnungsvollsten sind derzeit wohl jene Belarussen, deren Verwandte und Freunde als politische Gefangene geführt werden – damit besonders harten Haftbedingungen unterworfen sind und für Jahre in Isolation, ohne Kontakt zu Familie und Anwälten gehalten werden.[8]
Die Freilassung von Tsikhanouski begründen die belarussischen Behörden, insbesondere Lukaschenkos Pressesprecherin Natallia Eismant, offiziell mit „rein humanitären Gründen und dem Ziel der Familienzusammenführung“.[9] Doch Experten argumentieren, dass der Schritt keineswegs zufällig oder aus reinem Mitgefühl erfolgte. Stattdessen scheint die Auswahl der freigelassenen Gefangenen eine äußerst kalkulierte diplomatische Strategie widerzuspiegeln.
„Lukaschenkos Entscheidung, wichtige Gefangene gegen die Gunst der Amerikaner einzutauschen – mit der Aussicht auf die Wiedereröffnung von Botschaften, die teilweise Aufhebung von Sanktionen oder sogar eine vollständige Normalisierung –, erscheint recht logisch“, schreibt Wolha Loika in einer Analyse für das Medium „Plan B“, das sie seit 2023 im Exil betreibt.[10] Loika ist ehemalige Chefredakteurin für Politik und Wirtschaft von „TUT.BY“, das einst das größte unabhängige Onlinemagazin in Belarus war, bis es 2021 als „extremistisch“ eingestuft und verboten wurde. Sie sieht in der Freilassung von Tsikhanouski einen Versuch Lukaschenkos, „zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen“: den USA zu gefallen und gleichzeitig Dissonanzen innerhalb der demokratischen Kräfte in Belarus zu säen, angesichts des „energischen Charakters und der möglichen politischen Ambitionen“ des ehemaligen Bloggers.[11]
Die Freilassung anderer prominenter politischer Gefangener – wie der Oppositionsführerin Maria Kalesnikava, des Bankiers und Philanthropen Viktar Babaryka, der bei der Präsidentschaftswahl kandidieren wollte, oder des Rechtsanwalts Maxim Znak –, hätte demgegenüber eine größere einigende Wirkung auf die Opposition haben können.
Was erwartet Lukaschenko also im Gegenzug? Belarussische Offizielle haben es relativ offen gesagt: Der Preis für die Freiheit der Gefangenen ist die Aufhebung der Sanktionen. In einem Kommentar nach dem Treffen zwischen Lukaschenko und Kellogg bezeichnete Valentin Rybakov, Ständiger Vertreter der Republik Belarus bei den Vereinten Nationen, die gegen sein Land verhängten Sanktionen als „absolut illegal“ und „einseitig“. Verhängt worden seien sie „unter Verletzung aller Normen des Völkerrechts“.
„Die endgültige Normalisierung der bilateralen Beziehungen ist sicherlich in der Diskussion – eine vollständige Normalisierung mit der vollen Wiederaufnahme der Arbeit der Botschaften in beiden Ländern, gegenseitigen Besuchen und so weiter“, sagte Rybakov in einem Exklusivinterview mit „News.BY“, einem staatlichen Medienunternehmen in Belarus. Er vermied es, Einzelheiten zu nennen, räumte aber ein, dass „dieses Thema diskutiert wird und wir versuchen, Auswege und Lösungen zu finden“.[12]
Die Dringlichkeit, Leben zu retten
Es bleibt abzuwarten, ob die Freilassung von Tsikhanouski und den 13 anderen Gefangenen zu weiteren Haftentlassungen oder zu einem größeren Wandel in der belarussischen Politik führen wird. Einige Beobachter sind zwar weiterhin reserviert gegenüber Zugeständnissen an das Regime, aber für viele Belarussen bietet die Wiedervereinigung eines lange inhaftierten Menschen mit seiner Familie einen Hoffnungsschimmer.
„Verhandlungen sollten nicht nach der Befreiung, sondern um der Befreiung willen stattfinden“, schrieb Tatsiana Khomich, die Schwester der inhaftierten Oppositionsführerin Maria Kalesnikava, am 21. Juni in einem Facebook-Post. Sie bedankte sich bei den USA und Minsk und forderte sie auf, sich weiterhin zu engagieren: „für jene, die noch hinter Gittern sind, und für die Zukunft von Belarus.“
Dieses Plädoyer steht im Gegensatz zur Kritik des ehemaligen litauischen Außenministers Gabrielius Landsbergis, der daran erinnert, dass politische Gefangene für Lukaschenko „nur Geiseln oder Verhandlungsmasse“ seien. „Er versucht immer, den höchstmöglichen Preis für sie zu erzielen“, schreibt Landsbergis.[13] Seine Bemerkung ist Ausdruck einer strategischen Sorge: Der Tausch von Freiheit gegen Sanktionserleichterungen könnte autoritäre Regime dazu ermutigen, Menschenleben als diplomatisches Zahlungsmittel einzusetzen.
Im Mittelpunkt dieser Debatte stehen zwei ethische Konzepte: Das eine ist in einer langfristig angelegten Realpolitik verwurzelt, das andere im festen Glauben daran, dass die Würde des Menschen über allem stehen muss. Die Gefahr der Instrumentalisierung politischer Gefangener ist zwar real, doch Khomichs Haltung erinnert uns an etwas anderes: Die Dringlichkeit, Leben zu retten, darf niemals einem politischen Kalkül geopfert werden.
„Lukaschenko hat weniger als zwei Prozent der Gefangenen freigelassen“, betont Landsbergis. Heißt das aber, dass es sich nicht lohnt, für die restlichen 98 Prozent zu kämpfen? Der Kampf um sie ist es selbst dann wert, wenn er sich als Dialog auf dem Schachbrett der Verhandlungen abspielt. „Trump hat die Macht, alle politischen Gefangenen mit einem Wort freizulassen“, betonte Tichanowski auf seiner Pressekonferenz in Vilnius wiederholt: „Und ich fordere ihn auf, das zu tun.“
Übersetzung: Steffen Vogel
[1] Vgl. В Минске объяснили, почему освободили Тихановского, tass.ru, 21.6.2025.
[2] Vgl. Article 19: Belarus ranks among world’s worst for freedom of expression – only ahead of Nicaragua and North Korea, spring96.org, 25.6.2025; Europe and Central Asia. Global Expression Report 2025, globalexpressionreport.org.
[3] x.com/johnpcoale, 21.6.2025.
[4] Vgl. Released Belarusian Candidate Compares KGB Jail To Concentration Camp, rferl.org, 28.2.2011.
[5] Die Zahl ist nicht exakt, da nicht alle Verhaftungen bekannt werden, und ändert sich ständig; Stand: 30.6.2025, vgl.: prisoners.spring96.org/en.
[6] Gemeinsame Pressekonferenz von Sviatlana und Siarhei Tsikhanouski. Live-Streaming am 22.6.2025: Совместная пресс-конференция Светланы и Сергея Тихановских, youtube.com.
[7] Official Journal of the European Union, L61/20, eur-lex.europa.eu, 27.2.2023.
[8] Vgl. Imprisoned Belarus activist resurfaces after being held incommunicado for 700 days, voanews.com, 9.1.2025.
[9] Vgl. В Минске объяснили, почему освободили Тихановского, tass.ru, 21.6.2025.
[10] Ольга Лойко, Ошибся ли Лукашенко, выпустив Тихановского?, planbmedia.io, 23.6.2025.
[11] Vgl. Tsikhanouski is out of prison. The Belarusians wonder how it will affect the opposition, en.belsat.eu, 26.6.2025.
[12] Vgl. den offiziellen Telegram-Kanal von News.BY: t.me/newsby_btrc.
[13] Gabrielius Landsbergis, The Art of Lukashenko‘s Deal in Belarus, landsbergis.com, 23.6.2025.