Wahl und Entscheidung
„Das Volk hat entschieden“, lautete stets der erste, höchst erstaunt klingende Satz von Politikerinnen und Politikern am Abend des 18. September, als alle Prognosen von den tatsächlichen Ergebnissen widerlegt wurden. „Das Volk hat entschieden“, hieß es bald danach fast fatalistisch, um den Umstand zu beschreiben, dass keines der beiden gegeneinander angetretenen Lager eine Mehrheit der Sitze im neu gewählten Bundestag erreicht hat – und letztlich scheinbar nur die große Koalition übrig blieb. Nun war nicht mehr nur die Rede davon, dass das Volk entschieden habe; als die Suche nach Gemeinsamkeiten begann, hieß es zudem, mit dem Wahlergebnis habe das Volk die Politiker vor eine „schwierige Aufgabe gestellt“, die sie nun zu lösen hätten.
Doch was sich als große Ratlosigkeit darstellte, wurde zu einer Lehrstunde in parlamentarischer Demokratie und dem Demokratieverständnis ihrer Akteure. Denn zunächst einmal war keine Entscheidung des Volkes Auslöser für diese Wahl, im Gegenteil: Weil Gerhard Schröder seine Mehrheit als zu schwach für künftige Regierungsarbeit ansah, entschied er sich am 22. Mai für vorgezogene Neuwahlen. Weil Angela Merkel von einem sicheren Sieg ausging, entschied sie sich zuzustimmen. Bundespräsident Horst Köhler erhoffte sich eine Mehrheit für weitere „Reformen“, und das notorische Bundesverfassungsgericht bestätigte die politische und rechtliche Einschätzung der Lage.