Ausgabe Dezember 2006

Die Bewährung Europas

Als Student habe ich oft vom anderen Rheinufer aus nach hier, auf den Sitz der vier Hohen Kommissare, hinübergeschaut. Heute betrete ich den Petersberg zum ersten Mal. Die historische Umgebung erinnert an die tiefen Wurzeln, die die alte Bundesrepublik in der Landschaft von Rhein und Ruhr geschlagen hat. Ich war immer stolz auf eine Heimat, die sich durch ihre zivile Geistesart, eine gewisse rheinpreußische Distanz zu Berlin, die Öffnung nach Westen und den liberalen Einfluss des republikanischen Frankreichs auszeichnet. Von hier aus hat die Bundesrepublik das Ziel ihrer Souveränität nur im engen Zusammenspiel mit der politischen Einigung Europas erreicht; auch die nationale Einheit haben wir nur innerhalb des europäischen Rahmens erlangt. So lädt uns der genius loci zum Nachdenken über den irritierenden Umstand ein, dass diese segensreiche europäische Dynamik heute erlahmt ist.

Die Rückwendung zum Nationalstaat hat in vielen Ländern eine introvertierte Stimmung gefördert: Das Europa-Thema ist entwertet, man beschäftigt sich lieber mit der nationalen Agenda. Bei uns umarmen sich in den Talkshows Großväter und Enkel in der Rührung über den neuen Wohlfühlpatriotismus. Die Gewissheit heiler nationaler Wurzeln soll eine wohlfahrtsstaatlich verweichlichte Bevölkerung für den globalen Wettkampf „zukunftsfähig“ machen.

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In der Dezember-Ausgabe ergründet Thomas Assheuer, was die völkische Rechte mit der Silicon-Valley-Elite verbindet, und erkennt in Ernst Jünger, einem Vordenker des historischen Faschismus, auch einen Stichwortgeber der Cyberlibertären. Ob in den USA, Russland, China oder Europa: Überall bilden Antifeminismus, Queerphobie und die selektive Geburtenförderung wichtige Bausteine faschistischer Biopolitik, argumentiert Christa Wichterich. Friederike Otto wiederum erläutert, warum wir trotz der schwachen Ergebnisse der UN-Klimakonferenz nicht in Ohnmacht verfallen dürfen und die Narrative des fossilistischen Kolonialismus herausfordern müssen. Hannes Einsporn warnt angesichts weltweit hoher Flüchtlingszahlen und immer restriktiverer Migrationspolitiken vor einem Kollaps des globalen Flüchtlingsschutzes. Und die Sozialwissenschaftler Tim Engartner und Daniel von Orloff zeigen mit Blick auf Großbritannien und die Schweiz, wie wir dem Bahndesaster entkommen könnten – nämlich mit einer gemeinwohlorientierten Bürgerbahn. 

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