Ein Bußakt ist vollzogen, Entschädigungszahlungen bzw. „Leistungen in Anerkennung des Leids“ sind vereinbart. Die katholische Kirche in Deutschland hat sich bemüht, Antworten auf den Missbrauchskandal zu finden. Und jetzt? Ist alles wieder gut? Kann die Kirche sich wieder um das Eigentliche kümmern?
Diese Fragen sind keineswegs zynisch gemeint, sondern deskriptiv. Sie beschreiben vermutlich die Gefühlslage nicht weniger Kirchenfunktionäre. Einer der ehemals leitenden Jesuiten in Deutschland, die sich im letzten Jahr mit schriftlichen Stellungnahmen zu den Missbrauchsfällen im eigenen Orden geäußert hatten, lehnte im Februar d. J. ein Interview zu seiner Stellungnahme ab. Für ihn sei das Thema erstmal erledigt, er habe jetzt andere Aufgaben, um die er sich kümmern müsse.
Gewiss, die meisten Verantwortlichen in der Kirche sagen das nicht so direkt, zumindest nicht öffentlich. Sie reden von verstärkter Prävention, erhöhter Sensibilität, bleibender Verantwortung und Null Toleranz. Dass diese Themen wichtig sind, nicht nur für die Kirche, sondern für die gesamte Gesellschaft, ist unbestritten. Es wäre auch eine verkehrte Optik, wollte man den Skandal sexuellen Missbrauchs vor allem als ein Problem der katholischen Kirche hinstellen. Und doch gibt es das, was der Direktor des Canisius-Kollegs, Klaus Mertes, einen „spezifisch katholischen Geschmack“ des sexuellen Missbrauchs genannt hat. Es gibt Strukturen und Themen innerhalb der katholischen und teilweise auch in anderen Kirchen, die Missbrauch begünstigt und einen adäquaten Umgang mit Opfern und Tätern verhindert haben.
Ob die katholische Kirche sich diesen Themen im vergangenen Jahr wirklich gestellt hat, darf freilich bezweifelt werden. Das viel diskutierte Memorandum der Theologieprofessoren[1] benennt zwar den Missbrauchsskandal im Vorwort, um dann zu – völlig berechtigten – Reformforderungen zu kommen, die man aber auch unabhängig vom Entdecken massenhaften Missbrauchs formulieren könnte und ja auch schon oft formuliert hat. Den sexuellen Missbrauch an Kindern und Jugendlichen als Argumentationsverstärker für längst fällige Kirchenreformen zu nutzen, ist – um es höflich zu sagen – noch keine Antwort auf die spezifischen Fragen, die der Missbrauch aufwirft.
Gottesmänner einer heiligen Kirche
Da wäre erstens die Frage nach dem Priester- und Kirchenbild der katholischen Kirche. Offensichtlich war es über lange Zeit in der katholischen Weltkirche völlig normal, dass der Schutz der Priester und das Ansehen der Kirche für die leitenden Geistlichen wichtiger waren als der Schutz von Kindern. Kirche war – und ist wohl noch immer – für die Bischöfe in erster Linie die hierarchisch organisierte Klerikerkirche. Die Priester sind in dieser Vorstellung in einem höheren Maße Kirche als die einfachen Gläubigen. Außerdem steht der Bischof in einem sehr engen, ja, so wird immer wieder gesagt: familiären Verhältnis zu seinen Priestern. Das heißt, der Bischof hat qua Amt eine engere Bindung gegenüber dem „Familienmitglied“ Priester als gegenüber den Christen, die Schaden an ihrer Seele oder ihrem Körper nehmen.
Dazu kommt, dass die Kirche als heilig gilt. Worin genau diese Heiligkeit besteht, ist für Außenstehende schwer zu sagen, und auch Insider bringt die Dialektik von Heiligkeit und Sündhaftigkeit ins Schwitzen. Die Heiligkeit der Kirche bedeutet nicht, dass alle Amtsträger sündlos sind, dennoch bedarf es laut Kardinal Karl Lehmann schon etwas Mut, um „bei aller Verteidigung der Heiligkeit auch von einer sündigen Kirche zu sprechen“.[2] Die Vorstellung einer sündigen Kirche ist also noch keineswegs selbstverständlich. Letztlich bleibt, dass an der Kirche etwas heiliger ist als die Personen, die sie ausmachen, und dass diese Heiligkeit nicht in Verruf gebracht werden darf. Diese dogmatischen Themen sind der Hintergrund eines extrem ausgeprägten Korpsgeistes unter den Klerikern und der Angst vor einem Ansehensverlust der Kirche, wenn Missbrauchsfälle bekannt werden.
Die Wahrung des Ansehens der Kirche war also nicht nur das Interesse von Provinzfürsten, die keinen Skandal in ihrem Revier wollten, sondern eine Maxime, die dogmatisch abgestützt war – und administrativ von Rom auch so eingeschärft wurde. Vor einem Jahr sprach man über die Instruktion „de delictis gravioribus“ („über die schwersten Verbrechen“); diese sah ein Geheimhalten der nach Rom gemeldeten Missbrauchsfälle vor.[3] Kirchenoffizielle bekundeten damals, dass es bei den Anordnungen nie um das Verschweigen von Missbrauchsfällen vor staatlichen Behörden gegangen sei. Ein – in Deutschland kaum beachtetes – Schreiben des apostolischen Nuntius in Irland an die irischen Bischöfe aus dem Jahr 1997 scheint aber zu belegen, dass Rom die Einschaltung staatlicher Ermittlungen gegen Priester nicht gerne sah. Die irischen Bischöfe hatten sich 1996 eine neue Leitlinie zu sexuellem Missbrauch durch Kleriker gegeben. Diese beinhaltete, dass des Missbrauchs verdächtige Priester bei den staatlichen Behörden anzuzeigen seien. In dem Brief, der Anfang d. J. bekannt wurde, mahnt der Vertreter des Vatikan, dass es dagegen „ernsthafte Bedenken moralischer und kirchenrechtlicher Art“ gebe.[4] Der Vorsitzende der Klerikerkongregation, Kardinal Dario Castrillon Hoyos, äußerte gar an anderer Stelle, die irischen Bischöfe sollten ihren Priestern wie ein Vater und nicht wie ein Polizist begegnen.
Die Dementi aus dem Vatikan zu der Veröffentlichung des Briefes waren einmal mehr von dem Bemühen geprägt, das Ansehen der Spitze der katholischen Kirche sauber zu halten. Vatikan-Pressesprecher Federico Lombardi erklärte, der Brief sei missverstanden worden. Es sei lediglich deswegen um die Einhaltung des Kirchenrechts gegangen, damit die Missbrauchstäter sich nicht den kirchlichen Strafen entziehen könnten. Außerdem repräsentiere der Brief lediglich die Haltung der Klerikerkongregation gegenüber sexuellem Missbrauch vor dem Jahr 2001. Damals aber habe man Zuständigkeiten neu geregelt und diese Haltung überwunden. Die vatikanische Dialektik: Erstens haben wir nichts falsch gemacht und zweitens alles geändert. Selbstkritik sieht anders aus.
Den Laden sauber halten
Immerhin sah sich der Vatikan im Frühjahr 2010 veranlasst, die Verfahrensnormen für kirchliche Strafverfahren zu verschärfen und auf der eigenen Homepage zu veröffentlichen. In dem Begleittext findet sich nun auch der Satz: „Die staatlichen Gesetze hinsichtlich der Anzeige von Straftaten bei den zuständigen Behörden sind immer zu befolgen.“ Dieser Vorgabe und dem entsprechenden medialen Druck folgte auch die Überarbeitung der „Leitlinien für den Umgang mit sexuellem Missbrauch Minderjähriger durch Kleriker“, die die deutsche Bischofskonferenz am 31. August 2010 vorlegte. Als Regelfall wird festgeschrieben, dass bei „tatsächlichen Anhaltspunkten für einen Verdacht“ auf sexuellen Missbrauch eine Meldung an die Staatsanwaltschaft zu erfolgen habe. Die Pflicht zur Weiterleitung entfalle nur, wenn „dies dem ausdrücklichen Wunsch des mutmaßlichen Opfers entspricht und der Verzicht auf eine Mitteilung rechtlich zulässig ist.“ Die bayerischen Bischöfe erklärten sogar, eine „Meldepflicht“ zu praktizieren – ohne weitere Einschränkungen vorzunehmen.
„Zartbitter“, eine bekannte Kontakt- und Informationsstelle gegen sexuellen Missbrauch, hat frühzeitig auf das Problem einer Anzeigepflicht hingewiesen. Diese lasse die Opfer leicht verstummen, da es oft gute Gründe gebe, warum Opfer sexuellen Missbrauchs nicht mit ihrem Namen für eine Anzeige einstehen wollten. Wenn etwa ein Kind oder Jugendlicher einen respektablen Bürger im Dorf anzeigt, sind keineswegs alle Menschen so solidarisch mit dem Opfer, wie es die mediale Empörung über Kindesmissbrauch vermuten lässt.
Hier zeigt sich: So begrüßenswert es ist, dass die Kirche den Täterschutz für Priester aufgibt, so stellt sich die Frage, ob die Null-Toleranz-Bischöfe schon verstanden haben, das Problem aus der Perspektive der Opfer anzugehen, oder ob sie nicht wieder bloß dem Impuls gefolgt sind, den Laden sauber zu halten. Wir bringen alles zur Anzeige, heißt nämlich auch: Wir kümmern uns zuerst um unsere weiße Weste. Und wenn sich im Gefolge dieser Ankündigung weniger Menschen bei den Missbrauchsbeauftragten der Bistümer melden, umso besser für das Image.
Schuld ohne Versöhnung
Zur Frage des Images gehört auch die Aufarbeitung der Missbrauchsfälle aus den letzten Jahrzehnten. Hier zeigen sich gravierende regionale Unterschiede. Das Erzbistum München-Freising gewährte einer unabhängigen Anwaltskanzlei Zugang zu allen Akten, woraufhin diese neben beträchtlichen Aktenlücken auch 159 auffällig gewordene Priester aus den Jahren 1945 bis 2009 fand. Das Erzbistum Köln kommt dagegen nach eigener Zählung auf gerade mal fünf bis acht Fälle von sexuellem Missbrauch durch Priester in über 30 Jahren. Dort hat aber auch kein Unabhängiger in die Personalakten geschaut. Der Vorsitzende der deutschen Bischofskonferenz, Robert Zollitsch, hat inzwischen eine wissenschaftliche Untersuchung der Missbrauchsfälle der letzten Jahrzehnte angekündigt. Ob und wie weit alle Bistümer mitmachen und welche Akten die Forscher auswerten können, wird sich aber erst noch zeigen.
Welche Fragen die vielen Fälle von sexuellem Missbrauch über den Umgang mit Schuld, oder kirchlich gesprochen: mit Sünde, aufwerfen, ist in den Kirchen noch kaum bearbeitet. Der Soziologe Franz-Xaver Kaufmann hat darauf hingewiesen, dass Sünde von der Kirche ausschließlich als Verfehlung gegen Gott verstanden werde, nicht jedoch gegenüber Mitmenschen.[5] Vielleicht wird das Wort „ausschließlich“ der kirchlichen Lehre nicht ganz gerecht, aber der Tendenz nach hat Kaufmann Recht. Wenn man das Dreieck Täter-Opfer-Gott anschaut, dann wird in der Kirche vor allem die Verbindung zwischen Gott und dem Täter bearbeitet, während die zwischen Gott und dem Opfer sowie die zwischen Täter und Opfer weitgehend vernachlässigt werden. Dabei ist im Neuen Testament eine andere Zuordnung dieses Dreiecks enthalten: „Wenn du deine Opfergabe zum Altar bringst und dir dabei einfällt, dass dein Bruder etwas gegen dich hat, so lass deine Gabe dort vor dem Altar liegen; geh und versöhne dich zuerst mit deinem Bruder, dann komm und opfere deine Gabe.“[6]
Was die tatsächliche Konfrontation mit den Opfern sexuellen Missbrauchs angeht, sind hierzulande die Jesuiten am weitesten gegangen. Zwei Mal haben sich hochrangige Jesuiten mit Vertretern des Eckigen Tisches getroffen, dann aber nach einer Anzeige der „Eckigen“ gegen leitende Jesuiten den Kontakt abgebrochen und schließlich einseitig eine pauschale Entschädigungssumme von 5000 Euro festgesetzt. Die einseitige Festlegung und die Höhe der Summe haben die Opfervertreter als ungenügend zurückgewiesen.
Zu lange geschwiegen
Begleitet war diese Zahlung immerhin von einem gewissen Nachdenken über Schuld und Sühne. Das ist zu begrüßen. Doch scheint die vom Jesuitenprovinzial Stefan Kiechle großzügig übernommene Rolle des Sündenbockes, der stellvertretend Sühne leistet, in diesem Fall die konkreten Verantwortlichkeiten eher zu verdecken.[7] Geht es doch nicht primär um stellvertretende Sühne, sondern darum, dass eine Institution, die jahrelang Täter gedeckt und nicht nach den Opfern gefragt hat, ebendiese zweite Schuld nach dem geschehenen Missbrauch trägt. Menschen aber, die geschwiegen haben, gibt es noch immer bei den Jesuiten.
Trotz der geübten Kritik hat die Bischofskonferenz das Modell der Jesuiten letztlich übernommen, und zwar nicht nur die vorgelegten 5000 Euro als Richtgröße für eine Anerkennungszahlung, sondern auch den Sound der freiwilligen Stellvertretung. Man zahle anstelle der Missbrauchstäter aus den eigenen Reihen – und nicht für die Tatsache, welche die Opfer besonders empört: dass jahre- oder gar jahrzehntelang nichts unternommen wurde, um die Täter wirkungsvoll aus dem Verkehr zu ziehen oder nach möglichen Opfern zu fragen.
Die Vergebung der Sünden, die die Kirche an jedem Sonntag in ihren Gottesdiensten zelebriert, führt offensichtlich nicht zwingend dazu, dass Schuld leichter bekannt und getragen werden kann. Die Botschaft, dass dem Täter von Gott vergeben wird, er also trotz seiner Schuld weiterleben darf und nicht verdammt wird, hat augenscheinlich nicht den therapeutischen Effekt, dass er sich ehrlich und angstfrei seiner Schuld und der Frage stellen kann, welche Strukturen diese Schuld begünstigt haben. Im Gegenteil: Der, der sich vor Gott als Sünder bekennt, leugnet vor den Menschen seine Schuld oder redet sie klein, um sich alsbald um andere Themen zu kümmern – ein eklatanter Widerspruch. Indem jedoch viele Kirchenvertreter sich im Umgang mit der eigenen Schuld kaum von anderen Schuldigen unterscheiden, desavouiert die Kirche ihre eigene Botschaft und verweigert der Gesellschaft einen wichtigen Dienst: zu zeigen, wie man als Schuldiger verantwortlich leben kann.
[1]Memorandum von Theologieprofessoren und -professorinnen zur Krise der katholischen Kirche, 4.2.2011, www.memorandum-freiheit.de.
[2]Karl Lehmann, Kirche der Sünder, Kirche der Heiligen, in: „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, 1.4.2010.
[3]Vgl. Uta Ranke-Heinemann, Papst Benedikt oder Die große Täuschung. Sexueller Missbrauch und die Geheimschreiben des Vatikan, in: „Blätter“, 4/2010, S. 43-50.
[4]Brief des apostolischen Nuntius an die Mitglieder der irischen Bischofskonferenz vom 31.1.1997; vgl. Laurie Goodstein, Vatican Letter Warned Bishops on Abuse Policy, in: „New York Times“, 19.1.2011.
[5]Franz-Xaver Kaufmann, Kirchenkrise. Wie überlebt das Christentum? Freiburg 2011, S. 162.
[6]Matthäus 5,23-24.
[7]Stefan Kiechle SJ, Wir Sündenböcke: Warum euer Zorn uns zu Recht trifft, in: „Christ & Welt“, 4/2011, S. 3 f.