Ausgabe Juni 2013

Machtkampf im Sahel: Mali und die Folgen

Nach der militärischen Intervention seit Januar dieses Jahres scheint sich die politische Lage in Mali beruhigt zu haben. Innerhalb weniger Wochen vertrieben französische und tschadische Truppen die islamistischen Kämpfer aus den besetzten Städten im Norden des Landes. Dafür wurde der französische Staatspräsident François Hollande bei seinem Besuch in Mali im Februar enthusiastisch gefeiert. Mitte Mai kamen auf der internationalen Geberkonferenz zudem mehr als drei Milliarden Euro Hilfsgelder für den Wiederaufbau des Landes zusammen.

Doch die schnellen Erfolge täuschen: Die islamistischen Kämpfer haben sich zu großen Teilen nur in das Bergland Adrar des Iforas zurückgezogen, andere flohen in den Süden Libyens, in den Nordwesten Nigers oder in andere Länder. Niemand weiß genau, wie viele der vor der Intervention auf 2000 geschätzten Al-Qaida-Kämpfer sich noch in Mali aufhalten; sie könnten sich unter die Bevölkerung gemischt haben oder von den Nachbarstaaten aus weitere Angriffe vorbereiten.

Die Lage innerhalb Malis wie auch in der gesamten Sahelzone ist zunehmend unübersichtlich. Denn der Krieg hat die politischen Gewichte im Norden und Westen Afrikas verschoben. Eine Schlüsselrolle nimmt dabei der Tschad ein. Das zentralafrikanische Land konnte insbesondere von seiner Beteiligung an der Intervention in Mali profitieren und scheint versucht zu sein, in die Fußstapfen der einstigen Regionalmacht Libyen zu treten, das nach dem Tod Muammar al-Gaddafis massiv an Einfluss verloren hat.

Die Fronten im Mali-Konflikt

Auslöser für die Staatskrise in Mali war eine erneute Revolte der Tuareg Ende 2011. Seit der Unabhängigkeit von Frankreich fordern sie mehr Autonomie und eine stärkere wirtschaftliche Förderung für den strukturschwachen Norden des Landes. Nach dem Sturz Gaddafis bediente sich die Tuareg-Befreiungsorganisation Mouvement National pour la Libération de l’Azawad (MNLA) an dessen Waffenlagern, griff malische Armeeposten an und massakrierte Militärs.

Weil die malische Regierung unzulänglich ausgebildete und ausgerüstete Soldaten gegen die kampferprobten Tuareg einsetzte, putschte die malische Armee am 21. März 2012 unter Führung des Hauptmanns Amadou Sanogo gegen die demokratisch gewählte Regierung Amadou Toumani Tourés. Der MNLA wiederum nutzte das politische Machtvakuum in Bamako und rief am 6. April 2012 den unabhängigen Staat Azawad aus. Innerhalb weniger Tage eroberte der MLNA die Städte Kidal, Gao sowie Timbuktu. Unterstützt wurde er dabei anfangs von der islamistischen Tuareg-Gruppe Ansar Dine (Verteidiger des Glaubens), die sich daraufhin allerdings mit der islamistisch-salafistischen Al-Qaida au Mahgreb Islamique (AQMI) verbündete.

AQMI gilt als Ableger islamistischer Terrorgruppen des algerischen Bürgerkrieges. Seit 2003 bedrohen verschiedene Zellen mit Entführungen, Schmuggel, Drogen- und Menschenhandel die Sicherheit im gesamten Sahel. Wie die Tuareg hatte auch AQMI seine Arsenale mit Waffen aus ehemals libyschen Beständen aufgestockt.

Doch das Bündnis war nur von kurzer Dauer: AQMI vertrieb den säkular ausgerichteten MNLA und besetzte zusammen mit weiteren radikal-islamistischen Splittergruppen die Städte Nordmalis. Die malische Armee – nach dem Putsch in Bamako zu beschäftigt und uneins über die politische Zukunft des Landes – ließ dies tatenlos geschehen.

Die Bilder von Islamisten, die in den besetzten Städten Frauen unter den Schleier zwangen und das Weltkulturerbe Timbuktu zerstörten, gingen um die Welt. Damit nahm auch die internationale Besorgnis zu, wie die Krise im Norden Malis zu lösen sei, die das Land de facto zweigeteilt und Hunderttausende zur Flucht gezwungen hatte.

Die Staaten der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft (ECOWAS) scheuten vor einer militärischen Intervention zurück, da ihre Truppen nicht auf einen Wüstenkrieg mit radikalen Islamisten vorbereitet waren. Einen Ausweg sollte die Resolution 2085 aufzeigen, die der UN-Sicherheitsrat am 20. Dezember 2012 verabschiedete. Sie sah eine Militärmission von 8 der 15 ECOWAS-Mitgliedstaaten unter afrikanischer Führung ab Herbst 2013 vor.[1] Doch so viel Zeit blieb ihnen nicht: Denn die islamistischen Kämpfer – AQMI und der Movement pour l’unité et le jihad en Afrique de l’Ouest, eine dschihadistische Tuareg-Bewegung – rückten überraschend schnell in Richtung Süden und damit auf die malische Hauptstadt vor. In seiner Not sandte der malische Übergangspräsident Dioncounda Traoré am 9. Januar 2013 einen Hilferuf an seinen französischen Kollegen François Hollande, und nur zwei Tage später begann die Intervention Serval – obwohl Hollande noch im Oktober zuvor verkündet hatte, keine französischen Soldaten nach Mali entsenden zu wollen.

Der Tschad schickte am 17. Januar ein Truppenkontingent von 2000 Mann – das größte afrikanische – zur Unterstützung der rund 4000 französischen Militärs. Nigeria sandte 1200 Mann, die anderen Mitgliedstaaten der ECOWAS jeweils mehrere hundert.

Ab Juli soll eine UN-Blauhelm-Mission mit bis zu 12 600 Soldaten und Polizisten Mali sichern. Frankreich hat zwar bereits mit dem Truppenrückzug begonnen, wird sich aber an der Mission Intégrée des Nations Unies pour la Stabilisation au Mali (MINUSMA) beteiligen. Die sich schon im Land befindenden Verbände der ECOWAS-Staaten sollen ebenfalls in MINUSMA integriert werden. Im Rahmen einer 15monatigen EU-Ausbildungsmission entsendet auch die Bundeswehr 80 Soldaten nach Mali.

Allerdings ist fraglich, ob das Land innerhalb dieser kurzen Zeitspanne befriedet werden kann. Zu umfangreich sind die anstehenden Probleme. Zwar hat die nach dem Militärputsch eingesetzte Übergangsregierung die seit April letzten Jahres überfällige Präsidentschaftswahl für Juli angesetzt. Derzeit scheint es allerdings nahezu ausgeschlossen, dass angesichts der unverändert instabilen Lage eine faire und transparente Wahl sichergestellt werden kann.

Ein Scheitern der Wahlen könnte indes verheerende Folgen haben – und die Kluft zwischen dem Norden und Süden Malis vertiefen. Schon im Vorfeld nehmen die Racheakte anderer ethnischer Gruppen an Arabern und Tuareg zu. Auf der einen Seite bleibt besonders der MLNA ein Unsicherheitsfaktor. Nach wie vor verweigern die Tuareg der malischen Armee den Zugang zu ihrer Hochburg Kidal und widersetzen sich der geforderten Entwaffnung. Auf der anderen Seite kommt den sufistischen Führern eine wichtige Rolle zu. Sie müssen einen Ausgleich mit der Minderheit der Wahhabiten finden, um zu verhindern, dass in Zukunft radikal-islamistische Kräfte wieder ihre Anhänger unter Armen und Hoffnungslosen rekrutieren.

Das vermeintliche demokratische Musterland Mali[2] wurde letztendlich Opfer des libyschen Machtwechsels, der korrupten politischen Elite in Bamako sowie seiner schwachen Staatlichkeit, die die Präsenz von bewaffneten Gruppen auf seinem Staatsgebiet nicht verhindern konnte. Das Land ist innenpolitisch auf Jahre geschwächt, der Aufbau demokratischer, staatlicher Strukturen und die politische Versöhnung zwischen dem Norden und dem Süden werden die Hauptaufgaben der kommenden Jahre sein.

Tschad: Die neue Regionalmacht?

Anders sieht es für den autokratisch regierten Tschad aus. Staatschef des zentralafrikanischen Landes ist seit 1991 Präsident Idriss Déby Itno, der seinerzeit durch einen Putsch an die Macht gelangte. Obwohl der Tschad kein direktes Nachbarland Malis und auch kein Mitglied der ECOWAS ist, hatte Déby den Putsch der malischen Armee umgehend verurteilt.

Der Protest darf freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Tschad nur auf dem Papier demokratisch verfasst ist. Menschenrechtsverletzungen sind häufig, und die Bevölkerung lebt – trotz der Ölvorkommen im Land – nahe am Existenzminimum. Die politische Opposition im Land ist weitgehend handlungsunfähig, viele ihrer Mitglieder sind korrumpiert. Regimekritiker leben gefährlich, und die Opposition im Exil findet wenig Gehör.

Die Rebellenallianz, der 2008 fast der Sturz Débys gelang, ist seit dem Friedensschluss zwischen dem Sudan und Tschad im Jahre 2010 aufgerieben; die meisten ihrer Führer befinden sich in Katar oder kehrten aus dem Sudan in den Tschad zurück und ließen sich dort in politische oder militärische Ämter integrieren bzw. kooptieren. Einer von ihnen wird von der Regierung beschuldigt, das jüngste Komplott angezettelt zu haben. Am 1. Mai kam es in einer Kaserne in der Hauptstadt N’Djamena zu einer Schießerei. Daraufhin ließ Déby zahlreiche Abgeordnete, Journalisten, den ehemaligen Rektor der Universität in N’Djamena und Militärs verhaften.

Inzwischen mehren sich die Anzeichen, dass die Verhafteten Opfer von Vergeltungsmaßnahmen des Präsidenten wurden, der sich aller Kritiker entledigen will. Insbesondere die Verhaftung des Oppositionsabgeordneten Gali Gatta Ngoté spricht für diese Version; er ist einer der prominentesten demokratischen Oppositionellen und setzt sich für eine Transition im Dialog mit Déby ein.

Der innertschadischen Menschenrechtslage wegen galt Déby lange Zeit als Paria unter den afrikanischen Herrschern. Nur die ehemalige Kolonialmacht Frankreich stand ihm treu zur Seite. Allerdings zögerte der sozialistische Präsident Hollande, der mit der französischen Politik des Françafrique brechen wollte, ein Treffen mit Déby nach seiner Wahl hinaus. Weil Hollande die Unterstützung des Tschad jedoch benötigte – dessen Soldaten verfügen über Erfahrungen im Wüstenkampf und wurden zum Teil von Frankreich ausgebildet –, kam es im Dezember vergangenen Jahres zu einem offiziellen Treffen – und zur militärischen Zusammenarbeit. Erst zögerlich, forderte Hollande nun nach der Verhaftungswelle von seinem tschadischen Kollegen das Einhalten rechtsstaatlicher Verfahren.

Den Einsatz der tschadischen Verbände in Mali werten französische Experten auch als Versuch Débys, sich in der Nachfolge Gaddafis als regionales Schwergewicht in Afrika zu positionieren. Seine Wirtschaftspolitik weist ebenfalls in diese Richtung: Déby belebte die von Gaddafi gegründete Gemeinschaft der Staaten des Sahel und der Sahara wieder und lud zu einem Gipfeltreffen nach N’Djamena ein.

Tschads Hunger nach Öl

Im Fokus des Tschad stehen aber nicht nur der Norden und der Westen Afrikas, sondern auch der im Süden angrenzende Nachbar, die Zentralafrikanische Republik (ZAR), – und insbesondere deren Rohstoffvorkommen.

Hatte Déby noch vor zehn Jahren dem im März gestürzten Präsidenten François Bozizé zur Macht verholfen, unterstützt er jetzt die Rebellenallianz Séléka und den nun regierenden Michel Djotodia. Bereits vor dem Putsch war der ehemalige Präsident aus Sicht Débys ein unzuverlässiger Vasall geworden. Bozizé hatte sich vom Tschad ab- und einer vermeintlich profitableren Allianz mit Südafrika zugewandt, das ihm militärische Unterstützung gegen Rohstofflizenzen versprach. [3]

Mit dem Eingreifen in der ZAR sichert Déby die tschadischen Ölfelder in Grenznähe zur ZAR. Die noch unerschlossenen Ölvorkommen der ZAR sollen über die tschadische Pipeline ins benachbarte Kamerun exportiert werden. Experten vermuten obendrein noch wesentlich größere Vorkommen in anderen Landesteilen des Tschad.

Noch ist offen, ob der Tschad am Ende tatsächlich Zugriff auf die Rohstoffe der ZAR erlangt. Aus Sicht Débys drängt die Zeit: Nicht nur nimmt die Bedrohung durch islamistische Kräfte zu – neben AQMI im Sahel bedroht auch Boko Haram, eine islamistische terroristische Gruppierung im Norden des benachbarten Nigeria, die Sicherheit in der Region.[4] Die islamistischen Kräfte könnten zudem – insbesondere nach der Intervention in Mali – den Tschad als Rückzugsgebiet nutzen. Derzeit mehren sich die Anzeichen, dass aus Mali vertriebene Islamisten den Schulterschluss mit tschadischen Rebellen suchen und gemeinsam den Sturz Débys vorbereiten. Gelänge ihnen der Umsturz, wäre eine Islamisierung des Tschad kaum noch aufzuhalten.

Die bislang begrenzten Öleinnahmen erlauben es Déby nicht, auf Dauer die Rolle des Feuerwehrmanns im zentralen und westlichen Afrika zu spielen. Mitte April stimmte das tschadische Parlament bereits für einen Rückzug seiner Truppen aus Mali – aus Kostengründen. Gleichzeitig fordert die tschadische Regierung die Übernahme ihrer bisherigen Militärausgaben durch die UN. Zugleich zeigte sie sich aber bereit, unter UN-Mandat weiterhin Truppen nach Mali zu entsenden – allerdings nur, wenn dem Tschad der militärische Oberbefehl über die Mission übertragen werde.

Dass die UN auf diesen Vorschlag eingeht, ist nicht auszuschließen. Déby ist es in den vergangenen Monaten gelungen, sich dem Westen als verlässlicher Partner zu präsentieren. Zudem hat er es verstanden, sein Land regional und international als Bollwerk gegen den sich im Sahel ausweitenden Islamismus darzustellen. Wiederholt betonte er dabei den in der Verfassung verankerten Säkularismus des Tschad, dessen Bevölkerung zu rund 60 Prozent aus Muslimen und zu etwa 40 Prozent aus Christen besteht.

Die ungleiche Entwicklung in Mali und im Tschad verdeutlicht, in welche Richtung sich die Kräfteverhältnisse in West- und Zentralafrika fortan bewegen werden – und wie offen allen voran dabei der tschadische Präsident die Krise im Sahel nutzt, um intern seine Macht abzusichern und seinen regionalen Einfluss auszubauen. Umso größer dieser jedoch wird, umso leiser dürften die Rufe nach einer demokratischen Öffnung des Landes werden.

 

[1] Zu den acht Staaten zählten Benin, Burkina Faso, Ghana, Guinea, Niger, Nigeria, Senegal und Togo.

[2] Charlotte Wiedemann, Mali: Das Kartenhaus der Demokratie, in: „Blätter“, 1/2013, S. 25-28.

[3] Die zentralafrikanischen Staaten beabsichtigen, 2000 Militärs in die ZAR zu entsenden. Sie sollen bis zu den geplanten Wahlen innerhalb der nächsten 18 Monate für Stabilität sorgen. Auch an dieser Truppe wird sich der Tschad beteiligen.

[4] Vgl. Florian Heydorn, Nigerianische Gewaltspirale, in: „Blätter“, 2/2012, S. 27-29.

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