Ausgabe Oktober 2014

Europa: Dr. Jekyll und Mr. Hyde

Je länger man Europa vernünftig anschaut, desto unvernünftiger schaut es zurück.“ Mit diesem Satz beginnt der Soziologe und Philosoph Hauke Brunkhorst sein jüngstes Buch und dreht damit einen Satz Hegels um, der noch der Meinung war, man müsse nur vernünftig in die Geschichte hineinsehen, dann schaue sie auch vernünftig zurück.

In Europa, das heißt in der EU, läuft in der Tat vieles von Anfang an verkehrt, auch wenn die europäische Einigung noch so oft als erfolgreiches, ja sogar friedensnobelpreiswürdiges Projekt gelobt wird. Doch die Friedens- und Weltbeglückungsrhetorik, mit der die Geschichte der EU besungen wird, ist verlogen, denn am Anfang der europäischen Gemeinschaft zu Beginn der 1950er Jahre stand die doppelte Verdrängung ihres wirklichen Ursprungs: Verdrängt wurde der emanzipatorische Anspruch, mit dem die europäische Einigung 1945 begann. Und verdrängt wurde die koloniale Unterdrückung, in die europäische Staaten bis in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts verwickelt blieben – Frankreich etwa in Algerien, das die Politik der Vierten Republik mit einem brutalen Krieg und Folter an sich binden wollte.

Beginnend noch in der Kriegszeit und sich verstärkend nach 1945 gab es starke proeuropäische Impulse von progressiven wie konservativen Intellektuellen und zahlreichen europäischen Bewegungen von unten.

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In der Dezember-Ausgabe ergründet Thomas Assheuer, was die völkische Rechte mit der Silicon-Valley-Elite verbindet, und erkennt in Ernst Jünger, einem Vordenker des historischen Faschismus, auch einen Stichwortgeber der Cyberlibertären. Ob in den USA, Russland, China oder Europa: Überall bilden Antifeminismus, Queerphobie und die selektive Geburtenförderung wichtige Bausteine faschistischer Biopolitik, argumentiert Christa Wichterich. Friederike Otto wiederum erläutert, warum wir trotz der schwachen Ergebnisse der UN-Klimakonferenz nicht in Ohnmacht verfallen dürfen und die Narrative des fossilistischen Kolonialismus herausfordern müssen. Hannes Einsporn warnt angesichts weltweit hoher Flüchtlingszahlen und immer restriktiverer Migrationspolitiken vor einem Kollaps des globalen Flüchtlingsschutzes. Und die Sozialwissenschaftler Tim Engartner und Daniel von Orloff zeigen mit Blick auf Großbritannien und die Schweiz, wie wir dem Bahndesaster entkommen könnten – nämlich mit einer gemeinwohlorientierten Bürgerbahn. 

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