Ausgabe Oktober 2016

Der große Atommüllpoker

Anfang Juli, Haus der Bundespressekonferenz, Berlin: Auf dem Podium sitzen Ursula Heinen-Esser (CDU) und Michael Müller (SPD), die beiden Vorsitzenden der Atommüll-Kommission des Bundestages, und stellen deren Abschlussbericht vor. Sie feiern die gefundene Einigkeit über alle politischen Lager hinweg. Doch als ein Journalist eine Frage zum Standort Gorleben stellt, fangen die beiden vor versammelter Hauptstadtpresse an zu streiten. Es wird deutlich: In zentralen Fragen konnte sich die Atommüll-Kommission nicht einigen. Sie hat zwar ihre Arbeit beendet – doch der Konflikt bleibt.

34 Sitzungen fanden in gut zwei Jahren statt, hinzu kamen über 90 Arbeitsgruppentermine: Keine Frage, die Kommission „Lagerung hochradioaktiver Abfallstoffe“ hat einigen Aufwand betrieben. Sie hatte den Auftrag, das 2013 beschlossene Standortauswahlgesetz zu überarbeiten. Sie sollte sich außerdem auf Konzepte verständigen, um die Öffentlichkeit an der Suche nach einem Lagerplatz für die strahlenden Abfälle zu beteiligen. Und sie sollte Kriterien für die Standortauswahl entwickeln. Dabei sollte schließlich, so der formulierte Anspruch, ein Konsens aller wesentlichen gesellschaftlichen Akteure über den weiteren Umgang mit dem Atommüll gefunden werden.

Am Tisch saßen 32 Personen, davon jeweils acht Mitglieder des Bundestages und des Bundesrates, acht vom Bundestag ausgewählte Wissenschaftler und acht sogenannte Vertreter der Zivilgesellschaft. Dabei folgte das Parlament allerdings einer seltsamen Definition von Zivilgesellschaft: Unter den acht Personen befanden sich der ehemalige sächsische CDU-Ministerpräsident Georg Milbradt, eine Vertreterin der Gorlebener Bergleute und drei aus den Reihen der AKW-Betreiber.

Lediglich zwei Plätze in der Runde waren für Umweltorganisationen vorgesehen. Doch fast alle mit dem Thema Atommüll befassten Verbände und Bürgerinitiativen hatten sich gegen eine Mitarbeit entschieden. Schließlich beschloss der BUND, an der Kommission teilzunehmen, nachdem der Bundestag unter anderem zugesichert hatte, das Gremium werde eine breite gesellschaftliche Atommülldebatte anstoßen, bevor sie selbst Empfehlungen erarbeitet. Der zweite „Umwelt-Vertreter“, die Deutsche Umweltstiftung, war vorher noch nie in der Atommüll-Debatte in Erscheinung getreten – ihre Teilnahme war eine Notlösung, weil sich sonst niemand bereit erklärte.

Auf der Wissenschaftsbank saß beispielsweise Bruno Thomauske, der ehemalige Leiter des Projekts Gorleben, Ex-Chef der Vattenfall-AKW und Vorstandsmitglied im Deutschen Atomforum, der jetzt einen RWE-finanzierten Lehrstuhl in Aachen innehat. Ein weiterer „Experte“, Wolfram Kudla, besitzt ein Patent auf den Verschluss von Stollen im Salzgestein und tritt deshalb vehement für Tiefenlagerung im Salz ein. Zu den Teilnehmern gehörte ferner ein als „Atom-Hardliner“ bekannter ehemaliger Abteilungsleiter aus dem Umweltministerium. Schon bei der Besetzung der Kommission spielten also die politischen Machtverhältnisse eine größere Rolle als fachliche Kompetenz und Unabhängigkeit. 

Entstanden ist ein fast 700 Seiten dicker Abschlussbericht. Jetzt ist der Gesetzgeber am Zug – das Parlament muss entscheiden, welche der Kommissions-Empfehlungen in das bestehende Standortauswahlgesetz aufgenommen werden. Beschlossen wurde der Bericht in der Kommission mit 14 zu 1 Stimmen – die von Bundestag und Bundesrat entsandten Mitglieder waren nicht stimmberechtigt.[1] 

Einigkeit über die Uneinigkeit

Oberflächlich scheint man dem angestrebten gesellschaftlichen Konsens recht nahe gekommen zu sein. Doch in Wirklichkeit stehen wir nach zwei Jahren vor einem Scherbenhaufen.

Das liegt nicht zuletzt daran, dass der zugesagte breite gesellschaftliche Diskurs wegen Zeitproblemen gleich ganz ausfiel. Er war auch von großen Teilen der Mitglieder nicht gewollt, da sie die „Unruhe“ in der Bevölkerung fürchteten. Jetzt zeigt sich die Uneinigkeit immer deutlicher: Der BUND, die einzige thematisch kompetente Umweltorganisation in der Kommission, stimmte gegen den Abschlussbericht. Die Initiativen und Verbände in der Anti-Atom-Bewegung lehnen ihn ebenfalls fast ausnahmslos ab. Die AKW-Betreiber tragen manche Passagen des Berichts ebenfalls nicht mit. Ein Wissenschaftler, der noch bei der Schlussabstimmung zugestimmt hatte, erklärte inzwischen auf einer Pressekonferenz, er finde die Kriterien falsch. Die Bürgermeister der 17 Gemeinden, in denen derzeit hochradioaktiver Atommüll lagert, sind über die Kommissionsergebnisse entsetzt. Die Bundesländer Bayern und Sachsen kündigten ihren Widerstand gegen die Untersuchung kristalliner Gesteinsformationen an. Kurzum: Von Konsens kann also keine Rede sein.

Die Kommissionsmehrheit für den Abschlussbericht konnte am Ende nur erzielt werden, weil strittige Punkte ausgeklammert, geologische Kriterien möglichst vage formuliert und damit wesentliche Entscheidungen der neuen mächtigen Atommüll-Behörde überlassen wurden, die derzeit aufgebaut wird. Zum Streitpunkt Gorleben gibt es im Kommissionsbericht sogar zwei sich völlig widersprechende Darstellungen. Der Konflikt wurde nicht gelöst, sondern lediglich vertagt.[2] 

Mythos »weiße Landkarte«

So erweist sich die von der Kommission immer wieder propagierte „weiße Landkarte“ für die neue Suche nach einem Atommülllagerplatz als nicht mehr denn ein PR-Konstrukt – und als ein Mittel, Gorleben im Verfahren zu halten. Zahlreiche andere Gebiete wurden hingegen längst ausgeklammert. Ein Beispiel: Der Abgeordnete Andreas Jung aus Konstanz, der für die Unions-Fraktion in der Kommission saß, verkündete bereits stolz, es sei gelungen, ein Kriterium im Abschlussbericht zu verankern, mit dem die Tonvorkommen in seinem Wahlkreis von der Suche ausgeschlossen werden. Gleichzeitig vertritt Jung die Position, dass es keine Kriterien geben dürfe, die Gorleben ausschließen, denn dann gäbe es ja keine weiße Landkarte mehr.

Der neue Auswahlprozess für ein Atommülllager basiere außerdem, so die Darstellung, auf einem „wissenschaftsbasierten Suchverfahren“. Damit wird suggeriert, die Festlegung eines Standortes erfolge nach objektiven Kriterien – und nicht mehr wie 1977 bei Gorleben aus politischen Erwägungen.[3] Die Realität sieht jedoch anders aus: Schon die von der Kommission festgelegten Kriterien resultieren nicht aus wissenschaftlichen Erkenntnissen, sondern aus einem hinter den Kulissen mit harten Bandagen geführten politischen Aushandlungsprozesses. Minister stritten – im Wissen um die geologischen Verhältnisse in ihren Bundesländern – unverhohlen für die Aufnahme von Kriterien, die es weniger wahrscheinlich machen, dass die hochradioaktiven Stoffe in ihrer Region landen.

Gorleben bleibt Favorit

Am härtesten wurde darum gerungen, den geologisch fragwürdigen Salzstock Gorleben in der Auswahl zu halten. Die zahlreichen Gorleben-Befürworter in der Kommission achteten penibel darauf, jene Kriterien, die ihren favorisierten Standort ausschließen würden, zu verhindern oder als unwichtig einzustufen. Das unausgesprochene Ziel dabei war: Es darf nichts in den Empfehlungen auftauchen, was zum Ausschluss des Bergwerks im Wendland führen könnte. Also mussten alle Mängel von Gorleben aus dem Papier herausgehalten oder relativiert werden. „Streng wissenschaftlich“ ist für die Kommission also nur das, was nicht gegen Gorleben spricht.

Immer wenn keine Einigung gelang – und das war häufig der Fall – wurden Formelkompromisse gesucht, die vieles offen lassen. Dadurch sind die Empfehlungen der Kommission so vage gehalten, dass künftig jeder politisch ausgehandelte Standort legitimiert werden kann.

So gesehen haben beide Seiten Recht, wenn sie den Bericht als ihren Erfolg reklamieren: Der grüne niedersächsische Umweltminister Stefan Wenzel etwa sagt, ginge das Suchverfahren fair vonstatten, würde Gorleben irgendwann ausscheiden. Und die Befürworter des bisherigen Standorts können darauf hoffen, mit den windelweichen Kriterien Gorleben durchzusetzen.

Weil die Kommission es jedoch vermieden hat, eine Zahl der untertägig zu untersuchenden Standorte festzulegen, könnte der bisherige Favorit Gorleben am Ende mit lediglich einem weiteren Kandidaten verglichen werden, der aber längst nicht so gründlich erkundet wird. Alle anderen potentiellen Standorte müssen hingegen ein dreistufiges Suchverfahren durchlaufen, bei dem immer mehr ausgesiebt wird: Auswahl nach Aktenlage, Auswahl nach obertägiger Erkundung und schließlich Auswahl nach untertägiger Erkundung mittels eines Bergwerks. In dieser letzten Phase befindet sich Gorleben schon jetzt, weil dort bereits seit Jahrzehnten ein großes Bergwerk existiert. 

Von Neustart keine Spur

Zudem gibt es wesentliche Fragen in Sachen Atommüll, denen sich die Kommission nur oberflächlich gewidmet hat. Eigentlich hatte sie den Auftrag, sich mit den verschiedenen langfristigen Lagerungsoptionen für Atommüll zu befassen. Doch hat sie nicht einmal ernsthaft versucht, alternative Möglichkeiten zu prüfen. Stattdessen wird daher nun jene Politik nahtlos fortgesetzt, die in der Vergangenheit zu den Desastern in der Asse und Morsleben führte.

Grund dafür ist, dass die alternativen Gesteinsformationen Ton und Kristallin im weiteren Verfahren schnell ausscheiden können, da die Kommission den Auftrag des Gesetzgebers, für alle Lagermedien eigene „wirtsgesteinsspezifische“ Kriterien zu erarbeiten, nicht erfüllt hat. Daher sind die neuen Ausschluss- und Auswahlregeln hauptsächlich auf Salz bezogen und lassen deshalb keinen wirklichen Vergleich zu. So werden die Ergebnisse zu einer Fortsetzung des in den letzten Jahrzehnten eingeschlagenen Weges führen: tiefengeologische Lagerung in Salz. Vom proklamierten Neustart findet sich keine Spur.

Als große Neuerung kündigte die Kommission an, die strahlenden Abfälle sollten künftig „rückholbar“ gelagert werden. Doch bei genauerem Hinsehen wird deutlich, dass dies nur ein neues Etikett für die alte Methode ist, den Atommüll in ein Bergwerk zu packen und dieses zu verschließen. Unter „rückholbar“ versteht die Kommission, dass unsere Nachkommen ein neues Bergwerk bauen können, um die radioaktiven Stoffe zu bergen: Im Kleingedruckten findet sich der Hinweis, dass die Rückholbarkeit nur für die Einlagerungsphase gelten soll – jedoch nicht mehr, wenn das Bergwerk danach verschlossen wird. Wie schwierig die Rückholung bereits nach kurzer Zeit ist, zeigen die massiven Probleme bei den nun schon jahrelang laufenden Vorbereitungen, die Fässer aus dem maroden Salzbergwerk Asse zu bergen. 

Zwischenlager werden zu Dauerlagern

Laut Gesetz soll bis 2031 ein Standort gefunden sein. Die Inbetriebnahme des Lagers ist nach den Plänen der Bundesregierung für etwa 2050 vorgesehen. Doch sogar aus der Kommission kommen zahlreiche deutlich warnende Stimmen, dass der Suchprozess wahrscheinlich einige Jahrzehnte länger währen wird. Bis das Lager befüllt ist, kann es sogar bis zur Mitte des kommenden Jahrhunderts dauern.

Problematisch wird dies für jene 17 Orte in Deutschland, an denen derzeit hochradioaktiver Atommüll in unsicheren Zwischenlagerhallen steht, deren Genehmigungen zwischen 2035 und 2045 auslaufen. Wie lange die Castorbehälter wirklich dichthalten, weiß niemand. Die Kommission hat sich also Gedanken über den Verbleib der strahlenden Stoffe ab dem 22. Jahrhundert gemacht und dabei übersehen, dass auch die sichere Lagerung im 21. Jahrhundert noch lange nicht geklärt ist.

Im Endeffekt sollte die Kommission der Gesellschaft Botschaften vermitteln, die jenseits der politischen Realität liegen: Jetzt kümmern sich alle gemeinsam verantwortungsvoll um den Atommüll. Jetzt werden die Fehler der Vergangenheit aufgearbeitet. Jetzt gibt es einen Neustart bei der Suche. Jetzt gibt es ein objektives, streng wissenschaftliches Auswahlverfahren. Jetzt wird die Öffentlichkeit von Anfang an umfassend beteiligt. Die Kommission soll damit den Weg frei machen für die weitere Atommüllproduktion in den noch laufenden Reaktoren mindestens bis 2022. Nach dem Motto: Das bisschen zusätzlicher Strahlenabfall macht jetzt auch nichts mehr, da wir doch dabei sind, das Problem verantwortungsvoll zu lösen. Doch davon kann keine Rede sein. 

Offenbar diente die Kommission vor allem dazu, den Standort Gorleben wieder hoffähig machen. Noch vor einigen Jahren hatte sich bis weit in die SPD hinein die Position durchgesetzt, es sei an der Zeit, Gorleben fallen zu lassen. Inzwischen spricht in der Politik und in der öffentlichen Debatte fast niemand mehr davon. Nun steht zu befürchten, dass es am Ende wieder auf das Wendland hinausläuft. Und verkauft wird das als Ergebnis eines vorgeblich wissenschaftsbasierten, konsensualen Verfahrens mit Öffentlichkeitsbeteiligung.

Die allerdings fand mitnichten statt: Daher wird das jetzt ausgearbeitete Verfahren höchstwahrscheinlich nicht zum Ziel führen, sondern früher oder später erneut am Widerstand der betroffenen Bevölkerung scheitern. Man kann es auch so ausdrücken: Mit der Kommission wurde der Versuch unternommen, ein möglichst breites gesellschaftliches Bündnis gegen den Standort zu bilden, der es am Ende werden soll.

 

[1] Vgl. Kommission Lagerung hoch radioaktiver Abfallstoffe, Abschlussbericht. Verantwortung für die Zukunft. Ein faires und transparentes Verfahren für die Auswahl eines nationalen Endlagerstandortes, Berlin 2016.

[2] Vgl. zur Kritik auch die Erklärung „Außer Spesen nichts gewesen“ von über 50 Umweltverbänden und Anti-Atom-Initiativen aus dem ganzen Bundesgebiet.

[3] Vgl. Jochen Stay, Der Kampf um Gorleben. Ziele und Erfolge der Anti-AKW-Bewegung, in: „Blätter“, 1/2011, S. 74-80.  

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