Ausgabe April 2020

Der Bruch mit dem Bruch

Das Recht auf ein selbstbestimmtes Sterben

Am 26. Februar 2020 hat das Bundesverfassungsgericht eine Entscheidung getroffen, die man bereits jetzt mit Fug und Recht als historisch bezeichnen kann. Und zwar vor allem deshalb, weil sie einen historischen Bruch wieder beseitigt, den die Einfügung des § 217 in das Strafgesetzbuch im Jahr 2015 bedeutete.

Dieser Paragraph regelt das Verbot der sogenannten geschäftsmäßigen Suizidhilfe. Darunter verstand das Gesetz nicht etwa, dass Geschäfte, die mit der Sterbehilfe gemacht werden, verboten sind. Hätten die Bundestagsabgeordneten das gewollt, hätten sie die gewerbsmäßige Sterbehilfe untersagen müssen. Verboten wurde aber mit § 217 die organisierte, auf Wiederholung angelegte Suizidassistenz; auf eine Gewinnerzielungsabsicht kam es dabei nicht an. Wer mehr als einmal Suizidassistenz leistete oder dabei behilflich war, sollte bestraft werden.

Das Verbot zielte damit vor allem auf in Deutschland tätige Sterbehilfevereine, Suizidassistenz leistende Ärzte und Rechtsanwälte ab. Entgegen der ausdrücklichen gemeinsamen Warnung von mehr als zwei Dritteln aller deutschen Strafrechtslehrer wurde damit die seit Einführung des Reichsstrafgesetzbuches 1871 geltende Straffreiheit von Suizidassistenz in weiten Teilen beseitigt. Bereits der Reichsstrafgesetzgeber hatte den Suizid in Deutschland straffrei gestellt, damit blieb auch die Beihilfe zum Suizid folgerichtig straffrei. In ihrer Stellungnahme gegen § 217 machten die deutschen Strafrechtslehrer ihre tiefgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die mit dieser Zäsur einhergehenden neuen strafrechtlichen Repressionen deutlich. Doch all das hat nichts genützt, die Professoren blieben, wie auch alle anderen Kritiker der neuen Strafrechtsnorm, ungehört. Eine deutliche fraktionsübergreifende Mehrheit beschloss am 6. November 2015 den § 217 StGB, und am 9. Dezember 2015 trat er in Kraft.[1]

So musste denn kommen, was zur politischen Kultur der Bundesrepublik gehört: Die von der Strafrechtsnorm belasteten Suizidwilligen und mit Strafe bedrohten Suizidhelfer sahen ihre Grundrechte verletzt und legten vor dem Bundesverfassungsgericht gegen die neue Strafrechtsnorm Verfassungsbeschwerde ein.

Für die Leserinnen und Leser der „Blätter“ habe ich versucht, die mit den Regelungen in § 217 StGB einhergehenden Grundrechtsverletzungen zu erläutern und mich nachdrücklich für deren Beseitigung ausgesprochen.[2] Eine gesetzgeberische Mehrheitsentscheidung als verfassungswidrig zu kritisieren, ist in meiner Position einer verbeamteten Professorin des Verfassungsrechtes vergleichsweise unkompliziert und in ihren Konsequenzen übersichtlich. Im Unterschied dazu haben die Beschwerdeführer mit ihren Verfassungsbeschwerden einen existenziellen Kampf geführt und dafür fest an das Funktionieren des demokratischen Rechtsstaates in der Bundesrepublik glauben müssen.

Am 26. Februar dürften sie in ihrem Glauben an den Rechtsstaat bestärkt worden sein. § 217 StGB wurde zu Recht durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes als mit dem Grundgesetz für unvereinbar und damit für nichtig erklärt.

Der Kampf um das Urteil

Das Urteil wurde daraufhin, auch das ist fest in der politischen Kultur der Republik verankert, prompt als Fehlurteil gegeißelt, das die Macht des Gerichtes gegenüber dem Gesetzgeber missbraucht, indem es sich über dessen Willen hinwegsetzt.[3] Dieser Einwand ist zwar grundsätzlich falsch, trifft jedoch zugleich einen wichtigen Punkt.

Zwar kann der gesellschaftliche Streit, der in einem Gesetzgebungsverfahren geführt wird, auch wenn er wie in diesem Fall sehr tief geht, vom Verfassungsgericht mit höchster Autorität unter Berufung auf die Normen des Grundgesetzes anders als vom Gesetzgeber verbindlich entschieden werden. Darin liegt ja gerade seine verfassungsschützende Funktion: Karlsruhe kann und soll Mehrheitsentscheidungen aufheben, wenn sie die Grundrechte des Einzelnen oder grundlegende den demokratischen Staat organisierende Regeln verletzen. Nur wenn dies passiert, wird die Bindung der gesetzgeberischen Mehrheit an die Verfassung auch durchsetzbar. Um aber eine gesellschaftliche Befriedigung des Streites zu bewirken, der dem Verfassungskonflikt zugrunde liegt, braucht es mehr als die verfassungsgerichtliche Entscheidung mit ihren juristischen Argumenten. Die Gesellschaft muss lernen, einen neuen gesellschaftlichen Konsens zu akzeptieren und zu leben. Die verfassungsgerichtliche Entscheidung zur Beseitigung eines staatlichen Verfassungsverstoßes bedeutet dabei keineswegs immer die Überschreitung des Rubikon. Auch wenn gegen verfassungsgerichtliche Entscheidungen keine Rechtsmittel mehr verbleiben, hat sich das Verfassungsgericht durchaus schon selbst korrigiert. Der alte Satz „Roma locuta causa finita“ – Rom hat entschieden, die Sache ist erledigt – ist insofern nicht auf das Karlsruher Verfassungsgericht übertragbar. Und dennoch gibt es mit seinen Entscheidungen regelmäßig für lange Zeit die Richtung vor. Umso mehr geht nach jeder, zumal nach jeder so grundsätzlichen verfassungsgerichtlichen Entscheidung wie dieser die strittige Diskussion solange weiter, bis das gesprochene Verfassungsrecht als Regelung allgemein anerkannt ist.

Die Einwände der Kirchen

Die Vertreter beider christlichen Kirchen haben das Urteil denn auch umgehend scharf kritisiert. In einer gemeinsamen Erklärung des jüngst zurückgetretenen Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Reinhard Marx, und des Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland, Heinrich Bedford-Strohm, heißt es: „Dieses Urteil stellt einen Einschnitt in unsere auf Bejahung und Förderung des Lebens ausgerichtete Kultur dar. [...] Die Würde und der Wert eines Menschen dürfe sich nicht nach seiner Leistungsfähigkeit, seinem Nutzen für andere, seiner Gesundheit oder seinem Alter bemessen. Sie sind Ausdruck davon, dass Gott den Menschen nach seinem Bild geschaffen hat und ihn bejaht und dass der Mensch sein Leben vor Gott verantwortet.“[4] Deshalb dürfe die Beihilfe zum Suizid nicht straffrei sein.

Demgegenüber kommt das BVerfG hinsichtlich des grundgesetzlich verankerten Menschenbildes zu einem gänzlich anderen Urteil: „Die Verwurzelung des Rechts auf selbstbestimmtes Sterben in der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG impliziert gerade, dass die eigenverantwortliche Entscheidung über das eigene Lebensende keiner weiteren Begründung oder Rechtfertigung bedarf. Art. 1 Abs. 1 GG schützt die Würde des Menschen, wie er sich in seiner Individualität selbst begreift und seiner selbst bewusst wird. [...] Maßgeblich ist der Wille des Grundrechtsträgers, der sich einer Bewertung anhand allgemeiner Wertvorstellungen, religiöser Gebote, gesellschaftlicher Leitbilder für den Umgang mit Leben und Tod oder Überlegungen objektiver Vernünftigkeit entzieht. [...] Die Selbstbestimmung über das eigene Lebensende gehört zum ‚ureigensten Bereich der Personalität‘ des Menschen, in dem er frei ist, seine Maßstäbe zu wählen und nach ihnen zu entscheiden. [...] Dieses Recht besteht in jeder Phase menschlicher Existenz. Die Entscheidung des Einzelnen, dem eigenen Leben entsprechend seinem Verständnis von Lebensqualität und Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz ein Ende zu setzen, ist im Ausgangspunkt als Akt autonomer Selbstbestimmung von Staat und Gesellschaft zu respektieren.“[5]

Diesen im Urteil geforderten Respekt verweigern die Kirchen mit ihrer Kritik nicht nur der Entscheidung des Gerichts, sondern auch dem Willen des Suizidenten. Damit ist die Frage aufgeworfen: Darf sich staatlicher Lebensschutz gegen die Autonomie des sterbenden Menschen richten?

Von kirchlicher Seite wird unterstellt, dass die individuelle Entscheidung zu Krankheit und Tod nach eigenen Maßstäben das ethische Fundament unserer Gesellschaft untergrabe. Gefordert wird vom Gericht die gesellschaftliche Durchsetzung eines christlichen Menschenbildes, das letztlich die freiverantwortliche Suizidentscheidung nicht anerkennt. Doch neu ist weder dieser von den Kirchen kommende Vorwurf noch das im vom Verfassungsgerichtsurteil vertretene Menschenbild und Grundrechtsverständnis. Die Kritik der Kirchen belegt vielmehr nur das Auseinanderdriften zwischen der von ihr vertretenen und der in der Gesellschaft herrschenden Auffassung.

Ein anerkanntes Grundrecht auf selbstbestimmtes Sterben

Dass das allgemeine Persönlichkeitsrecht in Art. 2 Abs.1 GG in Verbindung mit dem Grundrecht der Menschenwürde in Art. 1 Abs.1 GG ein Grundrecht auf selbstbestimmtes Sterben beinhaltet und dieses das Recht auf Selbsttötung einschließt,[6] war bereits vor dem Urteil anerkannt – und zwar nicht nur in der deutschen Rechtsprechung, sondern auch in der des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte.[7] Anders als der Vorsitzende des Deutschen Ethikrats, der evangelische Theologe Peter Dabrock, annimmt, ist das Urteil somit gerade kein radikaler Bruch mit der bisherigen Rechtskultur.[8] Es verkehrt nicht die bisherige Position des Gerichts, sondern stellt lediglich fest, was bereits vorher galt: Der Schutz der menschlichen Würde steht der Freiheit, sich das Leben zu nehmen, nicht entgegen.[9] Allenfalls überrascht im Urteil die klare Zurückweisung der immer wieder geäußerten prominenten Mindermeinung, die das Recht, sich selbst zu töten, mit der Begründung verneint, dass der Suizident sich seiner Würde begibt, weil er mit seinem Leben zugleich die Voraussetzung seiner Selbstbestimmung und damit seine Subjektstellung aufgibt.

Es kann auch nicht die Rede davon sein, dass der Lebensschutz, wie Peter Dabrock suggeriert, im Urteil nichts zähle und die Aufhebung von § 217 zur Normalisierung des Suizides beitrage, weil sie aus dem Recht auf Selbsttötung ein Jedermannsrecht mache, dass nicht mehr Abwehrrecht, sondern Anspruchsrecht sei. Abgesehen davon, dass Menschenrechte immer Jedermannsrechte sind, kreiert das Urteil keinen Anspruch auf Selbsttötung; vielmehr wird das Recht auf duese durchgängig als individuelles Abwehrrecht beschrieben. Allerdings wird in der Lesart des Urteils durch den Theologen Dabrock überaus deutlich, wo die Differenzen zwischen einem christlichen Menschenbild und dem Menschenbild des Grundgesetzes liegen.

Anders als dem christlichen Menschenbild liegt der Verfassungsordnung des Grundgesetzes ein Menschenbild zugrunde, das von der Würde des Menschen und der freien Entfaltung seiner Persönlichkeit in Selbstbestimmung und Eigenverantwortung geprägt ist. Bei der Abwägung zwischen der staatlichen Lebensschutzpflicht gegenüber dem Sterbenden und dem Schutz seiner Autonomie findet der Lebensschutz im Urteil deshalb dort seine Grenze, wo die autonome Entscheidung nicht mehr geschützt, sondern verhindert wird. Die Straflosigkeit der Selbsttötung wie der Hilfe dazu wird im Urteil als Ausdruck der verfassungsrechtlich gebotenen Anerkennung individueller Selbstbestimmung begriffen und damit der freien Disposition des Gesetzgebers entzogen.

Zugleich ist es völlig falsch, den Eindruck zu vermitteln, wonach die Anerkennung des Rechts auf selbstbestimmtes Sterben durch das Urteil es dem Gesetzgeber versage, Suizidprävention zu betreiben. Dieser ist keineswegs darauf beschränkt, mit den Mitteln des Strafrechts Angriffe auf die Autonomie zu unterbinden. Im Gegenteil: Er unterliegt weiterhin, auch bei Suizidgefährdeten, „seinen sozialpolitischen Verpflichtungen“. Und gerade deshalb darf er sich diesen nicht dadurch entziehen, indem er autonomiegefährdenden Risiken (etwa in Form von „Defiziten der medizinischen Versorgung und der sozialpolitischen Infrastruktur“) „durch die vollständige Suspendierung individueller Selbstbestimmung entgegenzuwirken sucht“. Denn, und das ist der tragende Leitgedanke: „Ein gegen die Autonomie gerichteter Lebensschutz widerspricht dem Selbstverständnis einer Gemeinschaft, in der die Würde des Menschen im Mittelpunkt der Werteordnung steht, und die sich damit zur Achtung und zum Schutz der freien menschlichen Persönlichkeit als oberstem Wert ihrer Verfassung verpflichtet.“[10]

Was nun zu tun ist – speziell für die Ärzte

Mit dem Urteil zur Aufhebung von § 217 StGB ist die Suizidassistenz nun wieder straflos. Dagegen ist die Tötung auf Verlangen nach § 216 StGB wie bisher weiter strafbar. Und auch Versuche, die Freiverantwortlichkeit des Suizidenten einzuschränken oder zu beeinflussen, können wie bereits vor Einführung des § 217 als Tötungsdelikte geahndet werden.

Gleichwohl stehen der Freiheit des Suizidenten und des Suizidassistenten nach wie vor beträchtliche Hindernisse entgegen, die es schon vor der Einführung von § 217 gab. Diese sind vor allem die berufsrechtlichen Verbote für Ärzte, Suizidassistenz zu leisten. Zudem ist nach dem Urteil sofort die Diskussion um eine erneute Regelung zur Abwendung jener Gefahren entbrannt, die von der organisierten Sterbehilfe ausgehen. So hat Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) bereits angekündigt, noch in der laufenden Legislaturperiode eine Neuregelung zur organisierten Sterbehilfe anzustreben.

Von allergrößter Bedeutung ist allerdings die Frage, welche Auswirkungen das Urteil auf das Verbot ärztlicher Suizidassistenz hat. Die Musterordnung der Bundesärztekammer (MBO-Ä) enthält seit 2011 in § 16 die Empfehlung für die Landesärztekammern, ein berufsrechtliches Verbot der Suizidbeihilfe für Ärzte aufzunehmen. Der Regelvorschlag lautet: „Sie dürfen keine Hilfe zur Selbsttötung leisten“. Damit dieses Verbot des ärztlich assistierten Suizides gegenüber Ärztinnen und Ärzten rechtsverbindlich gilt, muss es in das jeweilige Satzungsrecht der Landesärztekammern übernommen werden. Von den 17 Kammern haben 10 dies getan.[11] Die unterschiedliche Umsetzung von §16 MBO-Ä hat nicht nur ein uneinheitliches Berufsrecht in Deutschland geschaffen, das zusätzlich Rechtsunsicherheit in Sachen Sterbehilfe bewirkt. Sie bezeugt auch einen veritablen Streit innerhalb der Ärzteschaft um Sinn und Unsinn des berufsrechtlichen Verbots.

Mit seiner Entscheidung zu § 217 StGB hat das BVerfG nun kritisch festgestellt, dass die berufsrechtliche Untersagung ärztlicher Suizidhilfe die reale Aussicht auf eine assistierte, der eigenen Selbstbestimmung entsprechende Selbsttötung weitgehend ausschließe.[12] Die berufsrechtlichen Verbote würden für regionale Zufälligkeiten beim Zugang zur Suizidassistenz sorgen und zudem handlungsleitende Wirkung für Ärzte entfalten; im Falle einer Suizidassistenz riskiere der Arzt berufsrechtliche Sanktionen.[13] Daher handelt es sich für das BVerfG bei den berufsrechtlichen Verboten um in seiner Gültigkeit ungeklärtes, weil verfassungswidriges Recht.[14]

Welche Gefahren gehen von der organisierten Sterbehilfe aus?

Solange diese Situation fortbesteht, müssen faktisch Sterbehilfevereine Kontakte zu jenen Ärzten und Pharmazeuten vermitteln, die trotz der bestehenden rechtlichen Risiken bereit sind, in der medizinisch und pharmakologisch notwendigen Weise an einer Selbsttötung mitzuwirken. Das ist ein unhaltbarer Zustand. Die Landesärztekammern sollten daher das Urteil vom Februar als verfassungsrechtliche Forderung begreifen, die Verbote zu beseitigen. Aber auch die Landesparlamente, bei denen die Regelungskompetenz für das Berufsrecht liegt, müssen nun reagieren: Laut § 31 Absatz 1 Bundesverfassungsgerichtsgesetz binden verfassungsgerichtliche Entscheidungen die Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle Gerichte und Behörden. Sowohl die Landesgesetzgeber als auch die Landesärztekammern sind deshalb gefordert, die berufsrechtlichen Verbote zu beseitigen.

Eines gilt es jedoch ebenfalls festzuhalten: Mit der Aufhebung von § 217 StGB hat das BVerfG es dem Gesetzgeber keineswegs verwehrt, ein Regelungskonzept zu verfolgen, das verhindert, dass der Suizid etwa zum Normalfall der Lebensbeendigung wird, und das die Gefahren einhegt, die von der organisierten Sterbehilfe ausgehen können. Insoweit braucht es dringend eine gesellschaftliche Diskussion darüber, welche Gefahr tatsächlich von dieser ausgeht. Dazu muss vor allem das Wirken der in Deutschland tätigen Sterbehilfevereine, „Sterbehilfe Deutschland“ und „Dignitas Deutschland“, analysiert und transparent gemacht werden. Nur wenn dies zum Ausgangspunkt gesetzgeberischer Überlegungen gemacht wird, kann ein Regelungskonzept entstehen, dass von den tatsächlichen Erfahrungen und nicht von willkürlich angenommenen Gefahren ausgeht. Die Verfassungsbeschwerden beider Vereine gegen § 217 StGB waren zwar erfolgreich; gleichwohl enthält das Urteil aber auch kritische Anmerkungen zu deren Tätigkeit, die es in einem neuen regulatorischen Konzept zu bedenken gilt.

Neue strafrechtliche Regelungen sind nicht ausgeschlossen

Darüber hinaus ergeben sich aus dem Urteil sowohl verfassungsrechtliche Regelungsgebote als auch -verbote, denen der Gesetzgeber bei einer Neuregelung nun folgen muss. Das Urteil stellt grundsätzlich fest, dass die Freiheit der Selbsttötung und der Suizidassistenz nicht zur Disposition des Gesetzgebers steht und gebietet diesem deshalb, dass jede Einschränkung der assistierten Selbsttötung auch faktisch hinreichend Raum für die Durchsetzung einer freien Entscheidung zur Selbsttötung mit Hilfe Dritter lassen muss.[15] Zu erlauben ist dabei nur jene Hilfe Dritter, die die Freiverantwortlichkeit einer Selbsttötung nicht gefährdet.

Ausdrücklich verfassungsrechtlich verboten wird dem Gesetzgeber, die Zulässigkeit einer Hilfe zur Selbsttötung materiellen Kriterien zu unterwerfen, sie also etwa vom Vorliegen einer unheilbaren Krankheit abhängig zu machen.[16] Das Urteil beschränkt staatliche Interventionen vielmehr auf den Schutz der Selbstbestimmung; diese kann durch medizinische und pharmakologische Qualitätssicherung und durch Missbrauchsschutz ergänzt und gesichert werden.[17] Das Urteil schließt dabei grundsätzlich neue strafrechtliche Regelungen nicht aus,[18] weshalb erneut eine Diskussion darüber aufkommen wird, welche Formen von Suizidassistenz man strafrechtlich verbieten sollte. Die Diskussion dazu läuft in den Parteien und den zivilgesellschaftlichen Organisationen bereits an und droht den Streit bereits wieder allzu emotional aufzuladen anstatt ihn zu rationalisieren. Deshalb ist es mehr als angezeigt, wenn sich jetzt wenigstens die in Karlsruhe unterlegene gesetzgeberische Mehrheit die erforderliche Zeit lässt, um ihre Niederlage zu verarbeiten.

Und eines sollte sie dabei stets bedenken: Schon das Kaiserreich ist ab 1871 ohne das strafrechtliches Verbot der Suizidassistenz ausgekommen, von der Bundesrepublik bis 2015 ganz zu schweigen; das hat unsere lebensbejahende Kultur offensichtlich nicht untergraben, sondern im Gegenteil mitgeprägt.

 

[1] Gesetz zur Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung, BGBl I S. 2177.

[2] Vgl. zum damaligen Streit im Gesetzgebungsprozess Rosemarie Will, Selbstbestimmt am Lebensende. Für ein aufgeklärtes Konzept der Sterbehilfe, in: „Blätter“, 2/2020, S. 105-112.

[3] Von der anderen Seite wird dem Gesetzgeber vorgehalten, dieser hätte wissen müssen, dass seine Regelungen Verfassungsnormen verletzen und dass er dies bewusst, unter Missachtung der Verfassung, in Kauf genommen habe.

[4] Gemeinsame Erklärung der Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz und der Evangelischen Kirche in Deutschland zum Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung, www.ekd.de, 26.2.2020.

[5] BVerfG, Urt. v. 26.2.2020, Az. 2 BvR 2347/15; 2 BvR 651/16; 2 BvR 1261/16, Rn 210.

[6] Ebd., Rn. 208.

[7]  Vgl. EGMR, Pretty v. The United Kindom, Urteil vom 29. April 2002, Nr. 2346/02, § 61, und Haas v. Switzerland, Urteil vom 20. Januar 2011, Nr. 31322/07, § 51.

[8] Vgl. das Interview von Matthias Drobinski mit Peter Dabrock, in: „Süddeutsche Zeitung“, 28.2.2020.

[9] BVerfG, Urt. v. 26.2.2020, a.a.O., Rn. 211.

[10] Ebd., Rn. 277.

[11] Dagegen sind Baden-Württemberg, Bayern, Rheinland-Pfalz, Sachsen-Anhalt und Schleswig-Holstein der Empfehlung der Bundesärztekammer für ein berufsrechtliches Verbot nicht gefolgt. Die Berufsordnungen in Westfalen-Lippe und Berlin haben zwar kein Verbot geregelt, aber sie empfehlen: Ärztinnen und Ärzte „sollen keine Hilfe zur Selbsttötung leisten“.

[12] BVerfG, Urt. v. 26.2.2020, a.a.O., Rn. 294.

[13] Ebd., Rn. 295 ff.

[14] Ebd., Rn. 296.

[15] Ebd., Rn. 341.

[16] Ebd., Rn. 210, 341.

[17] Ebd., Rn. 338.

[18] Ebd., Rn. 268.

Aktuelle Ausgabe Oktober 2025

In der Oktober-Ausgabe wertet Seyla Benhabib das ungehemmte Agieren der israelischen Regierung in Gaza als Ausdruck einer neuen Ära der Straflosigkeit. Eva Illouz ergründet, warum ein Teil der progressiven Linken auf das Hamas-Massaker mit Gleichgültigkeit reagiert hat. Wolfgang Kraushaar analysiert, wie sich Gaza in eine derart mörderische Sackgasse verwandeln konnte und die Israelsolidarität hierzulande vielerorts ihren Kompass verloren hat. Anna Jikhareva erklärt, warum die Mehrheit der Ukrainer trotz dreieinhalb Jahren Vollinvasion nicht zur Kapitulation bereit ist. Jan Eijking fordert im 80. Jubiläumsjahr der Vereinten Nationen mutige Reformen zu deren Stärkung – gegen den drohenden Bedeutungsverlust. Bernd Greiner spürt den Ursprüngen des Trumpismus nach und warnt vor dessen Fortbestehen, auch ohne Trump. Andreas Fisahn sieht in den USA einen „Vampirkapitalismus“ heraufziehen. Und Johannes Geck zeigt, wie rechte und islamistische Rapper Menschenverachtung konsumierbar machen.

Zur Ausgabe Probeabo

Weitere Artikel zum Thema

Frieden durch Recht

von Cinzia Sciuto

Am Anfang stand der 11. September 2001. Danach wurde die Lawine losgetreten: Ein langsamer, aber unaufhaltsamer Erdrutsch erfasste die internationale rechtliche und politische Ordnung. Ein Erdrutsch, der nach und nach die supranationalen Institutionen und die stets fragile, aber nie völlig illusorische Utopie einer friedlichen und auf dem Recht basierenden Weltordnung tief erschüttert hat