Ausgabe November 2020

Die Wahl als Farce: Donald Trump und der Aufstieg der Autokraten

19. Oktober 2020, Tucson, Arizona, USA: Präsident Donald Trump hält zwei Wochen vor der Wahl 2020 eine Wahlkampfkundgebung auf dem Flughafen von Tucson ab.

Bild: imago images / ZUMA Wire

Die wiederholte Ankündigung von US-Präsident Donald Trump, das Wahlergebnis vom 3. November 2020 nur anzuerkennen, wenn es seine Wiederwahl bestätigt, ist der bis heute weitreichendste Verstoß in einer klassischen Demokratie des Westens gegen die Idee der allgemeinen, gleichen, freien und fairen Wahl – und damit auf die fundamentale Legitimationsbeziehung zwischen Regierenden und Regierten. Trump verfolgt offenbar den Plan, über die (Brief-)Wahl die gesamte Wahl zu delegitimieren und sich mit Hilfe einer Entscheidung des Obersten Verfassungsgerichts im Amt bestätigen zu lassen, ungeachtet einer Niederlage an den Wahlurnen. Das aber wäre die politische Kernschmelze der US-Demokratie.

Den Vereinigten Staaten steht damit eine ausgesprochen kritische Übergangsperiode bis zur Amtseinführung des nächsten Präsidenten bevor, an deren Ende die Restitution Donald Trumps stehen könnte – trotz einer fehlenden Mehrheit, dieses Mal sogar, anders als noch 2016, auch im Wahlmännerkollegium. Trump könnte die Ergebnisse der Briefwahl, deren Einbeziehung sich über zwei Wochen hinziehen kann, als „Betrug“ qualifizieren – vor allem, wenn er in der Wahlnacht noch die Nase vorn hätte oder es nach einem knappen Rennen zwischen ihm und Joe Biden in den entscheidenden Swing States aussieht.

Die rasche Besetzung des Obersten Gerichtshofes durch seine ultrakonservative Kandidatin deutet darauf hin, dass Trump am Ende auf eine Gerichtsentscheidung hinarbeitet, die wie bei der Wahlauseinandersetzung zwischen George W. Bush und Al Gore im Jahr 2000, als die Ergebnisse in Florida vor Gericht verhandelt wurden, den Gewinner der Wahl zum Verlierer machen könnten. Und während das demokratische Lager noch befürchtet, dass Trumps Amtszeit nicht bereits Anfang 2021, sondern erst am 20. Januar 2025 endet, überlegt dieser bereits ganz offen bei Wahlkampfauftritten zum Beispiel in Nevada, ob er nicht sogar eine (in der Verfassung ausgeschlossene) dritte Amtszeit anstreben oder gleich eine Trump-Dynastie begründen soll, was er auf dem Nominierungsparteitag bereits inszenatorisch andeutete.

Die Nichtanerkennung des Wahlausgangs hätte allerdings weit über die USA hinausreichende Wirkungen. Demokratien zeichnen sich gerade dadurch aus, dass der Machtwechsel durch die unbeeinträchtigte Entscheidung der Mehrheit der Wählerinnen und Wähler zustande kommt und friedlich abläuft. Die Nachhaltigkeit von Demokratisierungsprozessen wird nach global anerkannten Maßstäben daran gemessen, ob wenigstens zwei friedliche Machtübergaben ohne Manipulation des Zustandekommens und der Auszählung der Wahlergebnisse stattgefunden haben. Die unterlegene Minderheit und die parlamentarische Opposition müssen davon ausgehen können, bei der nächsten turnusmäßigen Wahl gewinnen und eine Regierung bilden zu können.

Ist dies, was sich in den USA gerade abzeichnet, nicht der Fall, wird die Legitimität von Demokratien insgesamt in Frage gestellt – zur Freude der Autokraten. Dann nämlich stellt sich explizit die Grundsatzfrage: Warum überhaupt noch wählen?

Wählen als Farce

In weiten Teilen der Welt stellt sich diese Frage schon lange. So etwa in Russland, wo die Fälschung und Manipulation von Wahlen der Normalzustand sind. Vor den jüngsten Kommunalwahlen legte das Putin-Regime jedoch eine seltsame Nervosität an den Tag, als nämlich der Oppositionelle Alexej Nawalny seine Strategie des „klugen Wählens“ inszenierte: Gewählt werden sollte der gegen die Putin-Partei „Einiges Russland“ jeweils aussichtsreichste Kandidat, um auf diese Weise zu demonstrieren, dass es überhaupt eine Wahl geben sollte.

Warum aber reagierte der Kreml so dünnhäutig, möglicherweise sogar bis zum politischen Mordversuch, wenn er doch jede Möglichkeit besitzt, Kandidaten und Kandidatinnen der Opposition von vornherein auszuschließen, unerfreuliche Wahlergebnisse zu fälschen und Regimekritiker zu „neutralisieren“? Man hat es hier offenbar mit einem Paradox zu tun: dass autokratische Regime, die Wahlergebnisse missachten, gleichwohl den urdemokratischen Wahlakt zulassen – weil sie es müssen. Selbst die KPdSU und die NSDAP hielten Scheinwahlen ab, um ihre terroristische Politik mit 99-Prozent-Ergebnissen absegnen zu lassen. Das heißt: Personales Charisma oder totalitäre Kontrolle verschaffen anscheinend nicht ausreichend Legitimität, der rational-legale Schein musste den Kontrakt mit dem Volk simulieren – und auf diese Weise die Gefahr eingehen, dass das Volk die nur zum Schein eingeführte Demokratie für bare Münze nimmt.

Den Fluch der vermeintlich guten Tat, (Schein-)Wahlen abzuhalten, haben Autokraten immer wieder kennengelernt: Die gefälschte Volkskammerwahl von 1989 war ein Nagel in den Sarg des SED-Regimes, die letzte (und wie üblich) manipulierte Präsidentschaftswahl in Algerien 2019, die Abd Al-aziz Bouteflika eine vierte Amtsperiode bescheren sollte, löste Dauerproteste im ganzen Land aus, die einzig die Pandemie erlahmen ließ. Und zuletzt mussten Lukaschenko in Belarus und Scheenbekow in Kirgistan erfahren, dass eine dreiste Wahlfälschung den Aufstand provoziert.

Es ist nicht erstaunlich, dass man Demokratie stets mit den Grundmechanismus der Wahl und Abstimmung assoziiert, mit dem Anker des Mehrheitsprinzips: Kämpfe um das Recht zu wählen waren und sind ein starker, ja vielleicht sogar der historisch stärkste Motor demokratischer Bewegungen. Als dieses Recht erkämpft war, wurde es, politisch-kulturell durchaus vielgestaltig, in den Verfassungen liberaler Demokratien fest verankert. Damit wurde der Zensus, der bis ins 19. und 20. Jahrhundert nur gebildete und wohlhabende Männer zur Wahl berechtigte, obsolet; Frauen, junge Erwachsene und in einem bestimmten Umfang auch Nicht-Staatsbürger (denizens) wurden Zug um Zug inkludiert.

Kurzum: Nach dem Sturz von Diktaturen war es stets das primäre Ziel, freie, allgemeine, gleiche, geheime und faire Wahlen abzuhalten. Man hat die langen Schlangen von Wahlberechtigten vor Augen, die sich bei allen Wahl-Premieren rund um den Erdball vor den Wahllokalen bilden. Zu erinnern ist etwa an die ersten Kommunal- und Landtagswahlen nach dem Ende der NS-Herrschaft und die erste freie Volkskammerwahl der DDR 1990. In solchen Momenten kommt das ganze Pathos freier Wahlen zum Ausdruck, das betagteren Demokratien mit regelmäßigen und routinierten Machtwechseln abhandengekommen ist.

Die Freiheit und Regelgerechtigkeit von Wahlen ist jedoch, wie wir gegenwärtig in den USA erleben, ein höchst voraussetzungsvoller Prozess. Sie wird immer dann problematisch, wenn Einschränkungen des freien Wettbewerbs um Mandate und Mehrheiten erfolgen. Russland ist auch dafür das beste Beispiel. Dort hatte es ab 1991 unter dem Druck westlicher Denkfabriken oberste Priorität, Parteien bei Wahlen antreten zu lassen und stabile Regierungsmehrheiten zu bilden. Doch die Voraussetzungen der Transition, nämlich Rechtsstaatsgarantien und eine gut funktionierende Öffentlichkeit, waren kaum vorhanden; Manipulationen durch den alten Machtapparat und ein Rückfall in autokratische Strukturen waren die Folge.

Tyrannei der Mehrheit

Wahlen in dieser rohen Form werden leicht zur „Tyrannei der Mehrheit“: Sie mögen allgemein, frei und gleich sein, sind aber nicht transparent und fair. Die reguläre Aufstellung von Kandidaten, innerparteiliche Demokratie und neutrale Wahlbeobachtung gehören ebenso zum Wahlakt wie die ungehinderte Durchführung von Wahlkämpfen und unabhängige Medien. Und eine Wahl, deren Ziel oder Ergebnis die Drangsalierung und Unterdrückung der unterlegenen Minderheit und damit letztlich die Abschaffung der Demokratie ist, ist schon a priori keine demokratische.

Denn wo sich autoritäre Führungen unsicher werden wie in Hongkong, verschieben sie Wahlen und nehmen dafür auch allzu gerne die Corona-Pandemie zum Vorwand. Und ob es noch wirklich freie Wahlen in Ungarn gibt, darf man bezweifeln, da die Opposition mit allen legalen und außerlegalen Mitteln zum Schweigen gebracht wird; weder gibt es „Waffengleichheit“ in Wahlkämpfen, noch sind gesellschaftliche Gruppen und Interessen angemessen repräsentiert. Ungeachtet dessen – oder genauer: gerade deswegen – schaut die radikale Rechte in ganz Europa mit kaum verhohlener Bewunderung auf Viktor Orbán, plädiert sie für Plebiszite und direkte Volksabstimmungen, deren Ergebnisse Machthaber und Wirtschaftspotentaten nach Belieben manipulieren können.

Wenn nun aber auch in der klassischen Demokratie des Westens, den USA, das Wahlrecht nicht nur durch alle möglichen Einschränkungen verzerrt und beschädigt, sondern an der Wurzel angegriffen wird, hätte dies eine noch weit verheerendere Wirkung, würde es doch die Legitimität von Wahlen insgesamt in Frage stellen.

Dabei sind die Defekte des US-amerikanischen Wahlsystems seit Langem bekannt, beginnend mit dem anachronistischen Wahlmännerkolleg, das einen um Millionen Stimmen unterlegenen Bewerber wie Donald Trump ins Weiße Haus gebracht hat, kombiniert mit der unseligen Praxis der manipulativen Wahlkreisgeometrie (Gerrymandering) und dem wiederholten gezielten Ausschluss von ethnischen Minderheiten vom Wahlakt. Doch Trumps Ankündigungen, den Ausgang der Wahl nicht anzuerkennen, gehen über diese notorischen Defekte weit hinaus – und lassen den 3. November 2020 als ein zutiefst bedrohliches, nicht nur die US-Demokratie im Kern gefährdendes Szenario erscheinen. Letztlich geht es um den globalen Fortbestand der Demokratie als solcher, nämlich um die Frage, ob sich die Grundidee des Westens, das Recht auf die autonome Entscheidung in freien und geheimen Wahlen, gegen den scheinbar unaufhaltsamen Aufstieg der Autokraten wird behaupten können.

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